Taterndorf

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„Es täte ihr sicher gut, wieder eine Aufgabe zu haben. Seit dem Tod meines Bruders lässt sie sich ein wenig gehen. Ich rede mit ihr.“

Während Wilhelm dem Mann mit einer Lampe half, den Weg auf die dunkle Dorfstraße zu finden, griff Magdalena nach einem Wischlappen.

„Von ihm werden wir keine Hilfe erwarten können“, kommentierte Wilhelm. Er öffnete die Ofentür und legte ein dickes Buchenscheit ins Feuer. Sofort züngelten kleine blaue Flammen danach.

„Wenigstens war er ehrlich und wir wissen, woran wir sind“, antwortete Magdalena unter dem Tisch hervor, wo sie die Fußspuren des Schulzen aufwischte. „Wir brauchen unbedingt einen Abtreter vor der Tür.“

Auszug aus einem Briefe, vom 14ten November 1830, den Blankenburgs Frau an ihre Geschwister in Nürnberg schrieb:

„… Die Gegend um Friedrichslohra ist sehr schön, und es werden Getreide, Kartoffeln und Gemüse aller Art angebaut. Kleine Häuschen, ganz im Grünen liegend, bilden das Dorf. Auf einem hohen Berge, der das Amt Lohra genannt und vom Amtmann Smalian bewohnt wird, ist eine kleine protestantische Kirche. Die Aussicht von der Höhe herab gewährt für Auge und Herz einen tiefen Eindruck von der Größe des allmächtigen Schöpfers. Man übersieht das ganze Harz- und Eichsfeldische Gebirge.

Die Neudörfer sind größtenteils Leute, die des Diebstahls oder anderer Verbrechen wegen des Landes verwiesen wurden, und die Friedrich der Große in dieses Dorf aufnehmen ließ, und da ist es wohl nicht befremdend, dass Freikauferei auf Märkten und Messen, Betrug und List unter ihnen herrscht. Unter diesen Leuten wohnen unsere armen Zigeuner, und werden oft recht übel von denselben behandelt, was uns recht betrübt. In kleinen Stuben wohnen meist zwei bis drei Zigeunerfamilien beisammen, und müssen doch viel Miete zahlen. Kommt man des Abends zu ihnen, so sitzen oder liegen sie auf der schwarzen, schmutzigen Erde umher, welche zugleich als Tisch, Stuhl und Bette dienen muss, und sind voller Schmutz und Läuse. Des Nachts liegen sie alle nackt auf dem Boden umher, und benutzen ihre wenigen Lappen als Decken. Ach, die Armut ist unbeschreiblich! Und wird durch ihr leidenschaftliches Branntweintrinken, durch Tabak rauchen und kauen, und durch große Nachlässigkeit und Faulheit noch vermehrt …“

Am nächsten Morgen brach Wilhelm im Dunkeln nach Nordhausen auf, um mit dem Landrat über Spendenaufrufe und Arbeitsbeschaffung für die Zigeuner zu reden. Magdalena räumte das Geschirr vom Tisch, stopfte die Kochwäsche zum Einweichen in eine hölzerne Wanne und machte sich schließlich auf, die Schwägerin des Dorfschulzen zu besuchen. Sie ging die Dorfstraße hinab, auf der sie vor drei Wochen in Friedrichslohra angekommen waren. Ein kalter Wind wehte ihr entgegen und trieb den letzten Frühnebel vor sich her. Sie wickelte ihr Kopftuch fester um den Hals. Die Hausnummern zählten rückwärts, rechts die geraden und links die ungeraden Zahlen. Das Haus mit der Nummer eins bildete den Abschluss an einem kleinen, nach Jauche stinkenden Bach. Der von Fuhrwerken zerfahrene Weg überquerte ihn mithilfe einer Kalksteinbrücke und führte aus dem Dorf hinaus, leicht bergab zu der Wegkreuzung, wo sie am Tag ihrer Ankunft den Zigeunerwagen verlassen hatten. Sie schritt über die Brücke und wandte sich nach links, wo eine weitere Straße in einem schmalen Tal aufwärts führte.

Auf deren rechten Seite standen kleine Fachwerkhäuser, die sich ähnelten, als seien sie alle von derselben Hand erschaffen worden. Doch die Grundstücke waren großzügiger angelegt, die Häuser klebten nicht aneinander wie reife Erbsen in der Schote, sondern sie hockten, jedes für sich, inmitten von Gemüsegärten, Beeten mit letzten Herbstblumen und Holunderbüschen voller fetter schwarzer Beeren, um die sich die Spatzen lautstark stritten. Hier war der preußische König wohl spendabler bei der Vergabe von Grund und Boden gewesen. Gegenüber der Häuser, auf der linken Straßenseite, zogen sich schmale Äcker wie Handtücher bis zum Bach hinunter.

„No. 17“ Eine mit schwarzer Farbe ins helle Fachwerk gepinselte Zahl ließ sie innehalten. Hier sollte Käthchen wohnen. Dem Haus war anzusehen, dass ein Mann fehlte. Ein Dachziegel hatte sich gelöst und drohte herabzurutschen. Die Kletterrose hangelte sich ungezügelt unter dem Dachkasten entlang und der Gemüsegarten war nicht umgegraben worden. Das kleine Gartentor hing nur in einer Angel; Magdalena musste es anheben, um es zu öffnen. Sie klopfte an der verwitterten Haustür. Es blieb still im Haus. Als sie versuchte, durch ein schmales Fenster nach drinnen zu blicken, drang eine energische Stimme über ein paar Stachelbeerbüsche, die wohl die Grenze zum Nachbargrundstück bildeten.

„Wollen Sie zu mir?“

Magdalena reckte den Hals, konnte jedoch niemanden sehen. „Ich suche die Witwe Henkel.“

„Ja, dann kommen Sie mal rüber, Kindchen!“

Vor dem Nachbarhaus stand eine kleine, dralle Frau, die eine schmuddelige Schürze über ihr dunkles Kleid gebunden hatte. Das weiße Haar trug sie streng zurückgekämmt, im Nacken saß ein Haarknoten wie eine reife Zwiebel.

„Man hat mir gesagt, Sie wohnen in Nummer 17. Ich bin Magdalena Blankenburg.“ Sie streckte der Frau die Hand entgegen. Dabei musste sie sich beinahe bücken.

„Das stimmt. Ich helfe nur meiner Nachbarin. Riekchen hat sich den Fuß gebrochen. Ich füttere ihre Hühner und tröste sie ein wenig.“ Sie hob den Kopf und ihre lebhaften braunen Augen musterten Magdalena genau. Ihr Gesicht war faltig und sie mochte wohl die Sechzig überschritten haben, doch sie wirkte voller Energie. „Sie sind also die Missionarsfrau, für die ich kochen soll?“

Magdalena zog die Augenbrauen nach oben. „Sie wissen bereits Bescheid?“

„Kindchen, das hier ist ein Dorf. Außerdem kenne ich den Dorfschulzen gut.“ Sie zwinkerte ihr zu. Dann steckte sie den Kopf durch die Tür hinter ihr. „Riekchen, ich komme gegen Mittag und bringe dir dein Essen.“ Sie griff sich ein wollenes Tuch, das über der Türklinke gehangen hatte, und wickelte es sich um Kopf und Schultern. „Kommen Sie, zeigen Sie mir Ihr Haus und Ihre Küche. Nebenbei können wir reden.“

„Sie würden uns also helfen?“

„Aber ja. Ich kann nicht gut Nein sagen. Und wenn mein Schwager meint, ich soll die Finger davon lassen, dann ist das für mich umso mehr Ansporn.“

„Er hat Ihnen abgeraten?“

Die Frau kicherte. „Bestimmt hat er Ihnen etwas völlig anderes erzählt, nicht? Er ist nicht umsonst Schulze geworden. Er lügt so schnell, dass die Balken das Verbiegen nicht schaffen.“

„Wann hat er denn mit Ihnen gesprochen?“

Käthchens kurze Beine eilten über die Brücke und Magdalena musste sich beeilen, um nicht zurückzubleiben. „Gestern Abend. Es war schon dunkel. Er sagte, Sie würden mich als Haushaltshilfe benötigen, aber ich solle die Stelle auf keinen Fall annehmen, da ich gewiss für das ‚Taternpack‘ kochen müsste.“

„Mein Mann hatte das extra nicht so deutlich ausgedrückt.“

Die Frau blieb stehen. „Mein Schwager ist nicht dumm. Er durchschaut die Menschen schnell. Sie sollten sich vor ihm in Acht nehmen.“

Magdalena schnaufte atemlos, als sie vor ihrem Haus angekommen waren. „Diese Straße ist so steil. Wie schaffen Sie das nur, so schnell zu laufen und nebenbei zu reden?“

Käthchen lachte lauthals. „Steil? Kindchen, dies hier ist eine der bequemeren Straßen im Dorf. Sie sollten meinen Schwager mal besuchen, die 22 Häuser hinauf zum Teich. Und waren Sie schon auf dem Schloss Lohra?“ Sie deutete mit dem Finger in Richtung des Waldes, der sich hinter dem Haus auf dem Bergrücken entlang zog. „Nein? Die Evangelischen gehen sonntags zum Gottesdienst auf den Schlossberg hinauf. Danach reden wir noch mal über steile Wege.“ Sie prustete leise vor sich hin.

„Sie gehen zum Gottesdienst auf den Berg?“ Heute kam sie aus dem Staunen nicht heraus. „Es gibt doch in Wenden die protestantische Kirche.“

„Pah, die hochnäsigen Bauern wollen uns arme Wollspinner dort nicht sehen. Nein, wir sind schon als Kinder auf das Amt geklettert, jeden Sonntag, bei Wind und Wetter. Es gibt dort eine kleine Kapelle, sie stammt aus den Zeiten, als es da oben noch Ritter und Edelfräulein gab. Und wenn Sie nach dem Abstieg wieder nach Hause kommen, schmeckt der Sonntagsbraten umso besser.“ Sie wies auf die Haustür. „Wollen wir nun hineingehen?“

In der Kammer hinter dem Hausflur drehte sich Käthchen mehrmals um sich selbst und schüttelte den Kopf. „Hier müssen wir viel ändern. Für wie viel Leute soll ich denn kochen?“

Magdalena schämte sich für die Armseligkeit des Raumes, der den Namen Küche sicher nicht verdient hatte. „Ich weiß nicht“, antwortete sie leise. „Erst mal für die Kinder, die hier zum Unterricht kommen. Ich habe keine Vorstellung davon, wie viele das sein werden.“

„Wenn sich herumspricht, dass es zu Essen gibt, dann werden es sehr bald zwei Dutzend Kinder sein.“ Käthchen begutachtete die Töpfe, die der Krämer hatte liefern lassen. „Immerhin, die sind nicht schlecht. Vielleicht ein bisschen klein. Mal sehen. Haben Sie eine Fußbank?“

Magdalena holte die Holzbank aus der Stube, auf der sie abends beim Nähen die Füße abstellte.

Käthchen rückte sie vor den Herd und kletterte hinauf. „So ist es besser.“ Sie strich über die Herdplatte, die Magdalena zu ihrer eigenen Erleichterung blitzblank geschrubbt hatte. „Hier oben lassen wir ein paar Regale anbringen. Da kommen die Töpfe drauf. Die stehen sonst im Wege rum. Drunter hängen wir Schöpfkellen und Rührbesen auf.“ Sie drehte sich um. „Schwarzburger hat Ihre Möbel angefertigt, nicht wahr?“

„Ja.“ In diesem Dorf blieb wirklich nichts verborgen.

„Der wird das Regal bauen. Schicken Sie einen Boten zu ihm. Was soll ich heute kochen?“

 

„Heute schon?“

„Worauf sollen wir warten? Die Kinder kommen sowieso zu mir, um zu betteln. Wir dürfen nur das Riekchen nicht vergessen.“ Käthchen rückte die Töpfe hin und her.

„Aber ich habe keine Zutaten. Mein Mann ist nach Nordhausen gegangen, der Landrat wird ihm erst sagen, wie viel wir ausgeben dürfen.“

Käthchen sah sie nachdenklich an. „Mein Schwager ist ebenfalls zum Landrat bestellt. Er war deswegen nicht begeistert.“

„Davon hat er gestern nichts gesagt.“

„Er lässt sich nicht gern in die Karten sehen. Er will in seinen zwei Jahren so viel wie möglich zu seinen Gunsten ändern.“

„Zwei Jahre?“

„Eins davon ist schon um. Das hat er Ihnen nicht erzählt, was?“ Käthchen grinste abfällig. „Alle zwei Jahre wechseln die Schulzen, mal ein Evangelischer, mal ein Katholischer. Das hat der Alte Fritz bei der Stiftung des Dorfes so festgelegt. Ab nächstes Jahr werden wir wieder von den Katholiken regiert.“

Käthchen wischte mechanisch über den Küchentisch und wandte sich zum Gehen. „Also, eine Suppe geht immer. Kartoffeln haben Sie, wie ich sehe. Ich habe ein paar Stücke Ziegenkalunnen, die werfen wir rein. Sellerie, Kohlrabi, Maggikraut. Ich bin bald wieder da. Bringen Sie schon mal das Feuer in Gang. Und schicken Sie jemanden zu Schwarzburger.“

Magdalena fühlte sich ein wenig überrollt, aber glücklich. Endlich kamen die Dinge ins Laufen. „Frau Henkel?“, rief sie ihr hinterher, als sie schon fast zur Tür hinaus war.

Die kleine Frau drehte sich um. „Also Kindchen, das hört sich schrecklich an. Alle sagen Käthchen zu mir.“

„Gut, ich heiße Magdalena. Oder Lenchen.“

„Was wolltest du sagen, Lenchen?“

„Danke für alles!“

Die Tür fiel ins Schloss, um gleich darauf wieder aufgerissen zu werden.

Sie fuhr herum. Vor ihr stand der Zigeunerjunge. „Christian, du sollst doch klopfen, bevor du hereinkommst!“

„Hab ich vergessen. Käthchen sagt, hier gibt es heute Essen?“ Seine Augen leuchteten bereits.

„Ja, aber nur für Kinder. Sag das bitte allen.“ Als sein Blick sich trübte, ergänzte sie rasch: „Du kannst dich ausnahmsweise zu den Kindern zählen. Doch jetzt sollst du für mich zum Tischler nach Wenden laufen. Bitte ihn, wegen eines Regales zu kommen, er soll Maß nehmen. Dann gehst du zu dem Bauern, der die schwarz-weißen Kühe hat. Bringe bitte eine große Kanne gute Milch. Sag, es ist für den Herrn Blankenburg.“

Christian druckste. „Du musst mir Geld mitgeben, Frau Blankenburg. Einem romnitschel geben sie sonst nichts.“

Sie musste mit den Bauern reden. Wenn sie Christian als ihren Laufburschen akzeptierten, würden sie sicher anschreiben. Sie kramte in ihrer Börse und gab ihm ihre letzten Pfennige. „Hier, das sollte reichen.“ Hoffentlich brachte Wilhelm Geld mit aus Nordhausen.

Sie holte Brennholz und fachte das Feuer im Herd an. Dann schleppte sie Wasser aus dem Angerbrunnen heran, setzte den größten Topf auf die Herdplatte und legte die weiße Linnenwäsche hinein. Bevor Käthchen ihre Küche in Beschlag nahm, musste sie ihre Wäsche schaffen. Ein viertel Stück Kernseife dazu, sie hatte sie letzte Woche vom Krämer geholt. Während das Wasser sich erwärmte, setzte sie sich an den Stubentisch, wo der Brief an ihre Eltern lag. Sie wussten bisher nur, dass sie angekommen waren, das hatte sie gleich in den ersten Tagen kurz auf einer Postkarte berichtet. Doch die Mutter würde sich sorgen, ob es ihrer Tochter wirklich gut ging.

Ach Maman, dachte Magdalena und lächelte wehmütig, wenn du wüsstest, dass ich Wasser schleppe und sogar die Wäsche selbst erledige. Das durfte sie der Mutter nicht schreiben, sie würde sich nur unnütz aufregen. Ihr Blick flog über die zierlichen schwarzen Buchstaben, die bereits eine Seite bedeckten. Dann griff sie zur Feder, um den Brief zu beenden.

„… Es sind wohl an die achtzig Zigeuner, die wir zu betreuen haben, das Herz schmerzt einem, sie so zu sehen. Ich bin froh, dass ihnen endlich geholfen wird, vor allem noch vor dem Winter. Sie sind allesamt katholisch getauft, doch ihrer Kirche scheint ihr Schicksal vollkommen egal zu sein. Jedenfalls erhalten sie von der hiesigen Gemeinde keinerlei Unterstützung. Heute wollen wir zum ersten Mal für die Kinder kochen, ich habe eine fleißige Küchenmamsell gefunden. Noch fehlt es an allem, wir wären euch sehr dankbar, wenn ihr Spenden auftreiben könntet. Warme Kinderkleidung, Schuhe und Decken sind natürlich besonders vonnöten, aber auch Geld können wir gut gebrauchen. Mein lieber Wilhelm ist gerade …“

Aus der Küche drang ein alarmierendes Geräusch, sie ließ die Feder fallen und rannte hinaus. Der Deckel tanzte auf dem Topf, das schäumende Wasser kochte über und große Wasserperlen ruckelten zischend über die Herdplatte. „Himmeldonnerwetter!“, fluchte Magdalena und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Wo waren die Topflappen? Sie griff nach einem Handtuch und zerrte den Deckel vom Topf. Weißer, feuchter Dampf füllte im Nu den kleinen Raum und der Seifengeruch nahm ihr den Atem. Sie tastete nach dem Wäschekorb, trat einen Schritt nach vorn und stolperte über die Fußbank, die Käthchen hatte stehen lassen. Der Schmerz fuhr durch ihr Schienbein bis hinauf in den Magen, instinktiv suchte sie Halt, um nicht zu fallen. Sie griff nach dem eisernen Umlauf, der den Herd umgab, fasste jedoch daneben und erwischte die heiße Platte. Unsanft fiel sie in den leeren Wäschekorb, wo sie nach Luft schnappend liegenblieb. Das Brennen in ihrer rechten Handfläche trieb ihr die Tränen in die Augen. Besorgt lauschte sie in ihren Körper hinein, doch sonst schien alles in Ordnung. Sie strich mit der linken Hand über ihren Bauch. „Tut mir leid, mein Kleines, ich muss vorsichtiger sein.“ Langsam rappelte sie sich auf. Der Wassereimer war leer. Sie brauchte dringend etwas zum Kühlen. Das Gras auf dem Hof war nass, das würde zunächst reichen.

Als Käthchen zurückkam, hockte Magdalena hinter dem Haus und strich mit der Hand durch das feuchte Gras. „Lenchen, ist alles in Ordnung mit dir?“, rief die kleine Frau, die das Durcheinander in der Küche bereits gesehen hatte.

„Ich habe mir die Hand verbrannt.“

Käthchen kam auf den Hof, eine Schüssel mit Innereien knallte neben Magdalena ins Gras. „Wie ist das passiert? Zeig mal her!“

Doch Magdalena hatte nur Augen für das blutige Geschlinge und Gekröse neben sich, das den strengen Geruch nach toter Ziege verbreitete. Während Käthchen die Blasen auf der Handfläche musterte, übergab sie sich würgend direkt neben der Schüssel.

„Lenchen, du legst dich jetzt hin. Ich kümmere mich um alles andere.“ Käthchen zog sie nach drinnen, half ihr aus dem Überkleid und brachte sie ins Bett.

„Aber das Essen für die Kinder?“, wagte sie einen schwachen Einwand.

„Denkst du, das kann ich nicht allein? Hab schon öfter ein paar Kellen mehr gekocht. Ich bring dir eine Schüssel kaltes Wasser, da kannst du die Hand hineinhalten.“

„Ich habe Christian nach Milch geschickt. Die sollen die Kinder trinken. Wir müssen sie jedoch verdünnen, sonst reicht sie nicht.“

„Mach ich alles. Der Christian kann mir helfen. Ist schließlich für seine Sippe.“

„Er ist ein ordentlicher Junge.“

„Ach weißt du, wenn du die schwarzen Vögel einzeln nimmst, sind sie alle in Ordnung.“ Käthchen zwinkerte ihr zu und verschwand. Bald darauf hörte Magdalena Klappern aus der Küche und sie schloss beruhigt die Augen.

Dann fiel ihr der Brief ein. Wie sollte sie den mit der verletzten Hand beenden? Maman würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte, wenn ihre Schrift plötzlich krakelte. Vielleicht könnte Wilhelm den Brief offiziell zu Ende schreiben?

„Verehrte Schwiegermutter, verehrter Schwiegerpapa, ich sende Euch meine herzlichen Grüße aus dem fernen Neuen Dorf. Viel Gutes kann ich leider nicht berichten. Es gibt kein Geld vom Landrat für unsere Mission, die protestantische Kirche sieht sich ebenfalls nicht in der Lage, uns zu helfen. Magdalena stellt sich im Haushalt ungeschickt an, erst heute hat sie sich die Hand verbrannt, bei dem Versuch Wäsche zu kochen. Wenn Ihr uns besuchen kommt, bringt bitte Lebensmittel mit, damit wir für Euch kochen können …“

Magdalena schreckte hoch. Ein bitterer Nachgeschmack drückte ihr das Herz ab, selbst dann noch, als sie begriff, dass sie nur geträumt hatte. Draußen hörte sie Geschirr klappern. Sie richtete sich auf, sofort begann ihre Hand wieder zu schmerzen. Zum ersten Mal konnte sie die Verletzung genauer betrachten. Sie zählte drei große und vier kleine Blasen, die prall mit gelber Flüssigkeit gefüllt waren. Sie würde sie aufstechen müssen, damit der Druck nachließ. Sie stand auf und griff nach ihrem Kleid. An ihrem Schienbein prangte ein dunkler Bluterguss, doch der war nebensächlich.

Als sie aus der Kammer trat, sah sie Christian in ihrer Stube Teller und Löffel zurechtlegen. Er hob den Kopf. „Das Essen ist gleich fertig. Käthchen sagt, auf einem Stuhl müssen zwei Kinder sitzen und sie sollen sich einen Teller teilen und in zwei Gruppen kommen, erst die Kleinen, dann die Größeren.“

„Das hört sich vernünftig an. Danke, dass du uns Käthchen empfohlen hast, sie ist wirklich eine Perle.“

Christian strahlte. Dann wurde sein Blick besorgt. „Was ist mit der Hand?“

„Ach, das wird schon wieder. Ich habe mich an der Herdplatte verbrannt.“ Sie half ihm, die Teller zu verteilen. In der Mitte des Tisches lag noch immer ihr Brief. Dort, wo die Feder hingefallen war, hatte sich ein daumennagelgroßer Klecks breitgemacht. Dem musste Wilhelm nachher mit dem Rasiermesser zu Leibe rücken. Sie schraubte das Tintenfass zu und räumte das Schreibzeug beiseite.

„Das sieht sehr schön aus“, sagte Christian und deutete mit dem Kinn auf den Brief. Hatte er etwa gelesen, was sie über die Sinti geschrieben hatte?

„Was meinst du?“

„Diese Zeichen auf dem weißen Papier, wie Ameisen laufen sie in einer Reihe. Ich würde gern schreiben können.“

„Ich werde es dir beibringen, versprochen.“ Sie stieß mit der verletzten Hand an die Tischkante und zuckte zusammen. „Autsch.“

„Ich kann die alte Tante Weiß fragen, sie kennt sich aus mit Krankheiten und so etwas. Sie kann die Wunden besprechen.“ Christian sah sie fragend an.

„Das ist nicht nötig. Ich werde die Blasen aufstechen, dann heilen sie schneller ab. Hast du Milch bekommen?“

Er nickte. „Ja, von den Schwarz-Weißen. Das Geld ist aber alle.“

„Das dachte ich mir schon, es waren ja nur zehn Pfennige.“

In der Küche roch es nach gekochter Ziege und nach Kernseife. Magdalena atmete flach, weil der Würgereiz sofort wieder da war. Käthchen stand auf der Fußbank, Herrin über drei Töpfe, aus denen fettiger Dampf aufstieg.

„Alles wieder gut?“, rief sie fröhlich und schwang den Kochlöffel.

Magdalena nickte und riss die Tür zum Hof auf. Gierig atmete sie die frische Luft ein.

„Na, wenn das nicht gelogen war. Hast du schon mit der Hebamme gesprochen?“

„Welche Hebamme?“

„Gütiger Jesus, in jedem Dorf gibt es eine Hebamme. Das sind die Frauen, die helfen, die Kinder zur Welt zu bringen, schon mal davon gehört?“ Sie hob einen Deckel an und ein Schwaden des fettigen Dampfes zog an Magdalena vorbei zur Tür hinaus.

„Ja. Und nein, ich weiß nicht mal, wie die Frau heißt und wo sie wohnt.“ Magdalenas Blick fiel auf eine quer über den Hof gespannte Wäscheleine, an der ihr Linnen zum Trocknen hing. „Du hast sogar die Wäsche fertig. Danke.“

„Der Junge hat mir geholfen, er ist wirklich in Ordnung, dafür, dass er ein Tater … ein Zigeuner ist.“

Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Christian hat meine Unterhosen aufgehängt?“

Käthchen kicherte. „Nein, keine Sorge. Er hat nur die Leine gespannt. Wir haben sie im Holzschuppen gefunden.“

Magdalena erblickte die Milchkanne neben dem Herd, hob den Deckel und schnupperte vorsichtig.

„Die Hebamme heißt Martha Heinemann und wohnt in der Ziegelei, ganz oben am Ende der 22er Kolonie. Du solltest schon mal zu ihr gehen. Die Milch ist übrigens so dünn wie Molke, der Bauer hat den Jungen übers Ohr gehauen. Solche Geschäfte musst du hier selbst erledigen.“

Magdalena rührte mit dem Finger in der Milch, die bläulich schimmerte, und nickte erbost. „Das mach ich gleich nachher. Die Hälfte des Geldes kann ich zurückverlangen.“

„Wenn du willst, komme ich mit. Wann soll das Kleine kommen?“

„Im Mai hat der Arzt in Nürnberg gesagt.“

„So, so“, sie hob den Kopf und lauschte. „Die Glocken läuten Mittag. Mal sehen, ob die Kinder den Weg hierher finden.“ Ihre letzten Worte waren unnötig gewesen, denn von der Straße her hörten sie Stimmen.

 

Christian ging zur Tür. „Soll ich sie hereinlassen?“

„Warte, das will ich selbst tun.“ Magdalena lief an ihm vorbei und öffnete die Haustür. Draußen standen drei Mädchen im Alter von neun oder zehn Jahren, die sie erwartungsvoll ansahen. Zwei von ihnen waren nackt, eines trug ein graues Kittelchen voller Risse und Löcher. Ihre Haare starrten vor Schmutz, genau wie ihre Gesichter und Hände.

„Christian sagt, Käthchen kocht heute bei dir?“, fragte die Größte von ihnen ohne Scheu.

Magdalena überlegte fieberhaft, während sie nickte und in die Hocke ging, um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sein. Auf keinen Fall würde sie diese nackten und schmutzigen Wesen in ihre Stube lassen. Warum hatte sie daran nicht früher gedacht?

„Ja, das stimmt. Wie heißt du, meine Kleine?“

„Sophie Deutsch, Madam gadschi.“

„Gut, Sophie. Wer ordentlich angezogen ist und gewaschen, der kann gern hereinkommen und essen. Es gibt eine gute Suppe und Milch.“

Das Mädchen machte einen Schritt nach vorn, die anderen zögerten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als die Große das bemerkte, beugte sie sich vor und flüsterte: „Die beiden haben aber kein Kleid.“

„So? Dann werden sie eines bekommen. Wartet einen kleinen Augenblick.“ Magdalena lehnte die Tür an und drehte sich um. Christian und Käthchen standen hinter ihr und sahen sie fragend an. „Christian, du holst zwei Eimer Wasser vom Brunnen. Wir waschen sie, bevor sie sich an den Tisch setzen. Käthchen, womit kann ich sie nur bekleiden?“

„Ich habe Linnentücher in deiner Wäsche gesehen. Daraus könnten wir schnell ein paar Kittelchen zaubern. Allerdings sind sie noch nass.“

„Ich hab noch mehr davon. Meine Maman hat mir eine Aussteuer geschickt, damit könnte ich eine ganze Armee versorgen.“ Sie lief in die Kammer zum Wäscheschrank. Wenn zwei Tücher gegeneinander genäht würden, dann gäbe das ein einfaches Hemd. Es wärmte zwar nicht wesentlich, aber bedeckte wenigstens den Körper. Doch das Nähen würde Zeit in Anspruch nehmen. Sie nahm einen Stapel von den weißen Leinentüchern und trug ihn in die Stube.

Käthchen schnappte nach Luft. „Aber das ist viel zu schade. Das ist feines Linnen und noch neu.“

„Ich kann sie nicht nackt am Tisch sitzen lassen. Das ist wider jede Sitte. Kannst du sie zusammennähen, während ich die Mädchen wasche?“

Die Köchin nickte widerwillig. Bedauernd strich sie über das weiße Leinenzeug. „Wo hast du deinen Nähkasten?“

Als Magdalena die Tür erneut öffnete, waren es bereits sieben Kinder, darunter zwei Jungen, die immerhin eine Hose trugen. Sie führte die Kinder zunächst nach hinten auf den Hof, wo sie sich in zwei Reihen vor den Eimern aufstellten. Sie schrubbte die Mädchen mit Kernseife ab. Wieder war sie entsetzt über die mageren Körper, die aufgetriebenen Bäuche und die wunden Hautpartien. Sie musste Salbe besorgen, um die Stellen einzureiben. Christian beaufsichtigte das Waschen und Kämmen der Jungen, was verdächtig schnell voranging. Sie selbst brauchte mehr Zeit, schließlich konnte sie nur die linke Hand benutzen und die dicken schwarzen Locken der Mädchen waren verfilzt und widerspenstig. Als sie endlich am Tisch saßen, faltete sie die Hände.

„Wir wollen beten und Gott danken für dieses Mahl.“ Sie sah die Kinder erwartungsvoll an, bis schließlich alle ihre Geste nachahmten. „Liebster Jesu, sei unser Gast und segne alles, was du uns bescheret hast. Amen.“ Die Kinder schwiegen und starrten auf die Teller mit der lauwarmen Suppe. Magdalena seufzte. „Ihr könnt jetzt beginnen. Lasst es euch schmecken.“

Käthchen hatte inzwischen genug Zeit gehabt, die Hemden fertigzustellen. Sie hatte sich nicht überwinden können, zwei Stücke für ein Hemd zu verschwenden, sondern wickelte jeweils eines der langen Tücher wie eine Toga um ein Mädchen herum und nähte die beiden Enden über einer Schulter zusammen, sodass die Kinder schließlich wie eine Schar kleiner Römer aussahen.

Magdalena lachte über diesen Anblick zufrieden und übermütig. „Schade, dass Wilhelm nicht da ist“, sagte sie und umarmte Käthchen spontan. „Ohne dich hätte ich das nie geschafft.“

„Gütiger Jesus, ich habe Riekchen vergessen. Die sitzt zu Hause und schiebt Kohldampf.“ Käthchen wickelte sich eilig in ihr Wolltuch. „Kommst du allein zurecht?“

„Aber ja. Christian ist auch noch da. Nimm ihr eine Schüssel von der Suppe mit. Und Milch.“ Sie griff zur Kelle.

„Suppe gern. Milch hat sie selbst, sie hat Ziegen.“ Käthchen öffnete die Haustür und rief über die Schulter: „Hier sind noch mehr Kinder. Hätte mich doch gewundert, wenn das schon alles gewesen sein sollte.“

Tatsächlich stand etwa ein Dutzend hungriger Mäuler auf der Straße vor dem Haus. Sie hatten offenbar abgewartet, wie es der ersten, mutigeren Gruppe erging, und waren nun nachgerückt.

Käthchen seufzte und legte den Umhang ab. „Riekchen muss eben warten.“ Und wieder wuschen Magdalena und Christian im Hof die mageren Körper, während Käthchen Milch ausschenkte und weitere Hemden nähte. Nachdem sie getrunken hatten, mussten sie die Stühle räumen für die zweite Gruppe. Sie wollten jedoch keineswegs gehen, sondern verteilten sich auf dem Fußboden in der Stube, um von dort aus zu beobachten, wie die anderen Kinder versorgt wurden. Erst als alle saßen und löffelten, kehrte etwas Ruhe ein. Auch Magdalena konnte sich setzen.

„Lauf nach Hause, jetzt schaffe ich das allein“, nickte sie Käthchen zu, die sich eilig verabschiedete.

Magdalena nutzte die Verschnaufpause, um die Kinder zu mustern und sich ihre Gesichter einzuprägen. Es schien auf den ersten Blick nicht einfach, sie zu unterscheiden. Ihre Haare waren einheitlich dicht, lockig und tiefschwarz; jetzt, wo sie gekämmt waren, lag ein metallisch-bläulicher Schimmer auf ihren Köpfen. Die Locken der Jungen kringelten sich ebenso ungebändigt wie die der Mädchen, und wenn sie nicht alle Kinder nackt gesehen hätte, würde sie kaum erkennen, wer von ihnen Junge oder Mädchen sei. Ihre Haut war dunkel, selbst jetzt im Herbst. Was sie am meisten beeindruckte, waren jedoch ihre Augen. Nicht nur, dass sie verhältnismäßig groß waren, die Iris schimmerte so schwarz, dass sie sich nicht von der Pupille abgrenzte. Dadurch bekamen die Gesichter den Ausdruck eines ständigen Staunens, und Magdalena hatte das unwillkürliche Bedürfnis, ein jedes von ihnen zu umarmen. Doch je länger sie die Kinder betrachtete, umso mehr Unterschiede erkannte sie. Etliche hatten eine leicht nach unten gebogene Nase, ähnlich wie Christian. Waren das vielleicht die Weiß-Kinder? Zwei der Jungen fielen durch abstehende Ohren auf, ein Mädchen hatte einen verstümmelten Zeigefinger. Sie beobachtete einen besonders kleinen Jungen, der kaum den Löffel halten konnte. Seine Arme waren nicht dicker als der Stiel eines Besens. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn.

„Wilhelm“, flüsterte er, erschrocken, weil sie ausgerechnet ihn ansprach.

Sie lächelte. „Genau wie mein Mann. Wie alt bist du?“

Er hob die mageren Schultern und löffelte stumm weiter. Sie nahm sich vor, eine Kartei anzufertigen, in der sie die wichtigsten Fakten über jedes der Kinder aufnahm. Sie würde die Eltern befragen müssen. Vielleicht gab es Auffälligkeiten, Krankheiten, von denen sie wissen musste. Ihr Blick fiel auf ein Mädchen, dessen Rücken deutlich verkrümmt war. Ein anderes hatte eine Hasenscharte wie Christine, es quälte sich mühsam mit dem Löffel, die meiste Suppe floss wieder in den Teller zurück. Es kam vielleicht mit einer Tasse besser zurecht. Ob es sprechen konnte?

Sie stand auf und füllte etwas Suppe in einen leeren Milchbecher. „Versuch das mal, das geht bestimmt leichter.“ Sie hielt dem Kind den Becher hin.

Die Kleine sah sie schüchtern an, doch dann griff sie zu.