7000 und 1 Nacht

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7000 und 1 Nacht
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7000 und 1 Nacht – Vom Tod Zum Leben

Johann Martin Maurer

Copyright 2011 Johann Martin Maurer

published at epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-2304-0

Helles, warmes Licht und eine harmonische Ruhe umgaben mich.

Als hätte ich meinen inneren Frieden gefunden, konnte ich frei schwebend diese sterbliche Hül e, welche einige Meter unter mir versehrt und an verschiedenen Gerätschaften angeschlossen am Krankenbett lag, erkennen.

Die monotonen Geräusche der Lungenmaschine zeigten der Krankenschwester an, dass sich der Patient im künstlichen Tiefschlaf befand.

Ich wol te nicht mehr dorthin zurück, ich fühlte mich so unbeschreiblich sicher - von allen Ängsten und Zwängen losgelöst, befreit und entbunden. Umsorgt, einfach wohl und rundherum zufrieden hegte ich keine Wünsche mehr - ich war einfach nur glücklich!

Es muss wohl das gedankliche Loslösen von meinem gesamten Körper gewesen sein, welches die Apparaturen plötzlich Alarm schlagen und ein Ärzteteam herbeieilen ließ.

Mein Herz hatte seine Tätigkeit eingestellt.

Genau in diesem Augenblick sah ich die ganze Schöpfung und wie diese litt - fernab von jeglichem Licht in geistiger Finsternis.

Allerdings hatte ich bruchstückhaft eine Vision, ehe ich mich in meinem Körper wiederfand.

Ein Arzt befreite mich von den Apparaturen und meine Atemwege von Sekreten. Es war, als würde man mir Teile meiner Lunge absaugen.

Das alles geschah im Winter 1976.

Heute, da ich diese Erlebnisse niederschreibe, haben wir Juli 2011.

Ich sitze am Fensterbrett eines Zimmers einer Strafanstalt. Von hier aus ist es mir möglich, die Flugzeuge zu beobachten, die im 3-Minuten-Takt zur Landung am Flughafen Wien ansetzend ihre Fahrwerke ausfahren.

Dieser Moment bringt mich immer etwas zum Träumen. Denn Sehnsucht nach dieser anderen Welt, in der ich mich damals für kurze Zeit befunden habe, macht sich dabei in mir breit. Der Wunsch danach, wieder in die Bilder der Vision einzutauchen, welche viel genialer sind, als sie mir diese, unsere Welt jemals

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zeigen könnte.

Seit 2008 arbeite ich nun an der Umsetzung dieses Zukunftstraumes.

Aus dem Projekt ist mittlerweile ein Programm geworden mit dem Namen „JAMU - a reality life program with a vil age of splendid life“.

In dieser Zeit durfte ich erkennen, dass al es, was im Namen

„JAMU“ gedacht wird, auch tatsächlich getan werden kann. Denn es kommt letztlich immer darauf an, welche Macht man der Bedeutung dieses Namens einräumt.

Ich möchte einen Einblick in mein chaotisches Leben bieten und von der Tatsache berichten, weshalb ich nicht sterben durfte, trotz mehrerer 'Nah-Tod-Erlebnisse'.

Es ist kaum zu glauben, wie dieses Leben verlaufen ist und wie es dazu kam, dass ich es selbst auslöschen wollte. Warum ich mich selbst nicht mehr ertragen konnte, bis ich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens auf unseren „Schöpfer“ stieß, zu ihm schrie und ihn herausforderte.

Ich kam am 17. 06. 1951, einem Sonntag, in einer Schiregion in Österreich zur Welt.

Meiner Mutter zufolge fiel bei meiner Entbindung der erste Sonnenstrahl eines neuen Tages auf mich. Ein Umstand, welchen ich zeitlich gerne genauer erfahren hätte. Leider war es damals noch nicht üblich, auch exakte Zeitangaben in die Geburtsurkunden einzutragen.

Als Jüngster nach fünf Schwestern war ich vor al em verspielt und verträumt. Meine Wünsche und Gedanken drehten sich in meiner Kindheit meistens darum, in einer heilen Welt, einer einzigen großen Familie zu leben, in der es niemanden an Liebe und Geborgenheit mangelte. Je älter ich wurde, desto enttäuschender wurde allerdings die Erkenntnis, dass ich all das nicht vorfinden konnte, was ich mir erträumt und so sehr gewünscht hatte.

Meine Mutter führte eine kleine Frühstückspension, mein Vater war selbständiger Unternehmer. Wir betrieben einen Holz- und Kohlehandel, den ich später einmal übernehmen sol te.

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Ich liebte es mit den Gästen, die sich übers Jahr verteilt in unserem Haus einquartierten, zu plaudern. Viele Fragen brannten auf meinen Lippen und so versuchte ich, al es Interessante, was um mich herum geschah aufzunehmen und zu verstehen. Noch dazu fand ich es imponierend, wie meine Mutter mit diesen Leuten umging.

Mit der Arbeit meines Vaters hingegen konnte ich nichts anfangen.

Deswegen begann ich zu gegebener Zeit mit einer Lehre in der Gastronomie.

Auch beschäftigten mich bereits in jungen Jahren Fragen nach dem Sinn des Lebens, wo man herkomme und wohin man gehe. Aber für solch tiefgründige Gedanken fand ich keine Ansprechpartner.

So war ich immer auf der Suche nach Antworten, ohne jemals wirklich welche zu erhalten.

Als man in einer Diskussionsrunde wissen wol te, wie die Zukunft der Erde in 50 Jahren denn aussähe, konnte jeder, abgesehen von mir selber, etwas dazu beitragen. Ich fühlte mich während diesem Gespräch lediglich bedrückt und leer. So sehr ich mich auch bemühte - mir wollte es nicht gelingen, meine Vorstel ungskraft von diesem finsteren und trüben, schwarzen Loch zu lösen. Diese Situation stimmte mich damals im Alter von 14 Jahren sehr nachdenklich. Hätte ich auch nur im Ansatz geahnt, was mir in den nächsten Jahrzehnten bevorstehen sol te, wäre ich wohl vor Schreck erstarrt.

Bereits im Juli 1969, kurze Zeit nach meinem 18. Geburtstag, bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen. Von der einen Sekunde auf die andere verwandelte sich mein Leben in ein tiefes Tal der Tränen und des Leids, woraus es kein Zurück mehr zu geben schien.

Eben hatte ich meine Lehre in der Gastronomie abgeschlossen. Mir bereitete diese Arbeit dermaßen Spaß, dass ich so schnel wie möglich in diesem Bereich selbständig werden wollte. Meine Berufslaufbahn schien daher für mich vorherbestimmt.

Mein Vater war mittlerweile im Ruhestand und hatte sich längst damit abgefunden, dass sein einziger Sohn sein Unternehmen nicht weiterführen werde.

So traurig es klingen mag - er war eher erfüllt von Stolz. Stolz,

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dass er mir bereits im zarten Alter von elf Jahren das Autofahren am Steuer seines Lastkraftwagens beigebracht hatte. Es war nämlich Brauchtum, dass an Wochenenden an den Stammtischen der Wirtshäuser, welche mein Vater häufig aufzusuchen pflegte, meist zu viel getrunken wurde.

Hierbei verhielt es sich immer so, dass er meine Mutter anrief, die mich ausschicken sol te, um ihn und seine Zechkumpanen abzuholen und anschließend nach Hause zu fahren. Seine Stammtischfreunde bewunderten ihn für solch einen anständigen Jungen, der sich so liebevol um seinen Vater kümmerte.

Es blieb aber auch nicht aus, dass ich mir für eigene Fahrten mit Freunden oftmals das Auto des Vaters ausborgte. Auch wenn dieser nichts von dieser Leihgabe wusste, schien es mir dennoch ein stil es Abkommen zwischen uns zu geben, welches dies erlaubte, so wie das Kutschieren von einem Gasthaus zum anderen für ihn selbstverständlich zu sein schien. Und auch wenn ich mir dies in solchen Situationen nur eingebildet haben mochte, war es für mich immerhin eine Entschädigung für all die Stunden, welche mich das nächtliche Ausrücken damals an Kraft, Nerven und vor allem Zeit kostete.

Als ich einmal im Winter ins Schleudern geriet und in der Ortsmitte gleich drei Autos beschädigte, brachte mir dieser jugendliche Leichtsinn die erste Anzeige ein.

Eine weitere ließ nicht lange auf sich warten, nachdem bei einer großen Gartenparty zur mitternächtlichen Stunde das Gril fleisch ausgegangen war und man auf die glorreiche Idee kam, Fische aus dem Forel enteich des Nachbarn zu stehlen. Diese Tat blieb letztendlich al ein an mir hängen.

Aber ich übte mich während meiner Jugendzeit nicht nur in Übermut und Lebensfreude. Durch positive Eigenschaften wie meiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft war ich allgemein beliebt.

Am 5. Juli 1969 brachten mich meine berüchtigten Ausfahrten schließlich in Teufels Küche. Obgleich ich immer noch nicht im Besitz eines Führerscheines war, ließ ich mich trotzdem dazu breitschlagen, mit meinem Freund Rudi ein 50 Kilometer entferntes

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Dorffest zu besuchen. Bei dieser Distanz und aufgrund des Schlechtwetters kamen wir nicht darum herum, wieder das Auto meines Vaters für die Anfahrt zu verwenden. Obwohl ich mich bei der Sache nicht ganz wohl fühlte, sagte ich zu.

Ausschlaggebend für meine Zusage war damals eigentlich die Vorfreude darauf, endlich wieder meine erste große Liebe treffen zu dürfen.

Einst hatte sie im Sandkasten begonnen und uns später so verzaubert, dass sie schließlich aus Neugierde und sexuellem Verlangen in eine einmalig leidenschaftliche Beziehung mündete.

Diese Liebe erfuhr und teilte ich mit einem lieben, blonden und aufgeweckten Mädchen aus der Nachbarschaft namens Christl.

Leider hatten wir uns während der Lehrzeit aus den Augen verloren.

Deshalb freute ich mich umso mehr über die Nachricht von Rudi, dass Christl mit uns gemeinsam das besagte Fest besuchen wol e.

Auch ihre Schwester und eine Freundin hatten sich für diese Fahrt angemeldet.

Das Wiedersehen mit diesem besonderen Mädchen nahm mich wie erwartet gefangen. Doch sol te es nur bei einer kurzen innigen Begrüßung bleiben.

Als ich ihr bei strömenden Regen die hintere Tür meines Autos öffnete, trafen sich unsere Blicke tief und zärtlich. Niemals werde ich diesen Moment vergessen können. Wie sol te ich auch - wenige Minuten später war sie tot!

 

Sie nahm damals hinter dem Fahrersitz Platz, daher konnte ich sie im Innenspiegel des Wagens beobachten. Sie war reifer geworden.

Wie sie sich gab, wie sie redete – all das ließ sie wirken wie ein Engel. Ja, ich liebte sie.

Der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe, als wir kurze Zeit später talabwärts fuhren. Nur mit Mühe konnten die Scheibenwischer die Mengen an Regenwasser zur Seite schieben, um mir freie Sicht zu verschaffen. Gerade deswegen fuhr ich vorsichtig und nicht zu schnel . Hinter einem Waldstück in einer kleinen Rechtskurve stand al erdings besonders viel Wasser auf der Fahrbahn. An dem linken Rand grenzte eine hohe Hangschutzmauer und rechts fiel das Gelände unmittelbar neben der Straße etwa 200

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Meter tief ins Tal hinab.

Aufgrund des Aquaplanings verlor der Wagen plötzlich Bodenhaftung und ich dadurch die Kontrolle über das Fahrzeug.

‚Oh, Gott! ‘, war mein letzter Gedanke, bevor wir langsam nach rechts gezogen wurden. Ich sah nur noch, wie die Scheinwerfer die dunkle, verregnete Nacht durchleuchteten hinein ins Nichts.

Im Radio trällerte ein Schlager.

Wir rutschten geradewegs auf den Straßenrand Richtung Abgrund zu. Mit vol er Inbrunst schrie ich:„Haltet euch fest!“

Im nächsten Moment geriet die rechte Autoseite unter das Eisengelände.

Unter gewaltigem Tosen und Lärmen deformierten sich Kühler und Motorhaube vor meinen Augen.

Ein Absturz war nicht mehr zu vermeiden. Dem Schicksal völ ig ausgeliefert und nur mehr abwartend, was in den nächsten Sekunden geschehen würde, starrten wir im blanken Entsetzen auf den freien Fal .

Der Motorblock wurde durch den Aufpral ein Stück weit ins Führerhaus gedrückt. Ich fühlte, wie meine Füße dem Widerstand entgegenwirkten und ich hielt meine Hände am Lenkrad, meine Arme durchgestreckt. So konnte ich mich mit ganzer Kraft in die Rückenlehne drücken, so lange bis diese brach.

Im Bruchteil von Sekunden erfasste ich die derzeitige Situation: Hinter mir lagen die Mädchen fast übereinander.

Zu jener Zeit gab es ja noch keine Sicherheitsgurte.

Rudi umklammerte am Beifahrersitz den Schalthebel, als wir nach rechts weg kippten und uns über eine vier Meter hohe Mauer und einen Steilhang hinab stürzend überschlugen.

Währenddessen sah ich mein Leben wie in einem Zeitraffer an mir vorüberziehen.

Das Licht des linken Scheinwerfers leuchtete wie ein Fingerzeig Gottes in die Nebel verhangene Nacht hinein...dann schlugen wir auf.

Ein Mark erschütterndes Krachen und Verformen von Blech. Füße, Hände - ganze Körper flogen durch das Auto, trafen und streiften mich.

Immer wieder ein Aufschlag, eine oder mehrere Drehungen des

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zertrümmerten Wagens. Dann wieder ein Aufprall, bis ich schließlich kopfüber in nasser, warmer Erde zu liegen kam.

Es hatte mich nach 80 Metern aus dem Auto geschleudert und ich musste hören, wie das Auto, sich weiter überschlagend, ins Tal krachte, bis schließlich Stil e einkehrte.

Absolute Stil e.

Totenstil e.

Jetzt sind wir wohl al e tot.

Das war mein erster Impuls. Ich fühlte keine Schmerzen mehr. Ich richtete mich auf und schrie die Namen der anderen.

Und tatsächlich: Rudi meldete sich dort unten. Obwohl ich nicht einmal die Hand vor meinen Augen erkennen konnte, nahm ich ihn wahr.

Ich versuchte dorthin zu gelangen und stürzte, mich überschlagend, völ ig orientierungslos in die Tiefe.

Nach langem Zurufen stießen wir trotz der Dunkelheit aufeinander.

Euphorie packte mich, als ich bemerkte, dass drei meiner Freunde wohlauf und allem Anschein nach auch nur leicht verletzt waren.

Hoffnung gab mir den Ansporn, eines der Mädchen langsam den steilen Hang hinauf zu schleppen. Nun, zumindest versuchte ich es.

Kurze Zeit später musste ich al erdings einsehen, dass das Gelände für dieses Vorhaben viel zu steil war. So sehr ich mich auch bemühte, es wol te mir einfach nicht gelingen.

Irgendjemand musste den Unfal bemerkt und Rettung sowie Feuerwehr alarmiert haben. Ich konnte deutlich Lichter von Fahrzeugen hoch oben auf der Straße erkennen, sodass plötzlich der ganze Hang ausgeleuchtet wurde.

Die ganze Zeit über rief ich nach Christl. Ich schrie mir regelrecht die Seele aus dem Leib nach ihr. Aber eine Antwort blieb aus.

Geblendet vom Scheinwerferlicht musste ich letztendlich erkennen, dass sie unmittelbar unter der Mauer lag. In diesem Moment ließ ich al es stehen und liegen, übergab Rudi das Mädchen, das ich zuvor den Hang hinauf tragen hatte wollen und kämpfte mich auf allen Vieren nach oben.

Gleichzeitig mit dem ersten Helfer der Rettung traf ich bei Christl ein. Sie war al em Anschein nach bereits beim ersten Überschlag

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aus dem Auto geschleudert und dabei schwer am Kopf verletzt worden. Dieser grauenhafte Anblick war für mich ein solcher Schock, dass ich dieses Bild sofort aus meinem Bewusstsein strich.

Bis zum heutigen Tag ist es mir nicht mehr gelungen, dieses Szenario vor meinem inneren Auge abzurufen.

Genauso wenig ist es mir möglich nachzuvol ziehen, wie die restlichen drei Personen die hohe Mauer bis zu den Rettungsautos überwinden konnten.

Erst am Operationstisch, als mich der behandelnde Chirurg wegen des Unfal herganges befragte, setzte ein vager Teil meiner Erinnerung wieder ein. Ich erfuhr aus dem Gespräch mit dem Arzt, dass er ebenfal s einen geliebten Menschen bei einem Unfall verloren hatte.

Irgendwo entdeckte ich währenddessen einen Spiegel und erkannte mich darin nicht mehr wieder.

Blutverschmiert und mit abwesendem Blick lag ich da. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen - weder mit der Schuld, noch dem Verlust dieser einen Nacht umgehen.

Mein Freund Rudi und ich fanden uns nach der Operation im gleichen Krankenzimmer wieder. Mit ihm sprach ich über die Ängste, welche ich davor empfand, den Eltern von Christl erklären zu müssen, dass ich für den Tod ihres Kindes verantwortlich sei.

Als ich am Höhepunkt meiner Verzweiflung angelangt war, erlöste mich ein tiefer, erholsamer Schlaf.

Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages fielen auf mein Krankenbett und mein Vater holte mich in die Gegenwart zurück, indem er meine Hand berührte.

Behutsam versuchte er mir zu erklären, dass Christl nicht mehr lebe. Alle anderen seien den Umständen entsprechend wohlauf. Es gelang mir nicht ein Wort über die Lippen zu bringen - als wäre ich für immer verstummt.

Er stel te keine zusätzlichen Fragen. Ich gab nur mit meinen Augen und durch den Druck der Hände zu erkennen, dass ich alles verstanden hatte.

So erging es mir auch, als die Mutter von Christl an meinem

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Krankenbett saß. Man kann nicht einmal behaupten, dass mir nicht zum Reden zumute war - ich schaffte es einfach nicht, irgendeinen Laut von mir zu geben. Ich könnte mich auch nicht erinnern, was und wie diese, meine Nachbarin damals zu mir sprach. Jedenfal s kam von ihrer Seite kein einziges schlechtes Wort, kein Vorwurf. Sie war einfach nur erfül t von tiefer Trauer.

Die Schwester von Christl hatte schlimme Fleischwunden an den Beinen erlitten, ansonsten hatten al e anderen wie durch ein Wunder nur mit Verletzungen leichten Grades überlebt. So konnten wir uns bald gegenseitig besuchen und jeder aus seiner Sicht beschreiben, wie und was er während dem Unfall erlebt und empfunden hatte.

Den Tag des Begräbnisses von Christl verbrachte ich in der Krankenhauskapelle. Anstatt zu beten war ich einfach nur sprachlos.

Trotzdem durfte ich bereits nach wenigen Tagen das Krankenhaus verlassen. Dies rief in mir allgemein Erleichterung hervor, da ich die vielen gut gemeinten Besuche als immense Anstrengung empfand.

Zwar hatte ich meine Stimme wieder gefunden, musste mich aber in Gesprächen immer wiederholen und konnte stets nur meine Trauer zum Ausdruck bringen.

An meine Arbeitsstel e zurückgekehrt, musste ich feststel en, dass ich so nicht weiter leben wollte. Ich musste in meinem Leben etwas verändern - ich brauchte eine Auszeit.

Doch konnte und wollte ich diesen Schritt niemandem erklären.

Deswegen packte ich eine Tasche mit dem Notwendigsten und schrieb meinen Eltern einen Abschiedsbrief. Anschließend setzte ich mich auf mein Leichtmotorrad und fuhr ohne Ziel einfach drauf los.

Der Weg führte mich nach Italien. Von dort aus organisierte ich mir einen Arbeitsplatz in einer Kleinstadt in Deutschland, in welcher eine meiner Schwestern lebte.

Dort angekommen, versuchte ich mein Leben neu zu ordnen.

Zu Weihnachten bekam ich meinen ersten Urlaub und fuhr mit gemischten Gefühlen nach Hause.

Der Polizeichef meiner Heimatgemeinde kontaktierte mich am letzten Tag meines Aufenthaltes, dass ich zwecks einer Unterschrift

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auf die Polizeistation kommen solle. Vor Ort erklärte er mir, dass ein Haftbefehl gegen mich vorliege und er mich deshalb in das Landesgericht nach Salzburg überstel en müsse.

Diese Nachricht traf mich so unerwartet und löste erneut einen Schockzustand in mir aus. Noch dazu kam, dass 1970 die Haftbedingungen der totale Wahnsinn waren. Ich litt sehr unter den dortigen Umständen. Dennoch solidarisierte ich mich mit den sogenannten 'schweren Jungs' im Gefängnis.

Die Lebensgeschichten dieser Gruppe, die ich dort kennenlernte, waren für mich jedoch gleichzeitig hochinteressant.

Ich las ihre Anklageschriften, als wären es Romane und was sie mir erzählten, saugte ich begeistert in mir auf.

Die meisten Insassen kamen aus gescheiterten Ehen und aus Erziehungsheimen. Sie hatten nie eine Chance erhalten, etwas aus ihrem Leben zu machen. Daher waren sie schon früh straffäl ig geworden und schienen aus dieser Misere keinen Ausweg mehr finden zu können.

All meine bisherigen Taten bewogen meinen Richter dazu, mir andere Seiten des Lebens aufzuzeigen. Ich wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt. Dabei befand ich mich in Gesel schaft, welche mir vor Augen führte, was Leid, Lieblosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit tatsächlich bewirken können.

So wurde mir klar, dass es offenbar Menschen zweiter Klasse gibt und ich zu einer dieser geworden war.

Doch diese Maßnahme der Therapie - so wie sie damals in der Regel praktiziert wurde - kann schnel zu einer Brutstätte von gefährlicher Kriminalität werden. Vor al em, wenn man Jugendliche auf die gleiche Stufe wie Schwerverbrecher stellt.

Nach ungefähr vier Monaten Haft wurde ich von meinem Mithäftling und Bettnachbarn Franz in dessen Fluchtpläne eingeweiht und um Hilfe gebeten.

Die Medien nannten ihn den ‚Ausbrecherkönig Österreichs‘. Er war ein Meister des Tresor-Knackens. Dieses Mal erwarteten ihn mehrere Jahre Haft.

Meiner Meinung nach war er im Kern ein guter Mensch. Er nahm

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den Reichen und gab den Armen. Deswegen beschloss ich für mich, Franz tatsächlich bei seiner Flucht behilflich zu sein.

Ich sol te nun bei einer Fahrt ins Krankenhaus aufgrund einer Augenuntersuchung einen Fluchtversuch unternehmen. Würde mir dies gelingen, sol te ich daraufhin Kontakt mit seiner Frau aufnehmen, um ihn herauszuholen zu können.

Gegenüber unserer Zel e stand das Gerichtsgebäude mit nicht vergitterten Fenstern.

Er hatte folgenden Plan:

Ich sol te mich nach gelungener Flucht mit seiner Frau im Gerichtsgebäude verstecken, bis dieses am Abend versperrt werden würde. Dann hätten wir nichts mehr zu befürchten.

Mit Seilen und einem Sägeblatt ausgerüstet könnten wir dann nachts das Fenster öffnen, um auf ein Zeichen von Franz den kleinen Innenhof zu überqueren und das Werkzeug in einer Tüte an seinem herabgelassenen Seil befestigen, welches er aus dem Saum seines Leintuches gefertigt hatte.

Daraufhin sol ten wir ins Gerichtsgebäude zurückkehren und dort warten, bis ihm die Flucht nach Durchsägen seines Fenstergitters gelungen war.

Soweit in Kürze die Theorie.

Heute kann ich es mir nicht mehr erklären, warum ich mich dazu breitschlagen ließ, doch ich gab vor, Augenprobleme zu haben, um diesen Arztbesuch zu erhalten und es kam wie vorhergesagt.

Ich wurde in das Landeskrankenhaus in Salzburg gebracht und dort dem Augenarzt vorgeführt.

Ich hatte nur die Adresse der Ehefrau meines Mithäftlings im Kopf.

 

Ein großer sportlicher Beamter, noch dazu Schwiegersohn des Gefängniskommandanten, begleitete mich.

Als er die Schiebetüre des Justizbusses aufschob, sprang ich an ihm vorbei und rannte so schnel ich nur konnte den ganzen Weg des weitläufigen Krankenhausgeländes bis zu einer Kreuzung. Als ich mich umsah, konnte ich erkennen, dass der Beamte von meinem Sprung aus dem Wagen so überrascht war, dass er durch eine schnel e Drehung sein Gleichgewicht verloren hatte und gestürzt

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war. Schnell raffte er sich allerdings wieder auf und heftete sich an meine Fersen.

Glücklicherweise kannte ich das Landeskrankenhaus ein wenig und wusste, wohin ich laufen sol te. Als ich auf ein schmales Tor, welches zu dieser stark befahrenen Kreuzung führte, zusteuerte, hörte ich den Beamten hinter mir rufen: „Haltet ihn auf!“

Ein junger Mann beobachtete die Szene und reagierte rasch, indem er mir ein Bein stel te. Ich stürzte und schlitterte den Boden entlang. Noch ehe ich mich wieder gefangen hatte, um weiterlaufen zu können, verspürte ich einen festen Schlag am Hinterkopf.

Der Beamte hatte mich eingeholt und am Hemdkragen gepackt.

Daran zog er mich nun hoch, während er lauthals schrie: „Dieser Verbrecher!“

Auf den Gesichtsausdrücken al er in der Nähe befindlichen Leute konnte ich dieselbe Meinung ablesen.

Daraufhin wurde ich an den Haaren hochgerissen und meine Arme nach hinten bis zu den Schulterblättern hinauf gebogen. In dieser Position wurde ich nun den gesamten Weg zurück in das Landesgericht unter wüsten Drohungen abgeführt.

Dabei hörte ich, wie er sich über Funk brüstete, mich, den

„Schwerverbrecher“ gestel t zu haben und sah, dass er sich bei seinem Sturz an der einen Hand leicht verletzt hatte.

Noch um einiges brutaler wurde ich schließlich aus dem Auto gezerrt und daraufhin geschlagen. Denn hier gab es keine Zeugen mehr und der besagte Beamte konnte nun seine ganze Wut an mir abreagieren.

Im Kel erabteil des Gefängnisses musste ich mich nackt ausziehen und bekam eine ordentliche Tracht Prügel verabreicht. Während ich versuchte, die Schläge abzuwehren, konnte ich in seinem Gesicht den puren Hass erkennen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, sperrte er die Zel entüre auf und ich stolperte in einen Kel erraum, der nur durch dicke, trübe Glasziegel ein wenig vom Tageslicht erhel t wurde. Eine Holzpritsche und ein erhöhtes Rohr mit einem Eisendeckel, welches als WC

dienen sol te, war al es, was ich darin vorfand.

Trotzdem war ich froh, als endlich die schwere Eisentüre ins Schloss fiel.

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Nackt stand ich da und verstand die Welt nicht mehr.

Was hatte ich diesem Mann getan, dass er mich so behandelte?

Was oder wen sah er in mir, dass er seine ganze Wut an mir ausließ?

Die Stunden krochen nur so dahin und ich verlor jegliches Zeitgefühl. In diesem Raum war es feucht und kalt. Irgendwann hörte ich Geräusche und ich konnte feststel en, dass ich mich nicht alleine in dieser Absonderung befand. Als es ruhiger wurde, nahm ich mit den anderen Personen Kontakt auf und erfuhr, warum noch zwei weitere Zellen besetzt waren.

Unsere Kommunikation ließ eine Aufsichtsperson nachsehen, was hier im Gange war. Erstaunt darüber, mich nackt vor sich stehen zu sehen, erklärte mir diese, dass Schreien verboten sei.

Der Beamte zeigte dennoch etwas mehr Menschlichkeit, indem er mir eine grobe Hose aus Jute und eine Jacke mit einem am Rücken aufgenähten, roten „F“ brachte.

Lange Zeit, nachdem es gedämmert hatte und ein gefühltes Leben später, bekam ich Besuch von einem Mann, der mich zu einer Wasserstel e führte. Ich durfte mich waschen, trinken und erhielt für die Nacht zwei Decken. Diese waren allerdings so dreckig, dass sie bereits von alleine standen.

In eine Ecke des Kel erraumes gekauert, verbrachte ich die Nacht.

Schlaflos fror ich vor mich hin und vernahm Schreie aus dem Kanal unter mir.

Immer wenn irgendjemand im Haus die Toilettenspülung betätigte, zog ein Schwall stinkender Brühe durch den Kanal an mir vorbei.

Jegliche Hoffnung, hier bald herauszukommen, musste ich im Keim ersticken. Von Erzählungen her wusste ich, dass Fluchtversuche mit bis zu vier Wochen Kel eraufenthalt bestraft wurden.

Noch dazu hatte ich vergessen, den Eisendeckel auf das WC-Rohr zu legen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, als würde man einen nassen Lappen auf den Boden fal en lassen.

Ich schrie vor Entsetzen nach einem Beamten. Ewig passierte nichts, bis endlich Schritte ertönten und das Licht anging.

Dann sah ich sie mir gegenüber sitzen: Eine Ratte so groß wie eine Katze.

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Ich meldete dies dem Beamten durch die geschlossene Tür. Der Beamte musste zuerst Verstärkung holen, da er die Zel e nicht alleine öffnen durfte.

Als endlich die Türe aufging, suchte die Ratte das Weite. An Schlafen

war

nicht

mehr

zu

denken.

Zitternd

und

zusammengekauert überdachte ich meine Situation.

Hatte ich noch eine Chance hier raus zu kommen?

Ich erinnerte mich an Geschichten anderer Insassen und fasste einen neuen Plan. Ich wol te einen Selbstmordversuch vortäuschen.

Indem ich mich strangulierte und den Bewusstlosen spielte, wol te ich bei der Ausführung ins Landeskrankenhaus nochmals einen Fluchtversuch starten.

Vieles ging mir durch den Kopf in dieser fürchterlichen Nacht.

Immer wieder wurde ich dabei mit dem Tod meiner lieben Christl konfrontiert. Durch mein Fehlverhalten hatte ich mit einem Schlag so viel Leid in eine ganze Familie gebracht. Zudem setzte mir der Hass jenes Beamten zu, der mich so misshandelt hatte. Dies eröffnete mir eine ganz neue Sicht auf meine Umwelt, in welcher es mir kaum mehr lebenswert zu sein schien.

Ich verspürte Todessehnsucht und meine Gedanken kreisten um die Frage, ob es denn ein Leben nach dem Tod gäbe. Inständig erhoffte ich mir auf all die Fragen eine Antwort zu bekommen, aber wer oder was sol te mir schon dabei helfen, wenn ich mir nicht mal selber helfen konnte.

Als der nächste Tag anbrach und die Glasziegel etwas Licht in diesen schrecklich nasskalten Raum fallen ließen, versuchte ich mit Dehnungsübungen meinen Körper wieder etwas in Schwung zu bringen. Hier wol te ich nicht bleiben - keine weitere Nacht mehr.

Ich wol te meinen Plan in die Tat umsetzen.

Vor der eisernen Zel entüre befand sich zur Sicherheit der Außenstehenden noch eine Gittertüre, die bis zur Decke reichte. Mit den Ärmeln meiner Jacke band ich diese ganz oben fest, stieg hinauf und steckte meinen Kopf in die Schlaufe, um auszuprobieren, wie lange ich mich so durch Anspannen der Muskeln hängen lassen konnte. Ich zählte bis 30 und befreite mich dann wieder, stieg herunter und wartete ab, bis ich hörte, wann jemand die Türen

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aufsperrte.

Am Morgen konnte ich entdecken, dass zuerst bei meinem Kel ernachbarn zur Linken aufgesperrt wurde. Da diese Türe sehr laut ins Schloss fiel und erst zehn Sekunden danach meine geöffnet wurde, wol te ich in dieser Zeit mittags den Bewusstlosen spielen, um den erneuten Fluchtversuch zu wagen.

Vol er Spannung erwartete ich die Mittagszeit und bei den ersten Geräuschen begann ich hektisch meine Jacke oben am Gitter zu befestigen, stieg hinauf und hängte mich mit dem Rücken zur Türe vorsichtig ein. Durch diese innere Unruhe achtete ich allerdings nicht mehr auf die Geräusche vor der Tür.

Ich ließ mich einfach nur hängen und wartete in der Hoffnung, dass bald die Türe aufgehen und sich Rettung nähern würde. Aber es tat sich nichts.

Mein Vorhaben abzubrechen und dabei erwischt zu werden, hätte alles zunichte gemacht und so verlor ich schließlich das Bewusstsein.

Ich kam erst wieder am kalten Steinboden im Vorraum der Absonderung zu mir, als zwei Hausarbeiter, welche das Mittagessen verteilten, mir erste Hilfe leisteten und ich Schritte hörte.

Es waren die einer katholischen Ordensschwester mit Flügelhaube.

Ich versuchte weiter den Bewusstlosen zu spielen. Dies gelang mir aber nur solange, bis mir diese Schwester ein Augenlid hochschob.

Automatisch schnellte das zweite ebenfal s hoch und die Schwester schrie auf. Dann tätschelte sie aber meine Wange und meinte: „Na, du dummer Junge, jetzt haben wir dich wieder zurück gebracht. Ab in die Krankenstation mit ihm!“