Systemische Lerntherapie

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Systemische Lerntherapie
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Mike Lehmann

Jens Eitmann

Systemische Lerntherapie

Ein integrativer, beziehungs- und ressourcenorientierter Ansatz

Zweite, aktualisierte Aufl age, 2021


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

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Karsten Trebesch (Berlin)

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Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite, aktualisierte Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0412-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8346-4 (ePUB)

© 2014, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Inhalt

Vorbemerkungen

1Einführung

1.1Lerntherapie

1.1.1Was ist Lerntherapie?

1.1.2Warum Lerntherapie systemisch?

1.1.3Besonderheiten des Konzeptes

1.1.4An wen richtet sich die systemische Lerntherapie? (Indikationen)

1.2Haltung und Menschenbild

1.2.1Die Arbeit mit Kindern

1.2.2Empathie und therapeutische Arbeit

1.2.3Therapeutisches Selbstverständnis

1.3Gesellschaftlicher Kontext

1.3.1Historische und aktuelle Entwicklungen

1.3.2Anwendungsfelder der Lerntherapie

1.4Vorstellung der Fallbeispiele

2Theoretischer Hintergrund

2.1Neurobiologie und die Folgen

2.1.1Genetik und zwischenmenschliche Beziehungen

2.1.2Spiegelneurone, Spiegelung und Entwicklung

2.1.3Reaktion auf Stress

2.1.4Wie lernt das Gehirn?

2.1.5Bedeutung für die Praxis

2.2Entwicklungspsychologische Aspekte

2.2.1Die Entwicklungsaufgaben nach Robert J. Havighurst

2.2.2Die kognitive Entwicklung nach Jean Piaget

2.2.3Die psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Erik H. Erikson

2.2.4Bindung

2.3Die Kind-Umwelt-Beziehung

2.3.1Annahmen über Aktivität und Passivität von Mensch und Umwelt

2.3.2Der kulturhistorische Ansatz nach Vygotsky

2.3.3Leben in ökologischen Systemen

2.4Fallbeispiele (Anamnese)

3Zentrale Aspekte der systemischen Lerntherapie

3.1Strukturelle Aspekte

3.1.1Familiäre Kontexte

3.1.2Schulische Kontexte

3.1.3Lösungen der Kinder

3.1.4Schlussfolgerungen

3.1.5Fallbeispiele

3.2Entstehung und Auflösung von Lernschwierigkeiten

3.2.1Das systemische Lern-Beziehungs-Modell

3.2.2Was dem Lernen entgegensteht

3.2.3Interventionsziele/Wiederherstellung der Lernbereitschaft

3.2.4Fallbeispiele

4Leitlinien der praktischen Arbeit

4.1Grundlagen

4.1.1Beziehungsorientierung

4.1.2Lernen durch Erfahrung

4.1.3Leitlinien

4.2Diagnostik und Ansatzpunkte für Interventionen

4.2.1Konventionelle multiaxiale Diagnostik und Tests

 

4.2.2Lerntherapeutische Systemdiagnostik

4.2.3Fallbeispiele

4.3Therapeut-Kind-Interaktion

4.3.1Die Pyramide der lerntherapeutischen Arbeit

4.3.2Ressourcenorientierte Interventionen

4.3.3Kognitiv orientierte Interventionen

4.3.4Fallbeispiele

4.4Therapeut-Eltern-Interaktion

4.4.1Bedürfnisse

4.4.2Zusammenarbeit

4.4.3Gestaltung

4.4.4Themen

4.4.5Fallbeispiele

4.5Therapeut-Umfeld-Interaktion

4.5.1Therapie eines Bildungssystems

4.5.2Gestaltung

4.5.3Themen

4.5.4Fallbeispiele

5Resümee

5.1Was ist aus den Kindern der Fallbeispiele geworden?

5.2Zusammenfassung und Abschluss

Anhang

A) Regelungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)

B) Regelungen im Psychotherapeutengesetz (PsychThG)

C) Multiaxiale Diagnostik

Literatur

Über die Autoren

Vorbemerkungen

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit dem Thema »Lerntherapie« beschäftigen. Ebenso existieren unterschiedliche Ausbildungen zum Lerntherapeuten oder zum Lernpädagogen.1 Das Feld ist im Wandel, gerade an den Schulen ist viel Bewegung durch die Erprobung neuer Konzepte, und in jüngerer Zeit gab es wichtige neue Erkenntnisse zum Thema »Lernen«. Eindeutige und gut funktionierende Standards haben sich noch nicht ausbilden können. Das Fehlen staatlicher Regulierung führt auf den ersten Blick zu einer Unübersichtlichkeit der verschiedenen lerntherapeutischen Arbeitsformen und auch der Ausbildungsgänge. Darin liegt aber auch die Chance für Lerntherapeuten, sich aus dem Angebot an Möglichkeiten diejenige Arbeitsweise bzw. Ausbildung zu wählen, die den eigenen Neigungen und Interessen am besten entspricht.

Mit dem vorliegenden Buch für eine Tätigkeit als Lerntherapeut oder Lernpädagoge greifen wir verschiedene bereits vorhandene praktische und therapeutische Ansätze und wissenschaftliche Erkenntnisse auf, integrieren sie und entwickeln sie wiederum ein Stück weiter. So werden wir die systemische Perspektive besonders herausstellen und deutlich machen, dass das Kind sich in ständiger Wechselwirkung mit seiner Umwelt befindet und zu welchen Konsequenzen dies führt. Handlungspraktisch werden wir zeigen, wie sich daraus konkrete Interventionsansätze ableiten lassen. Schließlich erfährt der integrative Aspekt gelungener lerntherapeutischer Arbeit Berücksichtigung durch den Einbezug von Entspannungs-, Bewegungs- und Kreativtechniken sowie der fachdidaktischen Begleitung.

70–80 % der Kinder gehen durch unser Schulsystem relativ problemlos durch. Solange es in der jetzt existierenden Form beibehalten wird, muss für die übrigen 20–30 % etwas getan werden. Auch gut ausgebildete Lerntherapeuten können das Schulsystem nicht revolutionieren. Aber sie können ein Stück zur Verbesserung beitragen, und zwar für diejenigen Kinder und Eltern, die das wirklich brauchen. Als Lerntherapeut ist man in einer anderen Position, als die Lehrer und die Referendare es sind, deren Auftrag es ist, für die ganze Klasse da zu sein. Ein Lerntherapeut arbeitet mit Einzelnen oder Kleingruppen und hat daher andere Möglichkeiten der Intervention, beispielsweise auch den Eltern gegenüber. Die Grundlage dafür möchten wir mit dem vorliegenden Lehrbuch vermitteln.

Wir begleiten seit vielen Jahren Kinder, Eltern und Lehrer lerntherapeutisch und bilden in der Lerntherapie aus. Dabei wurde das Konzept aufgrund der Erfahrungen in der Praxis sowie auch von Ergebnissen der Forschung ständig weiterentwickelt. Als Ziel einer Lerntherapie schlagen wir vor, die Eltern gewissermaßen zu »Sachverständigen« für ihre Kinder auszubilden. Dies ist nicht so technisch gemeint, wie es zunächst klingt. Der Umgang mit Kindern sollte von Herzen kommen, und in aller Regel tut er das auch. Dort jedoch, wo sich dennoch Probleme zeigen, möchten wir Wissen und alternative Handlungsoptionen anbieten, um den Betroffenen zu helfen, das, was vom Herzen kommt und gut gemeint ist, besser in äußere Handlungen umsetzen zu können. Daher findet nach unserem Konzept sowohl in diesem Buch als auch in der lerntherapeutischen Praxis immer auch Wissensvermittlung statt. Im vorliegenden Buch ist das vor allem der Theorieteil, in dem wir Konzepte vorstellen, die sich für die Arbeit als nützlich herausgestellt haben. Theoretische Ansätze, die nach unserer Erfahrung nicht nützlich sind, stellen wir nicht dar. Natürlich handelt es sich dabei um eine subjektive Auswahl, für andere Lerntherapeuten können andere theoretische Ausgangspunkte nützlich sein.

Ebenso kann es in der lerntherapeutischen Praxis ein Ziel sein, den Eltern Wissen zu vermitteln. Wer nur eine einzige Handlungsstrategie für eine bestimmte Situation kennt, dem kann man nicht vorwerfen, dass er keine bessere verwendet. Also müssen auch andere Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Je mehr man über seine Kinder weiß, zum Beispiel auch an entwicklungspsychologischen Grundlagen, desto besser kann man auf sie eingehen und verstehen, was geschieht. Denn zwar weiß man nur, was man sieht, aber man sieht auch nur, was man weiß (frei nach Goethe).

Neben der Darstellung des unseres Erachtens relevanten Faktenwissens wollen wir aber auch aufzeigen, wie es gelingen kann, den Kindern und Eltern ein nützlicher Begleiter zu sein auf ihrem Weg des Wachstums. Auch wenn den Eltern und Kindern im konkreten Fall funktionale Handlungsmöglichkeiten zu fehlen scheinen, so sind wir doch davon überzeugt, dass alle Menschen die notwendigen Voraussetzungen besitzen, sie für sich zugänglich zu machen.

Unter der integrativen Lerntherapie verstehen wir die Anwendung therapeutischer Interventionsformen aus unterschiedlichen Therapierichtungen unter Einbezug einerseits von Praxiserfahrungen und andererseits von Forschungsergebnissen auf die beteiligten Personen im Umkreis eines Lernproblems, also auf die Kinder, die Eltern sowie das übrige Umfeld (Lehrer, Verwandte, andere Therapeuten usw.). Unsere lerntherapeutische Arbeit ist durch eine systemische Haltung geprägt. Sie ist sowohl ganzheitlich als auch individualisiert. Damit ist sie integrativ und geht gleichzeitig noch ein Stück weiter, indem sie in großem Maße die Umwelt einschließt und gestaltet. In der systemischen Lerntherapie tun wir ebendieses, und zwar konsequent, mit einem systemischen Verständnis der ablaufenden Prozesse und mittels der Arbeitsweise, wie sie sich in der systemischen Therapie bewährt hat. So sehen wir die systemische Lerntherapie als Fortschreibung der Entwicklung hin zu einem immer ganzheitlicheren Verständnis kindlicher Lernschwierigkeiten.

1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir hier und im Folgenden auf die explizite Nennung beider Geschlechter.

1Einführung

Mit diesem Buch möchten wir Ausgangspunkte und Grundlagen einer Lerntherapie darstellen, die systemisch, ökopsychologisch und beziehungsorientiert ausgerichtet und damit in einem umfassenden Sinne integrativ ist. Im einführenden 1. Kapitel wird es um unser Verständnis von Lerntherapie und die von uns vorgeschlagene Haltung bezüglich der Arbeit mit Menschen sowie um Aspekte des gesellschaftlichen Rahmens gehen. Im 2. Kapitel stellen wir die theoretische Basis dar, von der wir ausgehen: Erkenntnisse aus der Neurobiologie, der Entwicklungspsychologie und der Ökopsychologie. Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit den Strukturen, besonders den familiären, in denen das Kind steht, und mit der Frage, wie Lernstörungen entstehen und welche Möglichkeiten es gibt, sie wieder aufzulösen. Das 4. Kapitel behandelt die praktische lerntherapeutische Arbeit: welche Bedeutung der Beziehungsgestaltung zukommt, welche Form der Diagnostik sinnvoll ist und wie der Lerntherapeut konkret mit dem Kind, den Eltern und dem weiteren Umfeld arbeiten kann. Das 5. Kapitel zieht ein Resümee.

Beginnend am Ende der Einführung, wird immer wieder auf zwei Fallbeispiele Bezug genommen, die die Darstellungen in anschaulicher Weise auf die Praxis übertragen. Im Anhang schließlich finden sich Ausführungen zu speziellen Themen, die nicht unmittelbar für die lerntherapeutische Arbeit wichtig, möglicherweise aber für manche Leser interessant sind; dies sind rechtliche Aspekte sowie die multiaxiale Diagnostik.

Eine zentrale Aufgabe des Lerntherapeuten wird immer sein zu erkennen, was beim jeweiligen Kind als Schwierigkeiten wahrgenommen wird und was dementsprechend individuell zu tun ist. Für Lerntherapeuten ist es wichtig, ihr inneres Gespür zu entwickeln, um die individuellen Aspekte in der Situation des betroffenen Kindes wahrnehmen zu können. Das heißt zu verstehen, was bei dem Kind individuell in seinem Kontext geschieht, was nicht gut läuft, und auch wahrzunehmen, welche ersten Ideen für den Therapieplan kommen. Es wird für die praktische Arbeit eine Angebotspalette eröffnet, aus der passende Mittel ausgewählt werden können. Diese Palette aus ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, mit dem Kind und den Eltern zu arbeiten, wird im Verlaufe des Buches erweitert. Auch anschließend wird sie im Laufe der Jahre durch die praktische Tätigkeit und die Erfahrungen in der lerntherapeutischen Arbeit immer weiter angereichert.

1.1Lerntherapie
1.1.1Was ist Lerntherapie?

Ziel der Lerntherapie ist es, die Bedingungen so zu verändern, dass das eigentliche individuelle Lern- und Leistungspotenzial des Kindes (wieder) zur Entfaltung kommen kann. Lerntherapie zielt nicht darauf ab, das Kind auf ein Leistungsniveau zu bringen, das es von sich aus unter »normalen« im Sinne von optimalen (Umwelt-)Bedingungen nicht erreichen könnte. Es geht vielmehr darum, für das Kind solche Bedingungen zu schaffen, dass es sein in ihm angelegtes Potenzial verwirklichen kann. Wenn Eltern mit ihrem Kind in der Lerntherapie vorstellig werden, ist die Situation typischerweise so, dass das Kind hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist, das heißt, es leistet bzw. kann weniger, als es könnte, wenn es nicht behindert worden wäre. Aufgabe des Lerntherapeuten ist daher, die nicht entwickelten Fähigkeiten und Ressourcen, die das Kind – wie jeder Mensch – in sich trägt, zu entdecken und ihre Entfaltung zu ermöglichen. Dies geschieht einerseits durch die Veränderung der Rahmenbedingungen, in denen das Kind lebt, und andererseits durch Stärkung der Persönlichkeit des Kindes. Dazu gehören wesentlich Wertschätzung, Akzeptanz, Ermöglichung positiver Erfahrungen und die Vermittlung konkreter Methoden und Techniken. Die Abbildung 1 veranschaulicht den Zusammenhang.

 

Abb. 1: Ziel der Lerntherapie

Die Ziffern 1 und 2 bezeichnen zwei Kinder, die kontinuierlich ein verschiedenes Leistungsniveau aufweisen. Ab dem Zeitpunkt Z steigt das Leistungsvermögen von Kind 2 weniger stark an, als es der Fall sein könnte, wenn nicht ein bestimmtes Ereignis (beispielsweise eine Überforderungssituation in der Schule oder im häuslichen Umfeld) zu wirken begonnen hätte und das Kind fortan hemmend beeinflussen würde. Wären alle Bedingungen ideal gewesen, so wäre die Linie des Leistungsvermögens gleichmäßig weiter angestiegen, wie bei Kind 1 der Fall. Kind 2 entfaltet also nicht sein volles Potenzial. Aufgabe der Lerntherapie ist es, die Distanz, die der rechte Pfeil symbolisiert, so weit es geht zu verkleinern. Sie kann jedoch nicht die Unterschiede zwischen den beiden Kindern verringern, indem Kind 2 auf das Leistungsniveau von Kind 1 gebracht wird (linker Pfeil).

Damit eine Lerntherapie angemessen wirken kann, sollte sie integrativ, systemisch und ganzheitlich sein.

Unsere Lerntherapie ist integrativ, weil verschiedene Methoden und Arbeitsformen dazugehören, die ineinander integriert werden und so zu einem umfassenderen Ansatz in der Arbeit führen. Dies sind zum Beispiel Bewegungsübungen, Entspannungsübungen, Stärkung besonders der schöpferischen Möglichkeiten und Ressourcen, Gespräche mit den Eltern, Lernspiele, Brain Gym, Kreativitätstechniken, Einüben sozialer Fertigkeiten, die Arbeit am Symptom und anderes mehr.

Unsere Lerntherapie ist systemisch, weil das Kind, das die Schwierigkeiten zeigt, immer in einem sozialen System steht. Diesem Beziehungsgefüge, bestehend aus Eltern, Erziehern, Lehrern, Verwandten, Mitschülern, Freunden usw. muss die lerntherapeutische Arbeit Rechnung tragen. Das menschliche Miteinander ist essenziell für jeden Menschen, von Geburt an und das ganze Leben lang. Einerseits gestalten wir unsere Beziehungen, andererseits wirken die Menschen, mit denen wir zu tun haben, auf uns. In schwierigen Situationen sollte daher das soziale Umfeld einbezogen werden. Bei lernschwachen Schülern ist es zum Beispiel oft wichtig, Verständnis für die Situation des jeweiligen Kindes bei den Eltern zu wecken und gemeinsam zu erarbeiten, wie sie ihrem Kind am besten helfen können.

Unsere Lerntherapie ist ganzheitlich, weil das Kind in seiner Ganzheit als Mensch gesehen wird, also mit seinen geistigen Fähigkeiten, seinen seelischen Eigenschaften und Bedürfnissen und seinen körperlichen Gegebenheiten. Entsprechend muss eine Lerntherapie auf allen Ebenen ansetzen, indem sie Geist, Seele und Körper gleichermaßen anspricht. Der integrative Mix der lerntherapeutischen Arbeitsmethoden macht dies möglich.

Mit diesem Lehrbuch fokussieren wir auf die lerntherapeutische Arbeit mit Kindern im Alter zwischen sechs und etwa zwölf Jahren. Für andere Altersstufen, also Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene, wäre die Konzeption anders; es wären dann andere Lerntheorien Grundlage, und die Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1948; Erikson 1973; s. auch Abschn. 2.2) bzw. der kognitive Entwicklungsstand (Piaget 1972, 1974, 1976) sähen anders aus. Die grundlegenden Prinzipien gelten nach unseren Erfahrungen aber auch für die Arbeit mit Menschen anderer Altersstufen.

Unser Konzept bezieht sich somit auf den Grundschulbereich. Da ältere Schüler ab etwa der Pubertät mit einigen wichtigen der hier beschriebenen lerntherapeutischen Strategien nicht erreicht werden, ist dann möglicherweise eher eine andere Form der Begleitung wie zum Beispiel die Psychotherapie angezeigt. Dementsprechend findet dort auch kaum oder keine Elternarbeit statt, die bei den jüngeren Kindern eine große Rolle spielt. Für Jugendliche besteht eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben zum Beispiel darin, sich von ihren Eltern zu lösen.

Lerntherapie ist keine Nachhilfe. In der Nachhilfe geht es um die Wiederholung eines bestimmten Schulstoffs mit dem Ziel, dass das betroffene Kind ihn besser beherrscht, wobei Thema ausschließlich der Stoff und nicht die Persönlichkeit und Lebenssituation des Kindes ist. Nachhilfe ist angemessen, wenn das Kind keine besonderen weiteren Schwierigkeiten im Leben hat und im Prinzip gesund ist, sich wohlfühlt, in seiner Familie gut aufgehoben ist, keinen Widerstand gegen die Schule oder das Lernen hat und lediglich in einem oder wenigen einzelnen Fächern ein konkreter Übungs- oder Erklärungsbedarf besteht.