Doch kein Treibholz im Fluss des Lebens

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Doch kein Treibholz im Fluss des Lebens
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Jasmina Marks

Doch kein Treibholz im Fluss des Lebens

Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Wenn die See ein Wunder offenbart

Wenn alles zu viel wird

Wenn man irgendwo anfangen muss

Wenn der Schein trügt

Wenn man mal genauer hinsieht

Wenn man seinem Instinkt folgt

Wenn alles endlich gut wird

Autoreninfo

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Impressum neobooks

Widmung

Meine Liebe wird Dich beschützen

und stärken,

sich wie Flügel um Dich legen,

wenn Du traurig bist …

Sie wird bei Dir sein,

solange ich atme …

Sie wird Dich lehren,

an Dich selbst zu glauben,

sodass Du leben kannst,

frei und glücklich -

genauso, wie Du es verdienst!

Wenn die See ein Wunder offenbart

Der Morgen begann anzubrechen und Grimos stand, einen Becher dampfenden Kaffees in seiner Hand haltend, am Bug des Kutters. Noch waren einige Sterne am Himmel zu erkennen und wie eigentlich jedes Mal zu dieser Stunde, starrte er vollkommen in sich versunken zum Horizont.

Leise klatschten die Wellen an die Planken und gemächlich schaukelnd lag er vor Anker in dieser nur wenig aufgewühlten See. Bald würde er anfangen, die Netze aus dem kalten Wasser zu ziehen und anschließend die Ausbeute der vergangenen Nacht an Deck sortieren. Würde den Motor starten und zurückkehren an Land, wo er glaubte, nicht wirklich hinzugehören. Seine Welt war der weite Ozean, das offene Meer, wo es keinerlei Grenzen gab. Wo er für sich sein konnte und sich vor niemandem zu fürchten brauchte. Das Leben war schon sonderbar, irgendwie zumindest. Aber hier draußen spielte all das keine Rolle – hier war er für sich …

Doch dann tauchte neben seinem Kutter etwas aus dem Wasser auf. Von Weitem hatte er es für ein Stück Treibholz gehalten und nicht darauf geachtet. Dass es nun immer näher kam und das geräuschvoll, machte ihn dann doch stutzig. Grimos hob die Hand und blinzelte der aufgehenden Sonne entgegen, um erkennen zu können, was das wohl sein mochte.

Es plätscherte und eine mächtige Schwanzflosse hob sich aus dem kräuselnden Weiß. Schaum schlagend verschwand sie wieder. Da war aber anscheinend noch ein weiterer Körper, der auftauchte. Einmal lag etwas unbeweglich an der Wasseroberfläche, schwer auszumachen, was das wohl sein könnte, weil es überhaupt nicht aussah wie ein Fisch … oder etwas in der Richtung. Glucksend verschwand es dann wieder und ein Stückchen weiter, durchbrach ein deutlich grauglänzender Rücken das aufgewühlte Nass. Prustend wurden mehrere Atemstöße in die Atmosphäre gehaucht und gleich darauf war der Leib des Tieres wieder außer Sicht. Unmittelbar im Anschluss schob sich etwas mühsam schnaubendes vor seine Augen. Beinahe wirkte es wie ein Kampf zwischen zwei größeren Fischen.

Grimos holte sein Fernglas und erschrak beinahe, als er erkannte, dass eines der Tiere, vermutlich Delfine, fest in einem Netz verstrickt zu sein schien. Der andere jedoch, unermüdlich, versuchte seinen Freund oben zu halten, damit dieser atmen konnte. Was für ein Jammer spielte sich da vor seinen Augen ab! Der Leib des einen war vollkommen verfangen, was ihn daran hinderte, selbst schwimmen zu können. Der Zweite aber musste auch nach Luft schnappen und immer dann, ging das verwundete Tier wieder unter.

Kurz entschlossen ließ Grimos das Beiboot ab und dachte nicht weiter darüber nach, ob es eventuell aufgrund der Notlage der beiden Tiere, gefährlich sein könnte, sich ihnen zu nähern. Der Wellengang machte die Sache nicht leichter, aber es war seine Pflicht, zu helfen – es zumindest zu versuchen. Die Paddel einholend, als er die beiden fast erreicht hatte, machte er nicht langes Federlesen und griff beherzt nach einem Teil des Netzes, zog es zu sich heran und befestigte es. Ganz langsam kehrte er mit dem gewaltigen Tier im Schlepptau zum Fischerboot zurück. Es lag ihm auf den Lippen, dem anderen etwas Beruhigendes zuzurufen, doch erstaunlicherweise war dieser ihm in geringem Abstand gefolgt. Nachdem er sich zur Hälfte aus dem Wasser gehoben hatte, ihn seitlich begutachtete, war er schnatternd bis zum Kutter vorausgeschwommen und wieder zu ihm zurückgekehrt.

Sicher darüber, dass die Tiere ihn nicht angreifen würden, kletterte er hinauf, um den kleinen Kran mit seiner Schlaufe hinabzulassen. Erneut musste er zum Beiboot absteigen, um die Schlinge behutsam um den mächtigen Leib des Tümmlers schlagen zu können. Endlich wieder an Bord, betätigte er den Kippschalter. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Anspannung hin zu blankem Entsetzen. Das riesige Netz hatte sich so dramatisch um das komplette Tier gewickelt, das nun, wo es tropfend aus dem Wasser ragte, klar war, er wäre gestorben – ohne Zweifel. Meterlang hing das Geflecht aus drahtigen Seilen, Seetang mit sich führend, über der Bordwand runter. Fast schon wütend ob dieses Anblicks, schnitt Grimos den überstehenden Teil zügig ab. Er traute sich nicht, ihn einfach in der Tiefe zu versenken aus Angst, dem das Boot umkreisenden Delfin könne etwas zustoßen. Und wenn nicht ihm, dann würde womöglich ein anderer Meeresbewohner zu Schaden kommen.

Doch die kniffligste Aufgabe lag noch vor ihm. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, aber Grimos war so vertieft in seine Arbeit, dass er das überhaupt nicht wahrnahm. Vergessen war seine Fracht und auch die Bedingung, dass er bei Tagesanbruch im Hafen eingelaufen zu sein hatte. Voll konzentriert auf das wimmernde Häufchen Elend auf den Planken, ging er in die Hocke und schnitt Stück für Stück das hoffnungslos verknotete Fadengewusel entzwei. Es sah wirklich schlimm aus. Jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt, lag das total erschöpfte Tier an Deck und atmete schwer. Sorgfältig löste der Fischer die in das Fleisch einschneidenden Gewebestränge. Immer wieder unterbrach er, um Wasser über den mächtigen Leib zu gießen. Er fürchtete, die Hitze könne ihn zu allem Übel auch noch austrocknen. Intensiv war er damit beschäftigt, das Leben dieses von ihm zutiefst verehrten Geschöpfes zu retten. Einzig erleichternd nahm er zur Kenntnis, dass es nicht eines seiner eigenen Netze war, das für dieses Kümmernis die Verantwortung trug. Bei dem Gedanken sah Grimos auf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

Seine Netze – ach ja! Entgeistert blickte er zu den Verankerungen. Längst hätte er sie aufholen müssen. Naja gut, das konnte er schließlich immer noch tun. Das meiste war geschafft und der Körper fast befreit. Nur noch wenige Handgriffe und es war erledigt. Mit knackenden Gliedern erhob sich der Fischer und schaute zum ersten Mal seit Langem bewusst um sich. Dem Stand der Sonne nach müsste es früher Nachmittag sein und wie als wäre das die Bestätigung, knurrte laut vernehmlich sein Magen.

Doch zuerst schaute er nach, wie groß sein Fang war. Es hätte getrost mehr sein dürfen, aber was sollte es – für heute war es ohnehin gleichgültig. Das, wovon er glaubte, die Delfine würden es fressen, behielt er an Bord und den Rest der wild und aufgeregt schlagenden Fische ließ er wieder frei – man lebt nur einmal, dachte er bei sich. Im Schneidersitz saß er hernach vor dem sichtlich geschwächten Tier und hielt einen Fisch direkt vor dessen Maul.

„Du hast doch bestimmt Hunger … oder nicht? Du musst fressen, damit du wieder fit wirst … na komm schon!“ redete er ihm beruhigend zu. Den Ersten nahm dieser skeptisch, den Zweiten zutraulicher und dann auf einmal riss er sein Maul weit auf und fraß gierig eine riesige Menge des gefangenen frischen Fisches.

„Wer weiß, wie lange du schon nichts mehr gekriegt hast, mein Freund!“ Grimos grinste breit vor sich hin und fand sichtlich Vergnügen daran, dabei zuzusehen, wie das imposante Tier die ihm dargebotene Mahlzeit gierig verschlang, „so ist es gut!“

Abschließend übergoss er ihn noch mit reichlich Wasser, das sich in dem großen Trog, in den er den Delfin nun gehievt hatte, ansammeln konnte. Es war wichtig, dass er nicht unentwegt auf dem nackten Holzboden lag, erdrückt von seinem eigenen Gewicht. Das bisschen Wasser, das ihn nun umgab, erleichterte seine Atmung erheblich.

Und weil es soviel Spaß gemacht hatte, das Tier zu füttern, warf Grimos im hohen Bogen dem unten wartenden Freund seines Patienten ebenfalls etliche Fische zu, die auch dieser freudig und irgendwie dankbar entgegennahm. „Es geht ihm gut“, rief er ihm zu, „er wird es schaffen!“ Wie zur Bestätigung seiner Worte erklang ein ermutigendes Fiepsen hinter ihm und wurde von unten freudig plappernd beantwortet. Sich aufrichtend und mit der Schwanzflosse rückwärts bewegend, stob er über die Strömung dahin. Wenn das nicht einem Freudentanz gleichkam, wusste es Grimos auch nicht mehr. Es war so schön, das erleben zu dürfen, dass er lachend dastand und unterschwellig sich über sein Leben Gedanken zu machen begann. Ganz einfach, weil er soviel innerlich wärmende Gefühle schon seit einer Ewigkeit nicht mehr empfunden hatte!

 

Sein Funkgerät surrte aufdringlich und genervt kappte er den Strom. Unten in der Kombüse lag noch ein in Papier gewickeltes Brot, das er sich nun holte. Der Kaffee in der Kanne war nur noch lauwarm, aber das war ihm egal. Mit einer reinigenden Salbe für offene Wunden in der Hand kehrte er wieder nach oben zurück. Die tiefen Schnitte schmierte er vorsorglich dick ein, weil er irgendwie hoffte, was menschliche Wunden heilte, könnte dem Tier vielleicht auch von Nutzen sein. Immerhin war es ebenfalls ein Säugetier und Fleischwunde war schließlich Fleischwunde, oder nicht?

Das Rot der untergehenden Sonne verfärbte allmählich den Himmel – unübersehbar. Auch wenn er wusste, dass er längst im Hafen hätte eingelaufen sein müssen, so drängte ihn nichts, dem nachzukommen. Als wenn ihn auch nur irgendjemand vermissen, geschweige denn suchen würde – tse! Diese Menschen, die so anders waren als diese beiden fast schon heiligen Geschöpfe unmittelbar vor seinen Augen. Die Anmut als auch die Hingabe, mit der sie füreinander einstanden, war etwas so Kostbares, das Grimos sich darüber bewusst wurde, wie einsam er war.

Seine Eltern waren schon lange tot und ansonsten gab es auch niemanden, dem er sich hätte zugehörig fühlen können. Oder vielleicht … ja, ganz eventuell gäbe es da schon eine Person, die er wirklich gerne hatte – aber, was soll es. Schnell verwischte er den Gedanken an Anjolie – fort damit, sie zeigte auch nicht unbedingt ein anderes Verhalten ihm gegenüber als all die anderen.

Nachdenklich stand er da und schaute auf das nicht enden wollende Wasser. Wie es sich leicht hob und wieder senkte und das tiefdunkle Blau, nun von einem rötlichen Schimmer durchtränkt, ihn und seinen Kutter sachte hin und herschaukelte.

Normalerweise war die Sache ganz einfach. Täglich durchlief er dasselbe Prozedere. Nur widerwillig trat er nach seinen nächtlichen Touren hinter das Ruder und steuerte das kleine Boot zum Hafen. Der Großteil der anderen Fischer war zumeist schon vor ihm zurückgekehrt, was daran lag, dass Grimos es sich einfach nicht verkneifen konnte, die Gunst der Stunde, die für ihn absolute Freiheit bedeutete, bis zum letzten Moment auszunutzen. Das erweckte leider bei allen anderen stets den Eindruck, als sei er verträumt und auch ein bisschen was langsam unterwegs. So, als hinke er hinter dem Rest der Welt eindeutig mindestens einen Schritt hinterher – nervig halt. Hinzukam seine unbeirrbare Sturheit, um nicht zu sagen, leicht eingeschränkt anmutende Fähigkeit zu denken, weil er teils stoisch vor sich hinsummte, wenn man mit ihm etwas zu klären hatte. Er währenddessen, sich absolut nicht aus der Fassung bringen lassend, mit was auch immer herumhantierte und dadurch den Eindruck erweckte, geistig abwesend zu sein und sowieso nicht wahrzunehmen, was man ihm doch eindringlich begreiflich zu machen versuchte. Das wuschelige Haar unter der tief ins Gesicht gezogenen Mütze verborgen, stand er entrückt da. Den Blick stets gesenkt, die Pfeife, ob an oder aus, mit den Mundwinkeln verwachsen. Ein rundlicher kleiner Bauch unter einem dicken Seemannspullover, mit oder ohne Kragen, versteckt und seine stets dunkelblauen Cordhosen, verliehen ihm eine eigenwillige als auch abgekehrte Erscheinung. Derbe Stiefel rundeten sein Aussehen ab, und weil er selten den Kopf hob, fiel der penibel gepflegte Bart nicht weiter auf. Alles entsprach einem Wesen, das sich von allen anderen distanziert sah, zu dem ein Vordringen nicht möglich sein würde, sein konnte!

Damit brachte er in regelmäßigen Abständen alle auf die Palme, die es mit ihm zu tun hatten. Doch insgeheim verfolgte er seine eigene Strategie – nämlich die, sich einen Panzer anzuschaffen und so zu tun, als pralle alles das, was die anderen als „Leben“ bezeichneten, ungebremst von ihm ab. Gerade die leise vor sich klingende Melodie war so etwas wie ein Hilfsmittel, das die entwürdigenden Worte und den mitunter wirklich boshaften Tonfall ihm gegenüber einfach hinfort spülen konnte. Was die anderen dachten, und dass sie ihn nur allzu gerne als minderbemittelt abstempelten, beeindruckte ihn ohnehin nicht. Sollten sie denken, was sie wollten – fertig aus!

Es war ja doch jeden Tag ein sich unermüdlich wiederholender Ablauf. Während die anderen längst angefangen hatten, die sortierten Kisten zu verladen, fuhr er an ihnen vorbei bis hin zu seinem Anleger. Noch bevor er die Leinen am Ufer befestigen konnte, kam schon jener von ihm so gefürchtete Händler und fuhr ihn harsch an. Mehr als ein untergebenes Nicken konnte Grimos nicht erwidern, während er möglichst eilig seinen Fang von Bord zu laden begann. Wenn dieses Theater dann ein seliges Ende gefunden hatte, weil Maranius Schlipp, der sich seiner Monopolstellung durchaus bewusste Geschäftsmann, fertig war mit Toben, vertäute Grimos seinen Kutter und schlurfte alles andere ausblendend hin zu seinem Haus. Sobald die Tür ins Schloss fiel, war auch die Welt da draußen weit weg und damit war gut.

Er lebte sein Leben, beklagte sich niemals und gab sich mit dem zufrieden, was er hatte. Das Dasein außerhalb des seinen gab es zwar, aber er hatte sich längst davor verschlossen. Vielleicht war das Leben nicht allen gleich wohl gesonnen, sondern unterschied einfach entsprechend der Wertigkeit eines Menschen, wie gut es ihm ging oder eben auch nicht? Grimos hatte „sein“ Meer und auch wenn es nicht wirkliches Glück, was auch immer das sein sollte, ersetzen konnte, so schenkte ihm die endlose See dennoch wesentlich mehr, als ein Mensch es hätte tun können … oder wollen!

So stand er nun da und betrachtete das liebliche Schauspiel, das sich hier zutrug. Während der eine Delfin immer wieder nach dem anderen rief, klang die Erwiderung noch deutlich geschwächt, aber sie kam – immerhin! Grimos nahm seine Mütze vom Kopf und kratzte sich an der Stirn.

„Keine Sorge“, fügte er einen Moment später hinzu, „alles wird gut, ganz sicher!“ Er war innerlich ergriffen von dem Zusammenhalt beider Geschöpfe, die offensichtlich sehr aneinanderzuhängen schienen. Ihr Gesang klang so berührend, wie sie fiepten und flötende Klänge von sich gaben, glucksend, schnatternd – aber zugleich auch so sanft und harmonisch … Worüber sie sich wohl austauschen mochten, fragte er sich. Wie war so etwas nur möglich?

Schon sonderbar - warum gab es so was nicht unter den Menschen? Vielleicht war es der Verstand, der so vieles zerstörte - verhinderte, dass Gefühle als solches, Beachtung finden konnten. Womöglich hatte in der Welt der herrschenden Rasse der Menschen schon lange niemand mehr eine Ahnung von dem, worauf es doch eigentlich ankam - oder ankommen sollte!

Aller Aussichtslosigkeit zum Trotz hatte der eine Delfin verzweifelt versucht, dem anderen das Leben zu retten und einfach nicht aufgegeben. Wie wundervoll musste es sein, wenn einer für einen anderen so weit gehen würde … Gab es so etwas auch unter den Individuen der, wie könnte man sie betiteln … vielleicht zu bezeichnen als … „intelligente und in zivilisierten Bahnen sortierten Lebewesen“? Grimos zweifelte daran …

Obwohl man ja nicht wirklich wusste, ob diese so besonderen Tiere nicht vielleicht doch wesentlich klüger waren, als allgemeinhin bekannt war. Aber wahrscheinlich war ihre Art zu denken oder auch wie sie ihre Gefühle zeigten, nicht mit dem Verhalten des Menschen vergleichbar! Naja – so ganz von der Hand weisen ließ sich nicht, wie dicht beieinander das zu liegen schien. Sorge, Hilfsbereitschaft … Vertrautheit und Liebe … eigentlich alles Regungen, die Grimos auch kannte … nein, falsch, hätte kennen können, wäre er so wie die anderen. Auch wieder falsch, vielleicht kannte er sie und konnte darüber nachdenken, eben weil er nicht war wie alle anderen … oder so ähnlich!

Die Menschen, mit denen er es zu tun hatte, waren anders, ohne jeden Zweifel komplett anders. Sie waren berechnend, wenig herzlich und handelten gewinnorientiert. Allein dieses Wort schon: „Gewinnorientiert“ - würgte ihn im Innern! Es klang so trocken, so bitter und hatte einen faden Beigeschmack … nämlich den des „neutral und völlig entfernt von emotionalen Regungen sich konzentrierenden daten- als auch zahlenverwertenden Denkens“. Was wiederum verhinderte, dass man unmittelbar half, wenn man gebraucht wurde, sondern sich stattdessen mit zeitaufwendigem Abwägen, das Für und Wider Bedenken, aufhielt und erst dann zur Tat zu schreiten begann, wenn es sich als nützlich erwies und auch einen Vorteil versprach – genau!

Grimos fragte sich, ob ein solches Handeln nur allein auf die Gefühle zueinander rückführbar ist. Würde man das Gehirn komplett abschalten können und sich ausschließlich dem Herzen widmen, wäre es dann leichter? Wenn man so liebte, wie sich diese Zwei hier liebten, dann war es selbstverständlich, dass man einander half, sobald einer in Not war. Schmunzelnd stellte er fest, wie er selbst schließlich ohne weiter darüber nachzudenken eingeschritten war. Hervorgerufen durch das unsagbar tiefe Gefühl von Mitleid - er sofort erkannt hatte, dass diese beiden seine Hilfe brauchten … ein Leben erloschen wäre, ohne sein jede mögliche Gefahr ausblendendes Eingreifen … weil er gefolgt war, dem Ruf des Instinktes … der Stimme des Herzens …

Ein deutlich vernehmbarer Stolz wuchs in ihm und er stand, in seiner vollen Größe aufgerichtet an der Reling … in diesem Augenblick, als ihm klar wurde, wie sehr er sich von seinen Fischerkollegen unterschied. Die, die doch so weit über ihm stehend ihren Platz fest verankert glaubten … die, welche ohne mit der Wimper zu zucken die Harpune oder das Gewehr in Position und kurzerhand zu Ende gebracht haben würden, was unausweichlich schien – sich damit rühmend, ein Leiden gnädigerweise zu beenden und entsetzlicher Qual vorzubeugen …

Nein, Grimos war anders – und das war auch gut so! Nichtsdestotrotz musste er zugeben, als er auf die aufziehende Dämmerung schaute, dass er unglücklich war. Um nicht zu sagen, so richtig unzufrieden mit sich und seinem Dasein. Auch wenn er sonst nicht darüber nachgedacht hatte und das Leben nahm, wie es halt gekommen war – sich im Abseits wissend er dennoch einer inneren Auflehnung folgend, sich ein Verhalten angeeignet hatte, das die anderen von ihm fernhielt, dem wider besseren Wissens nicht entgegengewirkt hatte. Es halt über sich ergehen ließ, wie man ihn behandelte. Naja, wenn er ehrlich war, wusste er sich auch nicht anders zu helfen, sondern glaubte sich im erbarmungslosen Unterwerfen weitaus sicherer, als wenn er mühsam versuchen würde, gegen Windräder anzutreten, die ihm sowohl im Tempo als auch in der Stärke überlegen waren. Viel zu lange her, um die Ursprünge des Ganzen überblicken zu können. Seit er denken konnte, hatte er die Position des belanglosen Menschen, der halt am Rande der Gemeinschaft sein Dasein fristet, inne.

Zwischendurch wand er sich immer mal wieder dem verwundeten Tier zu, das dankbar leise Geräusche von sich gab. Es beruhigte Grimos als auch den Delfin, wenn er ihn streichelte. Die beinahe wachsähnliche Haut, aber wesentlich glatter und auch zarter … nicht zu fest, sonst würde es quietschen … fast schon liebevoll berührte er daher das eigentlich wilde, ungezähmte Tier … in das schleichend, aber sichtbar, die Lebensgeister zurückkehrten … welche auch ihn erreichten … mehr und mehr …

War es tatsächlich eine Frage des Denkvermögens? Oder auch eine, wie man geprägt worden ist, was man beigebracht bekam als Kind … wie die Eltern ihn gemeistert hatten, den Kampf des Lebens? An und für sich könnte da ja schon etwas dran sein, dachte er.

Sein Vater war ein Fischer und sein Großvater ist auch auf dem Meer Zuhause gewesen und somit gab es niemals eine Diskussion darüber, ob er vielleicht etwas anderes wollen würde. Aber nein - das hätte er ohnehin nicht gewollt, es war eben Tradition und mit dieser war er auch sehr einverstanden. Wenigstens etwas, das ihn wirklich erfreuen konnte! Aber wie waren sie mit anderen umgegangen oder andersrum gefragt, wo hatten sie ihren Platz gehabt? Grimos musste zugeben, dass beide, seine Eltern als auch seine Großeltern Freunde, Bekannte und Anschluss hatten, regelmäßige Treffen mit anderen wahrnahmen und oftmals Besuch erhielten.

Was also war passiert? Dass sich eben dieses nicht fortgesetzt hatte?

Die Nacht war heraufgezogen und das sternenklare Firmament entlockte ihm seine innersten Gefühle. Der andere Tümmler, der nach wie vor seinen Kutter umkreist hatte, lag halb auf der Seite und ließ sich treiben. Ob Delfine eigentlich schlafen? Es hatte zumindest den Anschein, als würde er ruhen. Sein Atemloch gekonnt verschließend, wenn eine Welle herankam und ihn, vom Boot zurückgeworfen, überspülte, lag er entspannt da. Anschließend öffnete er es wieder, ohne überhaupt auf die Weite des Meeres zu schauen. Ein unbeschreiblich gut funktionierendes Feingefühl offenbarte sich, das blind seine Dienste verrichtete, ohne hinsehen zu müssen. Er es nicht einmal nötig hatte, im Auge zu behalten, was um ihn herum geschah. Dem Element Wasser in vollkommener Perfektion angepasst – meistenteils. Im Gegensatz zu dem anderen, dessen Augen leicht getrübt schienen, er womöglich der Gefahr des Netzes nicht rechtzeitig genug hat ausweichen können, weil er sie nicht erkannt hatte. Womöglich war aber auch der Schleier auf seiner Iris Ausdruck seiner Erschöpfung, der Entzündung seines Körpers oder die Folge der wer weiß wie lange durchlebten, panischen Not. Grimos wünschte es ihm, aus tiefster Seele, dass auch das wieder gesunden würde!

 

Während er im matten Licht dastand und sich in dieser Kulisse, die so besonders war, behaglich als auch willkommen fühlte, traute er sich, der Wahrheit über sein eigenes Leben ins Auge zu sehen … vielleicht aber war es gerade die Dunkelheit, die erhellt wurde von der Reflexion des sich spiegelnden Mondes auf der glänzenden, sich wiegenden Wasseroberfläche, die ihm das überhaupt ermöglichte … in unmittelbarer Nähe zu jenen frei lebenden, nicht an den Menschen gewöhnten und doch friedfertigen Geschöpfe … und es, beachtenswerter Weise, dennoch eine Verbindung zwischen ihnen gab … etwas, das funktionierte, ohne auch nur ansatzweise ein und dieselbe Sprache zu sprechen … man am Blick in die Augen … oder war es vielleicht so etwas wie das Wahrnehmen und Verstehen von Karma, der Ausstrahlung … Aura genannt … oder wie auch immer … auf jeden Fall etwas nicht Greifbares, in Worte zu Fassendes, das trotzdem alles an offensichtlichen Unterschieden oder Andersartigkeiten überwinden konnte … in einer ansonsten vom Geist beherrschten Welt, die sich selbst rühmen wollte anhand ihrer herausragenden Intelligenz … oder so … dieses alles hinfällig wurde, weil es eben keiner verstandesmäßig fundierten Grundlage bedurfte, sondern geschah, weil Empfindungen, das Anerkennen selbiger als auch deren Erwiderung weitaus wichtiger waren … im Vordergrund standen … Hier und Jetzt … und gerade deshalb … eingetaucht in den Zauber dieser Stunde … konnte er trotz der spürbaren Müdigkeit nicht schlafen. Bebend rasten die Gedanken durch seinen Kopf, weshalb sich der Gang hinunter in die Kajüte erübrigte.

Ließ sich die Trübsinnigkeit seines Daseins denn wirklich allein mit dem Schicksal begründen? Gab es denn ausschließlich Dinge, denen man sich anzupassen hatte? Könnten sich Probleme im Umgang mit anderen Menschen von selbst lösen? Wohl kaum!

Grimos bemerkte, wie sich allmählich seine bisherige Sicht zu verschieben begann. Natürlich, sein Gemüt mag die anderen stets dazu veranlasst haben, ihn als denjenigen, der er war, zu missachten. Vielleicht, so besann er sich, war es aber auch nicht wirklich schwer gewesen. Aber wie sah es bei den anderen aus, lebten die eigentlich wesentlich zufriedener, als Grimos es war?

Der Fischhändler Maranius Schlipp zum Beispiel war, seit Grimos ihn kannte, noch nie freundlich gewesen. Sah oder dachte man an ihn, so hatte man stets eine adrette und ausgesprochen elegant gekleidete Person vor sich, die zwar nicht durch ihre körperliche Größe als auch schmächtige Figur bestach, dafür aber umso mehr mit einem ausgeprägt vorhandenen Selbstbewusstsein alles andere verbal unterzuordnen verstand – jegliche Zweifel gnadenlos niederwalzend. Sein Blick und Gesichtsausdruck selten freundlich und noch nie hatte er ihn wirklich lächeln sehen. Ging das überhaupt? Ein sich freuender Maranius? – Nein, in diesem Augenblick kam Grimos diese Vorstellung sowas von weit hergeholt vor, dass er schmunzeln musste. Ein zufrieden dreinschauender Maranius war tatsächlich aus der Luft gegriffen. Aber genau das bedeutete im Umkehrschluss, dass jemand, mit dem ein finsterer Blick, der alles andere um ihn herum einzuschüchtern versuchte, verwachsen war, nicht ein lebenslustiges Dasein führen würde! Verheiratet war er nicht, also gab es niemanden um ihn herum, den er aufrichtig liebte. Wieder waren es die Gefühle, die eine Rolle spielten – auf eine Art. Sein außerhalb des Dorfes liegendes Anwesen zeugte von luxuriösem Ambiente und Grimos durchzuckte eine Ehrfurcht, wenn er allein an das mit Marmorstufen als auch Säulen ausgestattete Portal dachte. Etliche Bedienstete hielten den parkähnlichen Garten sowie die Villa in Schuss. Naja – Geld halt, schoss es Grimos durch den Kopf. Glücklich machte es diesen eigenartigen Mann zumindest nicht, soviel stand fest. Und wenn er weiter dachte, daran, was man über den Geschäftsmann munkelte, legte sich etwas Befremdendes über ihn. Wobei, das musste man schon zugeben, die Leute redeten immer gerne. Besonders jedoch über das, was sie neideten. So unterstellte man ihm, der auch als Kind hier aufgewachsen war, dass er in den Jahren, die er zum Studieren fortgewesen war, seinen Reichtum auf eher zweifelhafte Weise angesammelt haben sollte. Es war nicht schwer, ihm etwas illegal Anmutendes nachzusagen – sein Auftreten schien das förmlich unterstreichen zu wollen!

Aber hat das mit Respekt und Achtung zu tun? Grimos musste nicht lange überlegen. Sich mit dem Ruf von etwas Anrüchigem zu umgeben, um denen, mit denen man es zu tun hatte, den Wind aus den Segeln zu nehmen … damit sich niemand auflehnen würde … war keine Leistung, die eine ehrwürdige Anerkennung verdiente! Auch wenn die gültige Meinung über Maranius vermutlich nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen war, so hatte er doch nichts unternommen, um dem entgegenzuwirken, sondern eher noch seine Bemühungen darauf konzentriert, diese Ausstrahlung nachhaltig zu festigen. Ob das nun etwas damit zu tun hatte, einem Ansehen gerecht zu werden oder es überhaupt verdient zu haben, ließ Grimos mal dahingestellt sein …

Noch einmal liebkoste er das verletzte Tier, bevor er dann, völlig erschöpft und von der Kälte der Nacht durchgefroren, seine Koje aufsuchte. Für heute war es genug! Genug an Erkenntnissen, vor allem aber an geistiger Arbeit, die nicht nur aufbaute, sondern im Grunde genommen das Selbst erheblich strapazierte. Ganz einfach, weil es anstrengend war, den ungeschminkten Blick in das eigene Spiegelbild zu ertragen …

Die Aufregung des vergangenen Tages noch in den Knochen spürend, war der Fischer bei Sonnenaufgang an Deck gekommen, um nach dem Delfin zu sehen, der ihn freudig plappernd begrüßte. Welche Macht hinter all dem stand, konnte er aufs Neue wieder fasziniert feststellen. Kraftvoll hatte das Tier in dem Trog mit der Schwanzflosse zu schlagen begonnen und wild schnatternd seinen Kumpel gerufen, welcher umgehend antwortete.

„Mensch, du siehst ja gut aus!“ Grimos nickte anerkennend auf ihn runter und zögerte nicht lange. Nur wenige Augenblicke später war die Schlaufe des Krans um den mächtigen Leib geschlungen und das durchdringende Surren der Winde schien in dieser frühen Stunde störend. Ein paar Möwen hatten sich auf dem Mast niedergelassen und motzten gegen das viel zu laute Geräusch gegen an. Doch die Aufregung der Tümmler überdeckte alles. Während der eine rücklings durch die Strömung tobte, seine Freude kaum zu zügeln wusste, bemühte sich der andere, den nahenden Geruch von Freiheit, nicht allzu ungestüm herbeizusehnen.

„Ruhig – nicht so rumhampeln, du fällst sonst runter, mein Freund!“ Angesteckt von diesem überaus lebensbejahenden Geschnatter konnte Grimos nicht anders, als lächelnd mit dem Kopf zu schütteln. Pure Energie als auch Freude am Dasein überlagerte selbst die maulenden Möwen, welche sich auf der Suche nach Fisch eilig verzogen. Endlich wieder das Meer um sich herum, stob das Tier förmlich aus der Schlaufe heraus und tauchte unter, um kurz danach mit einem riesigen Satz und Drehungen, die einfach nicht enden wollten, die Wellen zu durchbrechen. Beide sprangen voller Übermut, sich gegenseitig umkreisend wieder und wieder in die Luft. Tanzten vor überschäumendem Glücksgefühl ob dieses Wiedersehens umeinander und sangen Grimos ein Lied voller Dankbarkeit – so schien es und so kam es ihm vor und als solches wollte er es auch tief in sein Gedächtnis einbrennen! Schade eigentlich, dass es nun vorbei sein würde … leicht traurig wand er den Kopf Richtung Küste, die immer noch weit außerhalb seines Blickfeldes lag – Gott sei Dank! Noch reizte ihn absolut gar nichts, dorthin zurückzukehren – später, dachte er bei sich! Wie, als könne er sich nicht losreißen, waren seine Augen dann den schnellen Bewegungen der Tümmler unermüdlich gefolgt. Tief atmete er die salzige Luft ein und verlangte vollste Konzentration von sich – um ja keinen noch so kleinen Moment dieser vor Kraft strotzenden und gleichfalls anmutigen Vorstellung zu versäumen. Die geschah, als Anerkennung für sein Handeln … allein dafür lohnte es sich, hier noch zu verweilen, es sacken zu lassen, das Abenteuer, das er gestern unverhofft angetreten hatte und von dem er noch nicht sicher war, wo es ihn hinführen würde … eines Tages!

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