Kains Geständnis

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Kains Geständnis
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J. Vogel





Kains Geständnis





Imprint



J. Vogel

 published by: epubli GmbH, Berlin


www.epubli.de

  Copyright: © 2016 J. Vogel  Lektorat: Erik Kinting |

www.buchlektorat.net

  Cover: Erik Kinting  Titelbild: © kiuikson - Fotolia.com  Konvertierung: sabine abels |

www.e-book-erstellung.de




Prolog

Wieso überholt dieser Kerl im schwarzen Sportwagen nicht endlich?



Jetzt, kurz nach Mitternacht, ist auf der einsamen Landstraße nicht mit Gegenverkehr zu rechnen. Dem jungen Mann am Steuer ist ein wenig mulmig zumute. Gewiss, er ist ein geübter Fahrer, aber der Mann hinter ihm – zumindest glaubt er, es sei ein Mann, der in verfolgt – hängt ihm schon seit Kilometern dicht an der Stoßstange. Er selbst ist müde und hat etwas zu viel Alkohol getrunken. In diesen Dorfdiscos ist es so billig, Mädchen abzufüllen! Der Pfingstausflug in die Provinz hat sich für ihn gelohnt. Eine der Dorfschönheiten, er kann sich nicht an ihren Namen erinnern, hat er eben im Auto gefickt und danach in die Disco zurückgeschickt. Enttäuscht hat die dumme Ziege ausgesehen, als er, ohne seine Telefonnummer zu hinterlassen, davongefahren ist! Als ob er so eine Hure jemals anrufen würde!



Er ist jetzt müde und will zurück in die Stadt. Ob es die Polizei hinter ihm ist, die ihn kontrollieren will? Aber seit wann kann sich der deutsche Staat teure Sportwagen leisten? Und die Bullen hätten ihn doch schon längst anhalten lassen, oder?



Er reibt sich die vor Müdigkeit brennenden Augen. Zudem blendet ihn der Verfolger ständig mit seinem Fernlicht. Der junge Mann erhöht das Tempo, um den Abstand zu seinem Verfolger zu vergrößern. Sein Tacho zeigt jetzt bereits hundertdreißig an, erlaubt wären in diesem Waldstück achtzig. Diverse Verkehrszeichen haben bereits mehrfach vor Wildwechseln gewarnt.



Endlich schert der Wagen hinter ihm aus. Als er mühelos vorbei zieht, wirft der Discoabstauber einen bewundernden Blick darauf. So ein Wahnsinnsauto! Hätte er auch gerne. Gewiss, der Porsche, den er fährt, ist auch nicht schlecht, kann aber mit der Rakete seines nächtlichen Renngegners nicht mithalten. Mit heulendem Motor entfernt sich der Wagen seiner Träume, die roten Rücklichter glimmen bald schon entfernt in der Dunkelheit und verschwinden schließlich hinter einer Kurve.



Der junge Mann ist wieder alleine mit der Nacht. Er bemerkt den kapitalen Hirsch erst im letzten Augenblick, bevor der Zwölfender auf die Straße tritt. Die Augen des Tieres blitzen kurz im Scheinwerferlicht auf. Es ist zu spät, um zu reagieren. Der Aufprall ist hart und ungebremst.



Das Geweih des Tieres zertrümmert die flache Frontscheibe und nur Sekundenbruchteile später bohrt es sich in das Herz des Unfallfahrers.



Es ist ein grotesker Anblick, auch für die später eintreffenden Rettungskräfte: das tote Tier – mit ebenfalls leerem Blick – Auge in Auge mit seinem Mörder und zugleich Opfer. Das Autoradio dudelt in den nächtlichen Wald

Highway to hell

.




Kapitel eins



»Wieso ruft er mich nicht an?«, nerve ich wiederholt meine beste Freundin Anna, die neben mir sitzt.



»Ich habe keine Ahnung, Kim. Vielleicht ist er im Stress?«, antwortet die Angesprochene leise und dreht an einer ihren langen goldblonden Locken.



Wir sitzen nebeneinander in einer Jura-Vorlesung. Ein dicker Ordner mit der Beschriftung

Er-brecht

 liegt zwischen uns. Der Bindestrich, natürlich an der ganz falschen Stelle, wandelt das Wort und gibt zugleich den Blick frei auf die Gefühle der Studenten bei seiner Lektüre. Der Professor hält einen monotonen Vortrag über deutsches Recht zur Erbfolgeregelung. Es ist zum Kotzen langweilig!



Was gibt es da Besseres, als Anna mal wieder mit einem Anfall von Liebeskummer zu erfreuen? Wir kennen uns seit der Oberstufe. Anna hat neulich festgestellt, ich hätte seitdem eigentlich permanent Liebeskummer gehabt. Das stimmt, aber ich brauche dringend Rat und Zuhörer:



»Letzte Woche war noch alles okay. Du weißt doch, am Samstag, auf Flos Geburtstagsfeier, da hat er mir noch ins Ohr gesäuselt, wie toll er mich findet.«



»Aber es ist nicht wirklich was zwischen euch passiert?«, fragt Anna gedehnt und schreibt in ihrer geraden, klaren Handschrift mit, was der Professor sagt.



Ich weiß nicht, ob sie es wirklich wissen will oder nur aus Höflichkeit fragt. Im Moment ist mir das auch egal.



»Nichts. Wir waren die ganze Woche zusammen, haben gekocht, waren im Kino …«



»Und hattet Sex«, ergänzt Anna und kichert verhalten.



»Auch das«, bemerke ich spitz und werde rot. »Aber das ist nicht das Wichtigste gewesen! Wir hatten viel Spaß und haben uns gut verstanden.«



Anna zuckt mit den Achseln und steckt sich ihren Stift in die Haare, als Haargummiersatz. »Keine Ahnung, vielleicht bist du einfach zu früh mit ihm in die Kiste gestiegen.«



Was soll denn diese lapidare Antwort bedeuten? Ich war sieben Mal mit ihm aus, bevor ich mit zu ihm gegangen bin. Disco, Kino, Museum, Essen, kochen bei Freunden, spazieren, wieder Essen. Ich habe es wirklich lange hinausgezögert.



Und überhaupt gibt es dafür ja überhaupt keine Regel. Anna ist mit ihrem Flo schon seit zwei Jahren glücklich und hat bereits an dem Abend, an dem sie ihn kennenlernte, mit ihm geschlafen.



Anderseits kann ich mich mit ihr optisch nicht messen – Anna ist traumhaft schön. Sie ist groß, blond und schlank. Trotzdem hat sie eine beneidenswerte Oberweite. Flo hat sie auf dem Oktoberfest getroffen. Sie hatte ein freizügiges Dirndl an, er kurze Lederhosen. Man kann von Liebe auf den ersten Blick sprechen. Oder von einem One-Night-Stand, der schon zwei Jahre anhält.



Ach, Anna ist in solchen Dingen auch moralisch kein Maßstab für mich.



Ich lasse das Thema fallen und versuche, mich auf die Vorlesung zu konzentrieren. Betont eifrig mache ich mir Notizen. Anna seufzt übertrieben laut und tut es mir nach.



Nach der Uni wollten wir uns eigentlich noch mit Luise und Carina im Englischen Garten treffen. Einfach ein bisschen herumliegen und die warme Frühlingssonne genießen. Wir haben alle vier zusammen Abi gemacht. Carina studiert mittlerweile Medizin und Luise hat sich für BWL entschieden.



Aber ich habe es nun plötzlich eilig, in meine Studentenbude zu kommen. Vielleicht hat Tom mir auf den Anrufbeantworteter gesprochen und ich mache mir umsonst Sorgen!



Tatsächlich leuchtet eine rote Eins und zeigt an, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hat.



Aufgeregt drücke ich auf die Wiedergabetaste. Die Stimme erkenne ich gleich: Es ist Tom!



»Hi, ich bin’s. Jetzt bist du weg, schade. Ich finde, du bist echt lieb, aber wir passen nicht zusammen. Das wollte ich dir eigentlich persönlich sagen, aber du bist nicht da. Also … sorry. Machs gut.«



Er klingt sachlich, kühl, geübt, als hätte er genau diesen Satz schon hunderte Male gesagt. Ich bin fassungslos und höre den kurzen Text noch dreimal an, um mich von seinem schlechten Charakter zu überzeugen. Was für ein feiger Drecksack! Sogar so verschlagen, dass er per Anrufbeantworter mit mir Schluss macht. Er wusste doch genau, dass ich vormittags in der Uni bin und außerdem hat er meine Handynummer!



So ein dummes Reichensöhnchen

, denke ich wütend und trete gegen die Wand, bis mein Fuß schmerzt. Der Typ glaubt, er kann, dank Porsche von Papi und schicken Klamotten, machen was er will.



Kann er wohl auch, zumindest mit mir.



Wieso passiert mir das jetzt? Warum werde ich von ihm abserviert?



Vor meinem Wandspiegel an der Tür mache ich eine Bestandsaufnahme:



Ich bin mittelgroß und schlank. Gut, die Oberschenkel könnten dünner, die Oberweite üppiger sein. Aber sonst sehe ich ganz okay aus. Mein Gesicht ist schmal, meine vielen Sommersprossen kann ich nicht leiden, nur meine Freundinnen finden sie

süß

. Dazu habe ich ungewöhnlich große und grüne Augen, die gut zu meinen rötlichen Haaren passen. Überlang und lockig sind sie, wenn ich sie nicht glatt ziehe oder zu einem dicken Zopf flechte.



Im Mittelalter wäre ich bestimmt als Hexe verbrannt worden.



Hexe

 , so nennt mich meine Mutter immer liebevoll. Bei dem Gedanken an meine Mutter zieht sich mein Herz krampfhaft zusammen. Vor etwa zwei Wochen saßen wir beide weinend in ihrer Wohnung. Die Diagnose lautet erneut

Brustkrebs

. Die Chancen stehen nicht schlecht für eine Genesung, sagen die Ärzte, trotzdem mache ich mir wahnsinnige Sorgen um sie. Die Chemo hat letzte Woche angefangen und wird im Wechsel mit Strahlentherapie ambulant gegeben.



Bisher geht es ihr ganz gut damit und dank der hoffnungsvollen Prognose, macht sie sich momentan die meisten Sorgen um ihre schönen, ebenfalls roten Haare. Die gehen ihr aufgrund der Chemo massenhaft aus.



Ich bin letzte Woche voller Angst zur Krebsvorsorge gegangen. Das hatte ich schon länger vor mir hergeschoben. Bei meinen besten Stücken, naja … Stückchen, ist aber Gott sei Dank alles im grünen Bereich. In Zukunft werde ich regelmäßig zum Frauenarzt gehen, sicher ist sicher. Auch wenn sich die Notwendigkeit der Pille für mich wieder einmal erledigt hat.



Da ich meine Mutter nicht noch zusätzlich mit meinen Liebesproblemen belasten möchte, sehe ich heute von einem Besuch ab. Ich habe bereits gestern für sie eingekauft und die Wäsche gemacht. Sie meint zwar, sie schafft das alleine, aber ich habe das Gefühl, ich sollte ihr hier und da ein wenig helfen. – Nein, ich sollte ihr helfen, wo ich kann. Sie hat sonst niemanden.



Mein Vater ist bereits vor fünfzehn Jahren gestorben. Ich war damals neun Jahre alt und kann mich kaum an ihn erinnern. Die wenigen Fotos, die es von uns gemeinsam gibt, sind für mich fremde Welten, auf denen mein Kindergesicht zu sehen ist. Er war Rechtsanwalt. Bestimmt studiere ich deswegen Jura, würde ein Therapeut vermuten.

 



Von dem geerbten Geld – mein Vater war aus einer vermögenden Familie – haben meine Mutter und ich bisher gelebt, auch meine Studentenbude wird davon bezahlt. Vom Staat bekomme ich noch Halbwaisenrente, also komme ich ganz gut zurecht.



Große Sprünge sind damit natürlich nicht drin. Ich habe kein Auto und fahre nur mit dem Zelt in den Urlaub. Teure Klamotten kann ich nur in Geschäften und an Carina bewundern – ihr Vater hat eine Baufirma, die gut im Münchner Geschäft ist.



Außer meiner Mutter habe ich an Verwandtschaft nur Tante Martha, die Schwester meiner Mutter. Aber die wohnt am anderen Ende der Stadt und ist mit meiner Mutter zerstritten. Erbstreitigkeiten. Meine Tante hat meine Mutter bei dem Verkauf unseres Hauses übervorteilt. Ob aus Absicht oder aus Dummheit konnte nie geklärt werden. Tante Martha ist Immobilienmaklerin und hat das Haus zwei Jahre später für eine beträchtlich höhere Summe verkauft als sie vorher ermittelt hatte.



Ich schicke Tom eine SMS, in der ich ihm auch alles Gute wünsche. Tatsächlich wünsche ich ihm insgeheim alles Schlechte. Ein Unfall mit dem Wagen seines Vaters wäre die perfekte Erfüllung meiner gedanklichen Rache. Danach muss ich mich dringend ablenken, also rufe ich Anna auf ihrem Handy an, um zu fragen, wo ich die Mädels im Park finden kann.



Meine Freundinnen treffe ich auf der großen Wiese im Englischen Garten. Wir essen Erdbeeren, die Luise mitgebracht hat, lästern über Tom und sonnen uns.



»Also, ich würde mich an dem Typen rächen wollen«, erklärt Luise und angelt sich eine besonders dicken Erdbeere aus der Schüssel.



»Schlitz ihm doch die Reifen von seinem Porsche auf«, schlägt Carina vor. Sie ist praktisch veranlagt.



Anna, gewohnt sachlich denkend, ist dagegen: »Die Karre gehört doch seinem Vater. Damit trifft sie ihn doch gar nicht.«



Ich habe Tom weit Schlimmeres gewünscht, verteidige ihn aber jetzt dennoch: »Ach, der Tom ist eigentlich arm dran. Sein Vater versorgt ihn zwar mit Geld, aber er interessiert sich nicht für seinen Sprössling. Kein Wunder, dass Tom so ein gefühlsarmer Mann geworden ist.«



»Du bist einfach zu gut für diese Welt.« Carina hat ihre eigene, besonders harte Meinung über Männer. »Du musst Männer schlecht behandeln. Dann lieben sie dich!« Carina beherrscht das in Perfektion, sie könnte jeden haben. Sie ist klein und zierlich, die Jungs wollen sie sofort beschützen. Dann wickelt sie sie um den Finger. Liebeskummer ist für sie ein Fremdwort.



»Und du musst dich besser um dich kümmern. So äußerlich«, ergänzt Luise und macht eine umfassende Handbewegung in meine Richtung. Sie selbst wiegt ein bisschen mehr, als ihr gut steht, finde ich. Trotzdem hat sie nicht so große Probleme mit Männern wie ich.



Zugegeben, Luise ist immer top gepflegt. Sie geht nie ungeschminkt aus dem Haus, hat immer gewaschene, geföhnte Haare und lackierte Nägel. Ihr Liebesleben nimmt sie locker. Sie genießt ihre Freiheit und ihre Affären. Ich arbeite zurzeit zweimal in der Woche nachmittags ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen an einem Gartenprojekt, da wären lackierte Nägel eher hinderlich.



Als ich das erwähne, schütteln alle drei den Kopf: »Zu gut! Sie ist viel zu gut für diese Welt, unsere Kim!«



Sie tanzen wie die Indianer lachend und singend um mich herum. Das ist mir ein wenig peinlich, die umsitzenden Leute beobachten uns interessiert und amüsieren sich augenscheinlich. Aber meine Freundinnen lassen sich davon und meiner schlechten Laune nicht stören. Ich bewerfe sie jetzt mit abgerupften Gänseblümchen. Gras und Blumen werden zurückgeworfen, die drei singen ungerührt weiter. Jetzt muss ich doch mitlachen. Zusammen können wir herrlich sorglos herumalbern und jede Situation retten.



Später, alleine auf dem Heimweg, bin ich nachdenklich. Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass ich mich ändere. Sollte ich endlich erwachsener werden und weniger naiv? Ist es tatsächlich so schlecht, anderen Menschen einen Vorschuss an Vertrauen zu geben? Ich nehme mir vor, egoistischer zu werden und mein Wohl in den Vordergrund zu stellen. Nur … wie soll ich das anstellen?



Ich kaufe mir eine Kugel Erdbeereis in der Waffel an der Münchner Freiheit und schlendere die Treppe zur U-Bahn hinunter. Wie immer werfe ich einen Euro in den Hut des Bettlers, der immer dort sitzt.



Auf diese Art werde ich in der Woche mindestens zehn Euro los. Das kann ich mir eigentlich nicht leisten. Ab morgen ist Schluss damit!



Unten angekommen, stelle ich fest, dass mir genau der eine Euro fehlt, um mir eine Fahrkarte zu kaufen. Den Zwanziger, den ich vorhin noch hatte, habe ich Luise geliehen. Sie ist ständig pleite, weil sie zu viel Geld für Kosmetik und leider auch für Zigaretten ausgibt. Da ich bei meinem heutigen Glück bestimmt beim Schwarzfahren erwischt werde, beschließe ich, nach Hause zu laufen. Es scheint die Sonne und wenn man zügig geht, ist es ein Marsch von etwa zwanzig Minuten bis zu meiner Wohnung.



Ich steige die Stufen der Unterführung wieder nach oben und habe das unbestimmte Gefühl, dabei beobachtet zu werden. Aber als ich mich umdrehe, kann ich niemanden entdecken. Mich fröstelt in meiner dünnen Jacke. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, um schneller am Tageslicht zu sein. Hier wärmt mich die Abendsonne und ich fühle mich frei. Es hat auch seine Vorteile, zu Fuß zu gehen.



Ich schlendere durch die Seitenstraßen Schwabings. Endlich hat der Frühling Einzug gehalten. Der Winter war dieses Jahr ungewöhnlich lang, im März lag noch jede Menge Schnee und bis jetzt, also Anfang Mai, hat es fast nur geregnet. In einigen Hinterhöfen gibt es erste Grillpartys, jedenfalls riecht es nach gebratenen Würstchen und Rauch. Vom Spielplatz um die Ecke höre ich Kinderlachen. Ich liebe den Frühling in meiner Stadt!



Die Sonne geht langsam unter. Das Abendrot erinnert mich daran, dass ich heute nicht für die Uni gelernt habe. Das werde ich am Abend nachholen müssen. Ich habe meiner Mutter versprochen, das Studium so schnell wie möglich durchzuziehen und nicht feiern zu gehen. Naja … fast nie. Und überhaupt möchte ich ihr auch nicht länger als nötig auf der Tasche liegen.



Solange ich denken kann, möchte ich Rechtsanwältin werden. Das Recht für Schwache durchzusetzen und für Gerechtigkeit zu sorgen, schien mir ein edles Berufsziel zu sein. Natürlich habe ich längst mitgekriegt, dass recht haben und Recht bekommen zwei verschiedene Dinge sind. Trotzdem will ich eine gute Anwältin werden, die gewissenhaft ihre Mandanten verteidigt und sich selbst noch im Spiegel in die Augen sehen kann.



»Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen?«, reißt mich eine freundliche männliche Stimme aus meinen Gedanken. Ein schwarzer Sportwagen steht in zweiter Reihe auf der Straße, der Warnblinker ist eingeschaltet. Ein großer Mann, ich schätze ihn auf Mitte bis Ende dreißig, steht lässig daneben und winkt mit einem Stadtplan.



Ich sehe mich um. Außer mir ist niemand zu sehen, ich bin gemeint. »Hat Ihr Schlitten denn kein Navi?«, platze ich ungewohnt schlagfertig heraus und trete einen kleinen Schritt heran.



Aber der Mann grinst nur und blickt mich durch seine schwarze Sonnenbrille hindurch schweigend an.



Niemals zu dicht an fremde Autos herangehen! Das habe ich schon im Kindergarten gelernt. Wie böse Männer wehrlose Mädchen ins Auto ziehen, kann man immer wieder in

Aktenzeichen XY

 sehen. Ich zögere daher, noch näherzutreten.



Der Fremde scheint meinte Bedenken zu erraten. »Ich bin kein Triebtäter, ich frage nur nach dem Weg«, bemerkt er trocken und faltet den Plan auseinander. Das Auto hat ein Schweizer Kennzeichen. Er kennt sich, wie es scheint, in München tatsächlich nicht aus.



Ich stelle mich neben die flache Motorhaube des Autos. Bisher habe ich so ein ungewöhnliches Exemplar noch nicht aus der Nähe gesehen, sondern nur in Autozeitungen. Es ist ein

Mercedes SLR

. Ich bewundere unverhohlen den Wagen und aus den Augenwinkeln auch den Mann, der ihn fährt.



Er sieht, ohne Übertreibung, fantastisch aus! Ein bisschen wie James Dean, nur größer, kantiger und mit dunklen Haaren. Riechen tut er auch gut. Ich schnappe unwillkürlich nach Luft, als ich sein Parfüm wahrnehme. Es kommt mir bekannt vor und riecht doch anders als alle Düfte, die es bei

Douglas

 zu kaufen gibt. Darin bin ich Expertin. Ich habe einmal in den Semesterferien in einer Parfümerie gejobbt.



Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich wieder gesammelt habe und stammeln kann:



»Wo wollen Sie denn hin?«



»Wo sollte ich denn hin wollen?« Mit seiner Gegenfrage verwirrt er mich völlig.



»Wie, ähm … Sie haben mich doch gefragt, ob ich Ihnen den Weg zeigen kann!«



Er grinst. »Nun, ich habe ihn mittlerweile schon alleine gefunden.« Er deutet auf eine Stelle im Stadtplan. »Sie hingegen scheinen mir etwas orientierungslos zu sein. Darf ich Sie mitnehmen? Sozusagen als Dankeschön für das Angebot, mir zu helfen?«



Jetzt sehe ich mich vor meinem geistigen Auge tatsächlich gefesselt und geknebelt im Kofferraum seines Autos. Ich schüttele vehement den Kopf.



»Glauben Sie mir, für eine Entführung ist der Kofferraum nicht geeignet.«



Wieder errät der Kerl meine Gedanken. Ich fühle mich ertappt und erröte.



»Ich wohne um die Ecke«, flunkere ich halbherzig.



»Dann machen Sie mir die Freude, mich zu begleiten! Ich bin auf dem Weg zu einer Veranstaltung und kenne dort niemanden. Sie würden ein weiteres gutes Werk tun!«



»Mich kennen Sie doch auch nicht. Und für so etwas, was sie meinen, gibt es gewisse Agenturen!«



Der Mann lächelt nur, tritt zur Seite und öffnet die Beifahrertür. Sieht schick aus, wie die Tür aufschwingt.



»Bitteschön.« Der mysteriöse Fremde kennt wohl kein Nein.



Ich bin hin und her gerissen. Aber ein

gutes Mädchen

 steigt nicht in das Auto eines Fremden. Nie! Und überhaupt, ich habe eine, hoffentlich rettende, Idee:



»Ich bin kaum richtig angezogen für eine offizielle Veranstaltung.« Ich streiche verlegen über mein flattriges, weißes Sommerkleid. Sicher hat es auch Flecken von der Wiese im Park.



»Sie sehen perfekt aus!«, lautet die entwaffnende Antwort.



Jetzt werde ich bestimmt rot wie eine Tomate, meine Wangen brennen. Ich protestiere nicht weiter, als er mir meine peinliche Jutetasche aus der Hand nimmt und sie schwungvoll in den Kofferraum wirft. Viel mehr Platz als für die Tasche ist darin tatsächlich nicht. Die Gefahr, gefesselt und geknebelt dort reingestopft zu werden, ist also eher gering.



Ich lasse mich auf den bequemen Ledersitz sinken und die Wagentür schließt sich.

Nie kann ich Nein sagen

, denke ich, wütend auf mich selbst.

Falls mir heute Abend etwas zustößt, bin ich ganz allein daran schuld!



»Ich werde gut auf sie aufpassen«, verspricht mein unbekannter Begleiter und startet den Motor.



Der Motor ist laut und der schöne Mann am Steuer scheint nicht die Absicht zu haben, mit mir Konversation zu treiben. Zügig lenkt er seinen Luxuswagen durch den Münchner Feierabendverkehr. Ich entspanne mich allmählich und fühle mich überlegen wie eine Prinzessin in ihrer Prachtkutsche, als wir durch die belebte Leopoldstraße fahren. Das Auto, der Fahrer und ich als Beifahrerin fallen auf.



Die Fahrt dauert leider nicht lange. Wir halten vor der Absperrung des amerikanischen Konsulats.



Ich bin erneut sprachlos.



»Sie haben doch einen Ausweis dabei?«, werde ich von meinem Fahrer gefragt.



Als ich nicke, springt er aus dem Wagen und holt aus meiner Tasche meinen Geldbeutel. Ungeniert sucht er sich den Ausweis heraus und liest laut: »Kimberly McCarter, geboren am 21. März 1992 in München. Sind Ihre Vorfahren Iren?« Er zwinkert mir zu. Ohne auf meine Antwort zu warten, reicht er meinen Ausweis zusammen mit einem Dokument an den Pförtner der Botschaft weiter.



Der öffnet ohne weitere Fragen den Schlagbaum und lässt uns passieren. Und ich dachte immer, die Kontrollen wären hier viel strenger.



Von innen ist das Gelände größer, als es von außen den Anschein hat. Aber ich war auch noch nie auf dem Botschaftsgelände. Mein Begleiter, der nun meinen Namen kennt, hält beim Parkservice, den man für den Event – welchen auch immer – eingerichtet hat. Geschmeidig steigt er aus dem Auto, um mir die Tür aufzuhalten.

 



Es scheint ein Empfang zu sein. Überall stehen elegant gekleidete Frauen mit teuren Frisuren. Ich wünschte, ich hätte hohe Schuhe an und nicht meine ausgelatschten Chucks. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch mein Begleiter einen Anzug trägt, nun auch noch eine Fliege aus seiner Tasche zieht und sich diese im Gehen umbindet. Ich bin hier absolut underdressed! Worauf habe ich mich nur eingelassen?



Wir erreichen den Festsaal.



»Keine Sorge, die Leute sehen nur mich an«, werde ich aus meinen Überlegungen gerissen.



Wie überheblich ist der denn? Aber es stimmt. Zumindest alle Frauen starren ihn an, als ob er ein Gott wäre. Und ich tue es auch.



Nun wird mir ein Champagnerglas in die Hand gedrückt, und mein Begleiter lässt sein Glas dagegen klirren. »Auf dich, Kimberly!«, prostet er mir zu. »Ich bin Kain.«



Kain heißt er also. Mehr erfahre ich nicht über ihn. Den ganzen Abend reden wir nur über mich. Was ich mache, was ich mag, was für Ziele ich habe. Ich komme mir vor wie im Kreuzverhör.



Am Anfang versuche ich noch, geheimnisvoll zu tun und nicht gleich wieder alles von mir preiszugeben, aber nach drei Gläsern Champagner auf nüchternen Magen gelingt mir das nicht mehr so gut wie geplant. Ich war ohnehin nie besonders gut darin, Pläne auszuführen.



Also erzähle ich von meinem Wunsch nach einem gerechten Rechtssystem in unserem Land, dem Wunsch nach einem Heilmittel für Krebs und einer Liebe fürs Leben.



Ich bin sicher, mein Monolog macht mich nicht besonders attraktiv, aber immerhin beachtet der schöne Kain die eleganten Frauen in den Abendroben um uns herum nicht. Er beachtet – oder, wie mir manchmal scheint, er beobachtet – nur mich.



Nach dem vierten Glas des edlen Tropfens merke ich selbst, wie ich undeutlicher rede und außerdem dreht sich alles um mich herum.



»Komm mit«, sagt Kain unvermittelt und streckt seine Hand aus. Da mir schwindelig ist, ziere ich mich nicht lange und lege meine Hand in seine.



Ich spüre es sofort. Wie ein Stromschlag erfasst es mich. Zum letzten Mal ist mir das passiert, als ich an einen Koppelzaun gefasst habe. Da war ich noch ein Kind. Ein Zucken läuft durch meine Hand und ich lasse seine los, als hätte ich mich verbrannt. Erschrocken starre ich ihn an. Ich glaube, mein Mund steht offen.



Kains Miene hat sich nicht verändert. Erneut hält er mir die Hand hin.



»Komm.«



Obwohl ich es besser wissen müsste, lasse ich ihn erneut nach meiner Hand greifen. Diesmal passiert nichts. Sein Händedruck ist angenehm kühl und fest. Ich lasse mich widerstandslos zum Auto führen.



Der Wagen steht schon in der Einfahrt zur Abfahrt bereit. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie Kain danach verlangt hat, bin aber froh, endlich sitzen zu können. Die kühle Luft tut meinem vernebelten Gehirn gut und Kain hat fürsorglich das Dach und alle Fenster geöffnet. Vielleicht hat er auch nur Angst, ich kotze ihm sonst ins Auto.



Wir brausen durch die nächtliche Stadt und ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, stehen wir vor dem Hotel

Vier Jahreszeiten

 in Münchens Prachtstraße. Ich muss eingeschlafen sein, das ist mir wieder sehr peinlich.



Kain hat die Beifahrerseite geöffnet und hebt mich aus dem Auto, als wäre ich ein kleines Kind. –



Das geht jetzt zu weit, oder?



Ich protestiere nur schwach, als er mich durch das Foyer des Luxushotels trägt und mit seinem Ellenbogen auf den Aufzugsknopf drückt. Der Nachtportier hinter seinem langen Tresen blickt kaum auf. Offenbar hat er hier schon skurrilere Auftritte gesehen. Die blank geputzten goldfarbenen Türen des Aufzuges öffnen sich und Kain trägt mich hinein.



Da er keine Hand frei hat und mich auch nicht herunter lässt, möchte ich zumindest mit dem Drücken helfen. Mein besoffenes Hirn hält das für eine gute Idee.



»Nach oben oder nach unten?«, frage ich ihn, bemüht witzig zu sein.



»Für heute geht es nach oben«, lautet seine eigenartige Antwort. Er weist mich an, auf die Sechs zu drücken.



Ob ich den Verlauf der Dinge gut finden soll, weiß ich nicht. Ich versuche, mich zusammenzureißen, und hebe meinen Kopf an, um ihm in die Augen sehen zu können.



Den ganzen Abend hatte er seine alberne Sonnenbrille auf. Ich habe keine Ahnung, wann er sie abgesetzt hat.



Sein Blick ist kalt wie der eines Fisches. Er hat blaue Augen, aber es ist ein wässriges Blau, fast farblos. Er blickt kühl auf mich hinunter und ich werde sofort wieder nüchtern vor Schreck.

Ich sollte nicht hier sein

, denke ich und fühle Angst in mir aufsteigen.

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