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Neu-Land

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– So, so, Marianne. . . Jetzt haben Sie den Anfang gemacht.

– Das nennen Sie einen Anfang machen, Wassili Fedotitsch! – Was ist denn das für ein Anfang! Es ist mir plötzlich so unbehaglich zu Muthe. Alexei hat Recht: es ist wirklich, als ob wir Komödie spielten.

Ssolomin nahm wieder auf einem Stuhle Platz.

– Erlauben Sie, Marianne. . . Wie stellen Sie sich denn das vor, dieses »Anfangen«? – Sie werden doch nicht Barrikaden bauen, die Fahne schwingen und Hurrah! es lebe die Republik! schreien? – Das ist ja auch gar nicht Frauensache – Lehren Sie statt dessen irgend eine Lukerja irgend etwas Vernünftiges; – das ist keine leichte Arbeit, denn Lukerja ist schwer von Begriffen und blöde Ihnen gegenüber, ja sie bildet sich wohl gar ein, daß sie das Alles nicht nöthig habe, worin Sie sie unterrichten wollen; – nach zwei oder drei Wochen nehmen Sie dann eine andere Lukerja vor und plagen sich mit dieser; unterdessen aber – waschen Sie irgend ein Kind rein, oder lehren es das ABC, – oder pflegen Sie einen Kranken . . . da haben Sie den Anfang.

– Das thun ja die barmherzigen Schwestern, Wassili Fedotitsch! – Wozu brauche ich denn . . . dies Alles? – Marianne wies mit einer unbestimmten Bewegung der Hand auf sich und um sich. – Mir schwebte etwas Anderes vor.

– Sie wollten sich aufopfern?

Mariannen’s Augen blitzten auf.

– Ja . . . Ja. . . ja!

– Und Neshdanow?

Marianne zuckte die Achseln.

– Neshdanow! Wir gehen zusammen . . oder ich gehe allein.

Ssolomin sah sie forschend an.

– Wissen Sie was, Marianne? . . . Verzeihen Sie den unziemlichen Ausdruck aber einem grindigen Knaben das Haar kämmen – ist meiner Ansicht nach auch ein Opfer, und zwar ein großes Opfer, dessen nicht Jeder fähig ist.

– Ich werde auch das thun, Wassili Fedotitsch – Ich weiß, daß Sie es thun werden! – Sie sind dessen fähig. Jetzt – Dieses, und später – das Andere.

– Daher muß ich mich eben von Tatjana unterweisen lassen!

– Gut – thun Sie es. – Sie werden schmutzige: Töpfe waschen, Hühner rupfen . . . und dann, wer weiß, vielleicht noch das Vaterland retten!

– Sie lachen mich aus, Wassili Fedotitsch!

Ssolomin schüttelte langsam den Kopf.

– O glauben Sie mir, liebe Marianne: ich lache nicht; es ist nur einfach die Wahrheit, was ich Ihnen gesagt. Ihr russischen Frauen seid jetzt schon besser und werktätiger, als wir Männer!

Marianne hob die Augen empor.

– Ich möchte Ihre Erwartungen rechtfertigen, Ssolomin . . . dann aber – dann meinetwegen sterben!

Ssolomin erhob sich.

– Nein, Sie sollen leben . . . leben! Das ist die; Hauptsache – Was ich Sie noch fragen wollte: möchten Sie nicht vielleicht erfahren, was jetzt in dem Hause, aus welchem Sie geflohen, vor sich geht? – Ob nicht Maß- regeln irgend welcher Art ergriffen werden? Ich brauche Paul nur ein Wörtchen zu sagen – im Augenblick hat er Alles erfahren.

Marianne staunte.

– Was das für ein ungewöhnlicher Mensch ist!

– Ja ein ziemlich bemerkenswerther Mensch. – Wenn Sie sich vielleicht mit Alexei trauen lassen wollen, so wird er auch mit Sossima Alles abmachen . . . Erinnern Sie sich, ich sagte Ihnen ein Mal, daß hier in der Nähe ein Priester dieses Namens sei? . . . Es ist aber – gegenwärtig – noch nicht nöthig! Nicht wahr?

– Nein.

– Wenn nicht – dann also nicht. – Ssolomin trat an die Thür, welche Mariannen’s und Neshdanow’s Zimmer von einander trennte, und beugte sich zum Schlosse herab.

– Wonach sehen Sie? – fragte Marianne.

– Ob der Schlüssel schließt.

– Ja, er schließt – flüsterte Marianne.

Ssolomin wandte sich um. – Marianne hatte die Augen niedergeschlagen.

– Es ist also nicht nöthig nachzuforschen, was Ssipjagin setzt zu thun beabsichtigt? – fragte er heiter, – es ist nicht nöthig?

Ssolomin wollte gehen.

– Wassili Fedotitsch . . .

– Was wünschen Sie? .

– Sagen Sie mir, bitte, wie kommt es, daß Sie, der Sie sonst so schweigsam, mir gegenüber so gesprächig sind? Sie glauben nicht, wie mich das freut.

– Wie es kommt? – Ssolomin nahm ihre beiden kleinen, weichen Hände in seine großen, rauhen Hände. – Wie es kommt? – Nun, wahrscheinlich, weil ich Sie sehr lieb habe. Leben Sie wohl.

Er verließ das Zimmer . . Marianne blieb in Gedanken versunken stehen und blickte ihm nach, – dann ging sie zu Tatjana, die noch keine Zeit gehabt, ihr die Theemaschine zu bringen, trank mit ihr Thee, wusch aber auch die schmutzigen Töpfe, rupfte Geflügel – und kämmte sogar einem grindigen Knaben das Haar.

Um die Mittagszeit war sie wieder in ihrer kleinen Wohnung. Bald darauf erschien auch Neshdanow. Er kehrte müde, mit Staub bedeckt zurück und – sank gleich in den Divan. Marianne setzte sich zu ihm. – Nun, wie ist’s Dir ergangen? Erzähle!

– Kennst Du den Vers: – begann er mit matter Stimme;

 
»Es wäre dies wohl herzlich komisch —
»Wenn es nicht gar so traurig wär! . . .
 

– Erinnerst Du Dich?

– Gewiß, natürlich.

– Dieser Vers charakterisirt vortrefflich mein erstes Debüt. – Doch nein! Es war entschieden mehr komisch als traurig. Denn erstens habe ich mich überzeugt, daß nichts leichter ist, als eine fremde Rolle zu spielen: es ist Niemandem eingefallen, mich für verdächtig zu halten. Eins hatte ich jedoch nicht bedacht: ich hätte vorher irgend eine Geschichte ausdenken müssen denn Alle fragen: woher und weshalb? – und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Uebrigens ist auch dieses im Grunde unnütz. Ein Gläschen Branntwein in der Schenke – und lüge, so viel Du Lust hast!

– Und Du hast auch . . . gelogen? – fragte Marianne.

– Ja . . . so gut ich konnte. – Zweitens: Alle, Alle ohne Ausnahme, mit denen ich gesprochen, – sind unzufrieden; aber Niemand denkt auch nur daran, wie dieser Unzufriedenheit abzuhelfen wäret – In der Propaganda aber – da bin ich gänzlich durchgefallen; zwei Broschüren habe ich einfach heimlich liegen lassen, – eine in einen Karren gesteckt . . . Was da herauskommen wird – das weiß Gott im Himmel allein! – Vier Personen habe ich ferner Flugschriften angeboten. Der Eine fragte, ob es ein religiöser Büchlein sei – und nahm es nicht; der Zweite sagte, daß er nicht zu lesen verstehe, nahm das Büchlein aber – für seine Kinder, wegen des Bildchens auf dem Titelblatte; der Dritte, der schien mir zuerst Beifall zu brummen: – »recht, recht . . .« dann überhäufte er mich unerwarteter Weise mit Schimpfreden – und nahm es auch nicht; der Vierte endlich nahm eins entgegen und dankte mir viel mal; – wie mir scheint, hat er aber gar nichts von dem verstanden, was ich ihm gesagt. Außerdem hat mich ein Hund in’s Bein gebissen; ein altes Weib drohte mir an der Schwelle ihres Häuschens mit der Ofengabel: »Du elender Lump! – Moskauer Taugenichts! – Ihr scheint wie das Unkraut zu sein, das niemals vergeht!« – Ein alter Soldat schrie mir immer ganz laut nach: »Warte nur, mein Lieber, warte nur, wirst die Patrone schon riechen, warte nur!« – Und es war mein eigenes Geld, wofür er sich betrunken!

– Und was noch?

– Was noch?

– Ich habe mir den Fuß wund gerieben; der eine Stiefel ist viel zu groß. Dann habe ich Hunger – und dann brummt mir der Kopf von dem Branntwein.

– Hast Du denn viel getrunken?

– Nein, nicht viel – nur um mit gutem Beispiel voranzugehen. Doch bin ich in fünf Schenken gewesen. Aber ich kann dieses Zeug nicht vertragen. Es ist mir unerklärlich, wie unser Volk diesen Branntwein trinken kann. Wenn man Branntwein trinken muß, um sich »zu vereinfachen« – dann danke ich ergebenst.

– Und es hat Dich Niemand verdächtig gefunden?

– Niemand. – Ein dicker, blasser Schenkwirth mit weißen Augen war der einzige Mensch, dem ich verdächtig schien. Ich hörte, wie er zu seiner Frau sagte: »Paß mal auf diesen Rothhaarigen da – den Schielenden« . . . Bis dahin hatte ich gar nicht gewußt, daß ich schiele. »Das ist – ein Vagabund. Sieh mal an, wie dick er trinkt.« – Was in diesem Falle »dick« bedeutete, habe ich nicht verstanden, ein Lob wird es wohl nicht gewesen sein. Vielleicht hatte er bemerkt, daß ich mich bemühte, im Stillen den Branntwein unter den Tisch zu gießen! Wie schwer, wie unendlich schwer fällt einem Aesthetiker die Berührung mit dem wirklichen Leben!

– Ein anderes Mal wird es besser gehen – tröstete ihn Marianne – ich freue mich jedoch, daß Du Deinen ersten Versuch von der humoristischen Seite auffaßt . . . Du hast im Grunde gewiß keine Langeweile verspürt?

– Nein, es hat mich sogar amüsirt. Aber ich weiß, daß ich jetzt daran denken werde – und es wird mich anwidern und mich traurig machen.

– Nein, nein! Du darfst nicht traurig sein – ich werde Dir erzählen, was ich unterdessen gethan habe. Man wird uns gleich das Mittagsessen bringen; weißt Du, daß ich den Topf sehr gut ausgewaschen, in welchem uns Tatjana die Kohlsuppe gekocht hat? Und ich werde Dir Alles erzählen, Alles . . . bei jedem Stück, das Du in den Mund nimmst.

So that sie auch. Neshdanow hörte ihr zu – und sah sie ununterbrochen an so daß sie ein paar Mal innehielt, um ihn zu fragen, weshalb er sie so ansähe . . . Er schwieg jedoch.

Nach dem Mittagessen schlug sie vor, ihm aus einem Roman von Spielhagen vorzulesen. Kaum war sie jedoch bis an’s Ende der ersten Seite gekommen, als er plötzlich aufsprang – und zu ihren Füßen niedersank. Sie erhob sich, er umfaßte ihre Knie – und stammelte leidenschaftliche, zusammenhangslose, verzweiflungsvolle Worte: »Er wolle sterben, er wisse, daß er bald sterben werde! . . .« – Sie regte sich nicht, sie widerstrebte nicht; ruhig fügte sie sich seiner stürmischen Umarmung, ruhig, sogar freundlich blickte sie aus ihn herab. Sie legte beide Hände auf sein, in den Falten ihres Kleides sich bergendes Haupt. Aber eben diese Ruhe wirkte stärker auf ihn, als wenn sie ihn zurückgestoßen hätte. Er stand auf und sagte: »Vergieb mir, Marianne, was heute und gestern geschehen; wiederhole mir, daß Du warten willst, bis ich Deiner Liebe werth geworden – und vergieb mir!«

 

– Ich habe Dir mein Wort gegeben . . . und verstehe es nicht, meine Meinung zu ändern.

– Ich danke Dir; leb’ wohl.

Neshdanow ging hinaus; – Maxime schloß sich in ihr Zimmer ein.

Dreißigstes Capitel

Zwei Wochen darauf saß Neshdanow in demselben Zimmer über seinen kleinen dreibeinigen Tisch gebeugt und schrieb bei dem spärlichen Schein eines Talglichts an seinen Freund Ssilin. Mitternacht war längst vorüber. Auf dem Divan, auf dem Boden lagen die in der Eile abgeworfenen, beschmutzten Kleider; ein feiner Regen schlug draußen ununterbrochen an die Fensterscheiben – ein breiter, warmer Wind lief in großen Seufzern über das Dach dahin.

»Liebe: Wladimir, ich schreibe Dir, ohne meine Adresse zu nennen – und werde den Brief sogar auf eine entfernte Poststation schicken, denn, mein Hiersein – ist ein Geheimniß, und dies Geheimniß verrathen, hieße nicht mich allein dem Untergang weihen. Es mag Dir genügen, wenn ich Dir sage, daß ich zusammen mit Marianne schon seit zwei Wochen auf einer großen Fabrik lebe. Ein Freund hat uns hier bei sich aufgenommen: ich werde ihn Wassili nennen. Er ist die Hauptperson auf der Fabrik – ein vortrefflicher Mensch. Wir halten uns nur vorübergehend hier auf, bis es Zeit ist, zur That zu schreiten; nach dem:jedoch zu schließen, was bis jetzt geschehen ist, – wird diese Zeit wohl kaum jemals kommen! Mir ist das Herz so schwer, Wladimir, so schwer! Ich muß Dir vor Allem sagen, daß, wenn wir, Marianne und ich, auch zusammen entflohen sind, wir doch – wie Bruder und Schwester zu einander stehen. Sie liebt mich und hat mir gesagt, daß sie mein sein wird – wenn ich das Recht in mir fühle, es zu fordern.

»Wladimir, dieses Recht fühle ich nicht in mir! Sie glaubt mir, glaubt an meine Ehrlichkeit – und ich will sie nicht belügen. Ich weiß, daß ich Niemanden mehr geliebt habe und mehr lieben werde – (dieses Letztere ist sicher l) – als sie. Und doch! Darf ich ihr Schicksal an das meinige ketten! Ein lebendes Wesen – an eine Leiche? – Und wenn auch nicht an eine Leiche – so doch an ein halbtodtes Geschöpf? – Und das Gewissen? – Du sagst vielleicht: wäre die Leidenschaft mächtig – so schwiege das Gewissen. – Aber das ist es ja eben, daß ich eine Leiche bin; eine ehrliche, wohlintentionirte Leiche, wenn Du willst. – Sprich mir nicht davon, ich bitte Dich, daß ich immer übertreibe . . . Alles, was ich Dir sage – ist wahr! wahr! – Marianne – ist eine concentrirte Natur und geht ganz auf in der Arbeit, an die sie glaubt. Und ich!

»Doch – lassen wir Liebe und persönliches Glück – und Alles, was damit im Zusammenhange steht. – Seit zwei Wochen gehe ich täglich »in das Volk« – und wahrlich, ich versichere Dich, Du kannst Dir nichts Dümmeres vorstellen. Die Schuld liegt natürlich an mir selbst – nicht etwa an der Sache. Ich gehöre freilich nicht zu den Slavophilen, nicht zu Denen, welche sich einbilden, daß die bloße Berührung mit dem Volke gesund macht; ich drücke es nicht an den kranken Leib, wie eine Leibbinde aus Flanell . . . ich möchte selbst auf dasselbe einwirken; – aber wie?? – Wie soll man es anfangen? Thatsache ist, daß, wenn ich unter dem Volke bin, ich mich immer an dasselbe schmiege – und es beobachte – wenn ich aber selbst etwas sagen soll – so bringe ich nichts Gescheidtes hervor! Ich fühle selbst, daß ich nicht dazu tauge. Ich komme mir vor wie ein schlechter Schauspieler in einer fremden Rolle. Dann noch, recht zur Unzeit, die Gewissenhaftigkeit, der Skeptizismus – und sogar jener klägliche, gegen sich selbst gerichtete Humor . . . Keinen Heller ist dies Alles werth! – Es ekelt mich, daran zu denken, auf die Lumpen zu blicken, die ich an mir trage, – auf diese Maskerade, wie Wassili es nennt! – Manche behaupten, daß man zuerst in die Sprache des Volkes eindringen, die Sitten, die Gebräuche desselben kennen lernen müsse Unsinn! Unsinn! Unsinn! Man soll nur glauben an das, was man spricht – und dann kann man sprechen, was man will! Ich habe ein Mal unter den Raskolniks der Predigt eines ihrer Propheten gelauscht. Der Teufel weiß, was er da zusammengefabelt hat, was das für ein Gemisch von Kirchensprache, Schriftsprache und Volksidiom war, und nicht einmal russischen, sondern weiß- russischen Volksidiom. Und immer dieselben Wendungen und Ausdrücke, dasselbe hartnäckige, trotzige Gemurmel – gerade wie ein balzender Auerhahn im Frühjahr. – »Der Geist hat mich erfaßt . . . Der Geist hat mich erfaßt« . . . Desto feuriger aber glänzten die Augen, die Stimme klang dumpf und fest, die Fäuste hatte er geballt – eine Figur wie von Eisen! Die Zuhörer verstanden ihn nicht – aber sie waren voll Andacht und folgten ihm nach. – Wenn ich aber zu sprechen anfange, so ist es immer, als ob ich, ein Schuldiger, Alle um Verzeihung anflehte. – Ich könnte Raskolnik werden – wahrhaftig; viel Weisheit steckt gerade nicht darin, – aber wo soll man den Glauben hernehmen, den Glauben!!! Marianne freilich – die glaubt. Am frühen Morgen arbeitet sie schon, plagt sich ab bei Tatjana – es ist hier ein Weib dieses Namens, ein gutes und durchaus nicht dummes Wesen; sie sagt unter Anderem von uns, daß wir uns »vereinfachen« wollen und daß wir »vereinfachte« Leute seien; – bei diesem Weib also müht sich Marianne ab, und ist keinen Augenblick unthätig – eine echte Ameise! Sie freut sich, daß ihre Hände roth und schwielig geworden, und denkt nur daran, wie sie, wenn es nöthig sein sollte, ihren Kopf sogleich auf den Block legen würde. – Wenn ich aber von meinen Gefühlen mit ihr zu sprechen anfange – so ist es mir, als ob ein Gefühl der Scham in mir ausstiege, als ob ich meine Hand nach fremdem Gut ausstreckte; und dann dieser Blick . . . o, dieser so unendlich ergebene, widerstandslose Blick! . . . »Nimm mich hin, ich bin Dein . . . doch sei eingedenk! . . . Aber wozu denn auch? Giebt es denn nichts Besseres, nichts Größeres in der Welt?« – Mit anderen Worten: nimm den stinkenden Kittel, geh’ in’s Volk . . . Und so gehe ich denn in das Volk. . .

»O wie ich ihr fluche, dieser Nervosität, dieser übertriebenen Empfänglichkeit für jeden äußeren Eindruck, dieser feinfühligen Natur, dem Erbe meines aristokratischen Vaters! Welches Recht hatte er, mich mit Organen in das Leben hinauszustoßen, welche den Kreisen, in denen ich mich zu bewegen habe, so fremd sind? Einen Vogel zu schaffen – und ihn in das Wasser zu schleudern? Einen Aesthetiker – und ihn in den Koth zu stoßen? Einen Demokraten, einen Volksfreund, dem schon von dem bloßen Geruch des garstigen Fusels zum Erbrechen übel wird? . . .

»Da sieh, wozu ich mich habe hinreißen lassen: meinen Vater zu schmähen! – Und ein Demokrat bin ich ja doch nur aus mir selbst geworden, was kann denn mein Vater dafür!

»Ja, Wladimir, mir geht’s schlecht! Es kommen jetzt graue; häßliche Gedanken über mich! – Ist es denn wirklich möglich, wirst Du fragen, daß mir im Verlauf dieser zwei Wochen nichts Freudiges begegnet, daß ich auf keinen einzigen guten Menschen voll Leben und Eifer gestoßen wäre, wenn dieser Mensch auch noch im Dunkeln säße. – Was soll ich Dir sagen? – Etwas Aehnliches ist mir wohl vorgekommen. . . Ich habe sogar einen sehr guten, prächtigen, tüchtigen Burschen gefunden – aber so eifrig ich mich auch an ihn machte, meine Broschüren nahm er nicht! Ein Fabrikarbeiter, Namens Paul – (Wassili’s rechte Hand, ein überaus gescheidter und schlauer Kopf . . . ich habe Dir, glaube ich, von ihm bereits geschrieben) – der hat hier unter den Bauern einen Freund, der Jelisar heißt . . . gleichfalls ein heller Kopf . . . und eine freie, unverfälschte Seele; wenn er aber mit mir allein bleibt – so ist es, als ob eine Wand zwischen uns stände! – aus jeder seiner Mienen spricht ein entschiedenes »Nein!« Dann habe ich noch einen Anderen getroffen einen von Denen übrigens, die keinen Spaß verstehen. – »Laß ab, Herr, von den vielen Worten,« sagte er mir, »und antworte mir gerade heraus: Wirst Du mir Dein ganzes Land geben, so wie es ist, oder nicht?« – »Was sprichst Du da,« versetzte ich, – »was bin ich für ein Herr!« (Und fügte noch, wie ich mich erinnere, hinzu: Gott mit Dir!). – »Wenn Du also ein Bauer bist,« antwortet er – »was hab’ ich von Dir und wozu all’ die Reden? Sei so gut, mich ungeschoren zu lassen!«

»Was ich noch sagen wollte: Ich habe bemerkt, daß wenn Einer mir mit Vergnügen zuhört und auch gleich die Bücher nimmt – so geht’s bei ihm zum einen Ohr hinein und zum andern wieder heraus. Oder man stößt auf irgend einen Schönsprecher, auf einen von den Gebildeten, der nichts versteht, als immer nur sein Lieblings-Wort zu wiederholen. So hat mich einer z. B. ganz matt gemacht mit seinem ewigen: »Fabrizirung! « – Was man ihm auch sagen mag, auf Alles hört man immer nur die eine Antwort: »also – so zu sagen – eine Fabrizirung!« – Hol’ Dich der Teufel!,– Noch eine Bemerkung Erinnerst Du Dich, einst – vor langer Zeit – wurde so viel von den »überflüssigen« Menschen, von den Hamletnaturen gesprochen? – Denke Dir: solche »überflüssige« Menschen findet man Jetzt auch unter den Bauern! – Mit anderer Färbung natürlich und dabei meist mit Anlage zur Schwindsucht. Interessante Subjekte – und lassen sich auch gern zu uns herüberziehen; aber zum Handeln taugen sie nichts – ebensowenig wie die früheren Hamletnaturen. Was soll man nun machen? – Eine geheime Typographie eröffnen? Aber an Büchern ist ja kein Mangel, sowohl an solchen, in denen es heißt: »bekreuzige Dich, und nimm das Beil, – als auch an andern, in denen gesagt wird: »nimm einfach das Beil.« Tendenziöse Erzählungen aus dem Volksleben schreiben? Man wird sie nicht drucken wollen. – Oder wirklich das Beil ergreifen? . . . Aber gegen wen, mit wem, wozu? – Damit Dir der Kronssoldat aus der Kronsflinte eine Kugel durch den Kopf jagt? Das wäre ja nur ein verwickelter Selbstmord! Dann mache ich lieber selbst meinem Leben ein Ende. Weiß ich dann doch wenigstens, wann und wie es geschehen wird – und kann mir selbst die Stelle aussuchen, welche von der Kugel getroffen werden soll!

Wahrhaftig, wenn es jetzt irgendwo einen Nationalkrieg gäbe, so würde ich hinziehen – nicht um Jemand zu befreien (Andere befreien, wenn die Eigenen noch nicht frei sind!!) – sondern um ein Ende mit mir zu machen . . .

»Unser Freund Wassili, der uns hier aufgenommen hat, ist ein glücklicher Mensch: er gehört zu unserer Partei – besitzt aber eine merkwürdige Ruhe. – Er hat keine Eile. Einen Andern würde ich deßhalb schelten . . .hm aber kann ich nicht zürnen. Und so ergiebt es sich, daß der Schwerpunkt nicht in der Ueberzeugung liegt, sondern im Charakter. Wassili ist aus einem Guß; der hat keine Ritze, wo man ihm beikommen könnte. – Da hat er denn auch Recht. – Er sitzt oft und lange bei uns, bei Marianne. – Und was besonders merkwürdig ist! Ich liebe sie und sie liebt mich (ich sehe wie Du bei diesen Worten lächelst, aber bei Gott – es ist so, wie ich sage); – und doch weiß ich fast nichts, worüber ich mit ihr sprechen kann. – Mit ihm aber disputirt sie, und unterhält sich und hört ihm zu. – Ich bin nicht eifersüchtig auf ihn; – er will ihr eine Stelle suchen – sie hat ihn wenigstens darum gebeten; – aber bitter wird es mir ums Herz, wenn ich die Beiden ansehe. Und denke Dir: ich brauchte ja nur ein Wörtchen über unsere Heirath fallen zu lassen – sie würde gleich einwilligen – und Sossima, der Priester, erschiene auf der Scene – »Frohlocke, Jesaias!« – und es würde Alles sein, wie es sich gehört. Es würde mir jedoch nicht leichter werden nach diesem Schritt – und es würde Alles bleiben wie es ist. . . Kurz und klein hat mich das Leben zugeschnitten, lieber Wladimir, wie unser Bekannter zu sagen pflegte – erinnerst Du Dich? – jener ewig betrunkene Schneider – wenn er sich über seine Frau beklagte.

»Ich fühle übrigens, daß es nicht mehr lange so fortgehen wird. Ich fühle, daß etwas im Anzuge ist. . .

»Habe ich denn nicht selbst bewiesen und gefordert, daß man »vorgehen« müsse? – Nun, so wollen wir auch vorgehen. »Ich erinnere mich nicht, ob ich Dir von meinem andern Bekannten, dem Verwandten Ssipjagin’s, geschrieben. Der ist am Ende im Stande, einen solchen Brei einzurühren, daß ihn Niemand aufzuessen vermag.

»Ich wollte bereits schließen – aber – es ist nun ein Mal so! Ich wehre mich, ich will nicht dichten – und endige doch damit, daß ich Verse niederschreibe! Mariannen lese ich meine Gedichte ungern vor – sie findet wenig Gefallen daran; Du aber . . . Du lobst doch zuweilen, und namentlich wirst Du gegen Niemand davon sprechen. Ich bin betroffen über eine Erscheinung, die ganz Rußland gemein ist. . . Da sind sie übrigens, diese Verse:

Der Schlaf
 
Schon lange war ich nicht im theuren Vaterland. . .
Doch fand ich nicht, daß merklich sich’s verändert hätte.
Derselbe Stillstand ohne Leben, Sinn, Verstand,
Hier Bauten ohne Dach, dort eine Trümmerstätte,
Und Schmutz, Gestank, und Armuth, Wehmuth, Langewei’l!
Im Volk auch fand denselben Sklavensinn ich wieder. . . .
Frei ist der Bauer nun, und doch – nicht war’s zum heil,
Denn schlaff und matt hängt auch die freie Hand hernieder.
Ja Alles, Alles, wie zuvor . . . Darin jedoch
Sind wir voraus Europa, Asien, allen Landen. . .
Daß ein so fürchterlicher Schlaf wohl niemals noch
Die trauten Vaterlandsgenossen hielt in Banden!
 
 
Ja, Alle schlafen rings umher: in Dorf und Stadt,
In Karten, Schlitten, Tags und Nachts, und stehend, sitzend . . .
Es schläft der Kaufmann, der Beamte, der Soldat
In Schnee und Sonnengluth, sich aus die Flinte stützend!
Der Dieb, der Richter schläft – und schläft sich niemals aus;
Der Bauer schläft beim Pflügen, Mäh’n, in allen Lagen,
Und Väter, Mütter schlafen und das ganze Haus,
Und wer die Andern schlägt, und wer selbst wird geschlagen!
Es schläft allein die Schenke nicht – und in der Hand
Das Branntweinglas, das Haupt dort an den Pol geschlossen,
Die Füße an den Kaukasus, o Vaterland,
So schläfst Du, heil’gnes Rußland, fest und unverdrossen! »
 

Vergieb mir, Freund; der Brief ist so über alle Maßen traurig, daß ich ihn nicht abschicken wollte, ohne Dir am Schlusse wenigstens etwas Komisches zu schreiben (es werden Dir einige gezwungene Reime ausfallen und noch vieles Andere!). – Wann schreibe ich Dir wieder? Und werde ich Dir überhaupt noch schreiben? Was mir auch geschehen mag, ich bin überzeugt, daß Du nicht vergessen wirst —

 

Deinen treuen Freund

A. N.

»P.S. – Ja, es schläft unser Volk . . . Mir däucht jedoch, wenn es je durch Etwas zu erwecken ist – so wird es das nicht sein, was wir denken . . .

Nachdem er die letzte Zeile niedergeschrieben, warf er die Feder fort und legte sich mit den Worten: – »Nun – jetzt mußt Du einschlafen und all den Unsinn vergessen, Dichterling!« – nieder . . . aber lange noch floh ihn der Schlaf.

Am andern Morgen weckte ihn Marianne, indem sie durch sein Zimmer zu Tatjana ging; kaum hatte er sich angekleidet, als sie schon wieder zurückkehrte Ihr Antlitz drückte Freude und Unruhe aus.

– Weißt Du, Alex, – begann sie mit aufgeregter Stimme, – man sagt, daß es im Kreise T., nicht weit von hier, schon losgegangen ist!

– Wie? Was ist losgegangen? Wer sagt das?

– Paul.

– Man sagt, daß die Bauern sich erheben, daß sie keine Steuern zahlen wollen und sich zusammenrotten.

– Hast Du es selbst gehört?

– Tatjana hat mir’s erzählt. – Da ist auch Paul. Frag’ ihn selbst.

Paul trat ein und bestätigte Mariannen’s Worte.

– Im Kreise T.sind Unruhen ausgebrochen – das ist richtig! – sagte Paul, das kleine Bärtchen schüttelnd und die glänzenden schwarzen Augen zusammenkneifend – Das ist wohl ein Werk von Ssergei Michailowitsch. Seit fünf Tagen ist er nicht mehr zu Hause gewesen.

Neshdanow griff nach seiner Mütze.

– Wohin eilst Du? – fragte Marianne.

– Dahin, – antwortete er, ohne die Augen zu erheben und mit den Brauen zuckend, – nach T.

– Dann gehe ich mit Dir. Du nimmst mich doch mit? Laß mich nur das große Tuch umlegen.

– Das ist keine Frauensache, – versetzte Neshdanow finster, noch immer mit niedergeschlagenen Augen, als ob er voll Zornes sei.

– Nein . . . nein! . . . Du thust gut daran zu gehen; sonst würde Dich Markelow für einen Feigling halten. . . Und ich folge Dir.

– Ich bin kein Feigling, – rief Neshdanow mit derselben finsteren Miene.

– Ich wollte sagen, daß er uns Beide für feige halten wird. Ich gehe mit Dir.

Marianne ging, um das Tuch zu holen, in ihr Zimmer. Paul aber brummte ganz leise, als ob er die Luft gleichsam einziehe, ein lang gedehntes »E —eh!« vor sich hin und verschwand sogleich, um Ssolomin von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen.

Marianne war noch nicht erschienen, als Ssolomin schon in’s Zimmer trat. Neshdanow stand am Fenster und drückte seine Stirn in die auf der Fensterscheibe ruhende Hand. Ssolomin klopfte ihm auf die Schulter. Er wandte sich hastig um. Ungekämmt, ungewaschen, wie er war, sah Neshdanow setzt wild und sonderbar aus. Ssolomin hatte sich übrigens auch in der letzten Zeit verändert. Sein Gesicht war gelb und lang geworden. . . . die Lippe ließ die oberen Zähne etwas sichtbar werden . . . Er schien gleichfalls in Aufregung zu sein, so weit seine gleichmäßige Natur solcher fähig war.

– Markelow hat es also doch nicht aushalten können, – begann er. – Das kann sehr schlimm enden, erstens für ihn selbst . . . nun, und dann auch für die Andern . . . .

– Ich will gehen und sehen, was da geschehen ist . . . – versetzte Neshdanow.

– Ich auch, – rief die eben über die Schwelle ihres Zimmers tretende Marianne.

Ssolomin wandte sich langsam zu ihr um.

– Ich würde Ihnen nicht dazu rathen, Marianne. – Sie könnten sich selbst verrathen – und uns auch, ganz unwillkürlich – und unnützer Weise – Mag Neshdanow gehen und ein wenig umherspüren, wenn er es durchaus will . . . aber nur ein wenig! – Wozu wollen Sie aber mit ihm gehen?

– Ich will nicht zurückbleiben

– Sie würden ihm die Hände binden.

Marianne blickte auf Neshdanow. Er stand regungslos da mit unbeweglichem, finsterem Antlitz.

– Wenn aber Gefahr da ist? – fragte sie.

Ssolomin lächelte.

– Fürchten Sie nichts . . . wenn Gefahr da ist – werde ich Sie nicht mehr zurückhalten.

Marianne zog schweigend das Tuch vom Kopf – und setzte sich.

Ssolomin wandte sich darauf zu Neshdanow.

– Du aber, Freund, sieh’ Dich dort wirklich ein wenig um. Vielleicht ist Alles übertrieben worden. Aber, – ich bitte Dich, sei vorsichtig – Du fährst ja übrigens mit meinen Pferden. Komm auch so rasch als möglich zurück. Versprichst Du es, Neshdanow? Versprichst Du es?

– Ja.

– Ganz gewiß?

– Es fügen sich Dir ja Alle hier, von Marianne angefangen!

Neshdanow ging hinaus – ohne sich zu verabschieden. Im Dunkel des Korridors aber tauchte plötzlich Paul auf und lief, mit den schweren Stiefelabsätzen klappernd, die Treppe hinab. Ihm hatte Ssolomin befohlen, Neshdanow nach T. zu bringen.

Ssolomin setzte sich zu Marianne.

– Haben Sie die letzten Worte Neshdanow’s gehört?

– Ja; er ärgert sieh, daß ich mehr auf Sie höre, als auf ihn. Und das ist wahr. Ich liebe ihn und gehorche Ihnen. Er ist mir theurer. – Sie aber stehen mir näher.

Ssolomin streichelte ihr leise die Hand.

– Diese Geschichte . . . ist sehr unangenehm, – begann er endlich. – Wenn Markelow in dieselbe verwickelt ist, so ist er verloren.

Marianne fuhr zusammen.

– Verloren?

– Ja. – Er pflegt nichts halb zu thun, und verbirgt sich auch nicht hinter anderer Leute Rücken.

– Verloren! – wiederholte Marianne flüsternd – und Thränen stoßen ihr übers Angesicht. – Ach, Wassili Fedotitsch! er thut mir so leid. Aber weshalb kann er denn nicht triumphiren? Woher muß er denn durchaus zu Grunde gehen?

– Deshalb, Marianne, weil bei solchen Unternehmungen die Ersten immer zu Grunde gehen, selbst wenn sie erfolgreich sind. . . In der Sache, die er unternommen, werden nicht nur die Ersten und Zweiten zu Grunde gehen, sondern auch die Zehnten . . . die Zwanzigsten.

– Wir werden es also nie erleben?

– Das, was Sie denken? – Niemals. Wir werden es mit diesen leiblichen Augen niemals sehen. Mit den geistigen . . . nun, das ist eine andere Sache. Da ergötze man sich sogleich, so viel man will! Da ist keine Controle!

– Warum sehe ich denn auch Sie, Ssolomin. . .

– Was?

– Warum sehe ich denn auch Sie auf demselben Wege?

– Weil es keinen anderen Weg giebt. Das heißt, mein Ziel ist genau dasselbe, welches Markelow im Auge hat; nur sind unsere Wege verschieden.

– Armer Ssergei Michailowitsch! – wiederholte traurig Marianne. Ssolomin streichelte ihr wieder vorsichtig die Hand.

– Nun, beruhigen Sie sich, noch wissen wir nichts Gewisses. Warten wir ab, bis Paul uns weitere Nachrichten bringt. – In unserer Lage heißt es: fest sein. Die Engländer sagen: »Never say die« – Ein gutes Sprichwort. Besser als das russische: »Komm das Unglück, so öffne das Thor!« – Weshalb denn vor der Zeit klagen und sich grämen?