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Read the book: «Aufzeichnungen eines Jägers», page 23

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»Ist der Herr zu Hause?« fragte ich.

»Das weiß Gott allein!« antwortete der Bursche. »Klopfen Sie einmal an.«

Ich sprang aus dem Wagen und trat auf die Treppe des Wohnhauses.

Die Behausung des Herrn Tschertopchanow bot einen sehr traurigen Anblick: Die Balken waren geschwärzt und hatten sich geworfen, der Schornstein war eingestürzt, die Ecken waren verfault und eingesunken, die kleinen Fenster mit den dunkelgrauen Fensterscheiben blickten unsagbar trübsinnig unter dem zottigen, herabhängenden Dach hervor – manche alten Bettlerinnen haben solche Augen. Ich klopfte an; niemand antwortete mir. Aber hinter der Tür hörte ich die scharf gesprochenen Worte: »As, buki, wedi; paß auf, du Narr!« sprach eine heisere Stimme. »As, buki, wedi, glagolj . . . aber nein! Glagolj, dobro, jestj! jestj . . .!Benennungen der Buchstaben des altrussischen Alphabets. Jestj(e) heißt auch essen. (Anm. d. Ü.) Nun, Dummkopf!«

Ich klopfte zum zweitenmal.

Die gleiche Stimme rief: »Tritt ein! Wer ist da?«

Ich trat in ein kleines, leeres Vorzimmer und erblickte durch die offene Tür Tschertopchanow selbst. Er saß in einem bucharischen Schlafrock voller Fettflecke, einer furchtbar weiten Pluderhose und einem roten Käppchen auf einem Stuhl, drückte mit der einen Hand einem jungen Pudel die Schnauze zusammen und hielt mit der andern ein Stück Brot dicht über dessen Nase.

»Ah!« sagte er mit Würde und ohne sich vom Platz zu rühren: »Freue mich sehr über Ihren Besuch. Bitte sehr, Platz zu nehmen. Ich mühe mich gerade mit dem Vensor ab . . . Tichon Iwanytsch«, fügte er hinzu, die Stimme erhebend, »komm bitte her! Es ist Besuch da.«

»Sofort, sofort«, antwortete aus dem Nebenzimmer Tichon Iwanytsch. »Mascha, gib mir die Halsbinde her.«

Tschertopchanow wandte sich wieder dem Vensor zu und legte ihm das Stück Brot auf die Nase. Ich sah mich um: Das Zimmer enthielt außer einem Ausziehtisch voller Buckel mit dreizehn Beinen verschiedener Länge und den vier durchgesessenen Rohrstühlen keinerlei Möbel; die vor sehr langer Zeit geweißten Wände mit blauen, sternförmigen Flecken waren an vielen Stellen abgebröckelt; zwischen den Fenstern hing ein zerschlagener trüber Spiegel in einem riesengroßen, mahagonifarbenen Rahmen. In den Ecken standen Pfeifenrohre und Gewehre; von der Decke hingen dicke schwarze Spinngewebe herab.

»As, buki, wedi, glagolj, dobro«, sprach langsam Tschertopchanow und schrie plötzlich wie rasend auf: »Jestj! Jestj! Jestj . . .! So ein dummes Vieh . . .! Jestj!«

Der unglückliche Pudel zitterte aber nur und wagte nicht, das Maul zu öffnen; er fuhr fort, mit schmerzhaft eingezogenem Schweif zu sitzen, verzog die Schnauze und zwinkerte und blinzelte traurig mit den Augen, als wollte er sagen: Gewiß, ganz wie Sie wünschen!

»Friß doch! Hier!« wiederholte der unerbittliche Gutsbesitzer.

»Sie haben ihn eingeschüchtert«, bemerkte ich.

»Dann fort mit ihm!«

Er gab ihm einen Fußtritt. Der Ärmste erhob sich still, ließ das Stück Brot von der Nase fallen und zog sich, wie auf den Zehen, tiefgekränkt ins Vorzimmer zurück. Und in der Tat: Ein fremder Mensch macht zum erstenmal seinen Besuch, er aber wird so behandelt. Die Tür des Nebenzimmers knarrte leise, und Herr Nedopjuskin trat freundlich grüßend und lächelnd herein.

Ich stand auf und verbeugte mich.

»Lassen Sie sich nicht stören – lassen Sie sich nicht stören«, stammelte er.

Wir setzten uns, Tschertopchanow ging ins Nebenzimmer.

»Sind Sie schon lange hier in unserer gesegneten Gegend?« begann Nedopjuskin mit weicher Stimme. Er hüstelte in die vorgehaltene Hand und hielt die Finger des Anstandes halber vor die Lippen.

»Seit zwei Monaten schon.«

»So, so.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Ein angenehmes Wetter heute«, fuhr Nedopjuskin fort und sah mich so dankbar an, als hinge das schöne Wetter von mir ab. »Das Getreide, kann man wohl sagen, steht vortrefflich.«

Ich neigte bejahend den Kopf. Wir schwiegen wieder.

»Pantelej Jeremejitsch hat gestern zwei Hasen gehetzt«, sagte nicht ohne Anstrengung Nedopjuskin, der offenbar das Gespräch beleben wollte. »Ja, zwei sehr große Hasen.«

»Hat Herr Tschertopchanow gute Hunde?«

»Ja, wunderbare Hunde!« entgegnete Nedopjuskin freudig: »Man kann wohl sagen, es sind die besten Hunde im Gouvernement.« Er rückte näher zu mir heran. »Aber was! Pantelej Jeremejitsch ist solch ein Mensch: Was er sich nur wünscht, was ihm nur einfällt, eh man sich’s versieht, ist es schon fertig und brühwarm da. Pantelej Jeremejitsch ist, ich sage Ihnen . ..«

Tschertopchanow trat ins Zimmer. Nedopjuskin lächelte, verstummte und wies auf ihn mit den Augen, als wollte er sagen: Hier, überzeugen Sie sich selbst.

Wir begannen ein Gespräch über die Jagd.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen meine Meute zeige?« fragte mich Tschertopchanow und rief, ohne meine Antwort abzuwarten, nach Karp.

Ein kräftiger Bursche in einem grünen Nankingkaftan mit blauem Kragen und Livreeknöpfen trat herein.

»Befiehl Fomka«, sagte Tschertopchanow kurz, »Ammalat und Saiga hereinzubringen, aber in Ordnung, verstehst du?«

Karp lachte mit dem ganzen Gesicht, gab einen unartikulierten Laut von sich und ging hinaus. Fomka kam schön gekämmt und zugeknöpft und in Stiefeln mit den Hunden. Des Anstandes halber bewunderte ich die dummen Tiere (alle Windhunde sind außerordentlich dumm). Tschertopchanow spuckte dem Ammalat direkt in die Nasenlöcher, was übrigens dem Hund nicht das geringste Vergnügen zu bereiten schien. Auch Nedopjuskin streichelte Ammalat rückwärts. Wir fingen wieder zu plaudern an. Tschertopchanow wurde allmählich ganz sanft und hörte auf, sich zu brüsten und zu schnauben; sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er blickte mich und Nedopjuskin an . . .

»Eh!« rief er plötzlich aus. »Was soll sie dort allein sitzen? Mascha! Du, Mascha! Komm mal her!«

Im Nebenzimmer rührte sich jemand, aber eine Antwort kam nicht.

»Ma-a-scha«, wiederholte Tschertopchanow freundlich, »komm doch her. Fürchte dich nicht.«

Die Tür ging leise auf, und ich erblickte eine Frau von etwa zwanzig Jahren, groß und schlank, mit einem dunklen Zigeunergesicht, gelbbraunen Augen und einem pechschwarzen Zopf; die großen weißen Zähne leuchteten zwischen den vollen und roten Lippen. Sie trug ein weißes Kleid; ein blauer Schal, am Halse mit einer goldenen Nadel festgesteckt, bedeckte zur Hälfte ihre feinen, rassigen Arme. Sie machte zwei Schritte mit der scheuen Unbeholfenheit einer Wilden, blieb stehen und senkte das Gesicht.

»Hier, ich stelle Ihnen vor«, sagte Pantelej Jeremejitsch, »meine richtige Frau ist sie eigentlich nicht, aber so gut wie eine Frau.«

Mascha errötete leicht und lächelte verlegen. Ich verneigte mich vor ihr besonders tief. Sie gefiel mir sehr. Die feine Adlernase mit den offenen, halb durchsichtigen Flügeln, der kühne Schwung der hohen Augenbrauen, die blassen, ein wenig eingefallenen Wangen, alle ihre Gesichtszüge drückten launische Leidenschaftlichkeit und sorglose Ausgelassenheit aus. Unter dem geflochtenen Zopf liefen zwei glänzende Haarsträhnen den breiten Hals herab – ein Zeichen von Rasse und Kraft.

Sie trat ans Fenster und setzte sich. Ich wollte ihre Verlegenheit nicht noch vergrößern und begann ein Gespräch mit Tschertopchanow. Mascha wandte etwas den Kopf und musterte mich mit verstohlenen, wilden und schnellen Blicken. Ihre Blicke waren so schnell wie ein Schlangenstachel. Nedopjuskin setzte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lächelte wieder. Beim Lächeln runzelte sie die Nase und hob die Oberlippe, was ihrem Gesicht etwas von einer Katze und vielleicht auch von einer Löwin verlieh . . .

Oha, du bist ein Rührmichnichtan, dachte ich mir, indem ich meinerseits verstohlen ihre biegsame Taille, die eingefallene Brust und die eckigen, raschen Bewegungen beobachtete.

»Was glaubst du, Mascha«, fragte Tschertopchanow, »man sollte doch dem Gast etwas vorsetzen, wie?«

»Wir haben Eingemachtes«, antwortete sie.

»Nun, gib das Eingemachte her, bei dieser Gelegenheit auch den Schnaps. Hör, Mascha«, rief er ihr nach, »bring auch die Gitarre!«

»Wozu die Gitarre? Ich werde nicht singen.«

»Warum nicht?«

»Ich will nicht.«

»Unsinn, du wirst schon wollen, wenn . . .«

»Was?« fragte Mascha, schnell die Brauen runzelnd.

»Wenn man dich darum bittet«, sprach Tschertopchanow den Satz nicht ohne Verlegenheit zu Ende.

»Ach so!«

Sie ging hinaus, kehrte bald mit dem Eingemachten und mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder ans Fenster. Auf ihrer Stirn war noch eine Runzel zu sehen; die beiden Augenbrauen hoben und senkten sich wie die Fühler einer Wespe . . . Haben Sie schon einmal bemerkt, Leser, was für ein böses Gesicht so eine Wespe hat? Nun, dachte ich mir, es wird ein Gewitter geben. Das Gespräch wollte nicht ordentlich in Fluß kommen; Nedopjuskin war gänzlich verstummt und lächelte gespannt; Tschertopchanow keuchte, errötete und glotzte; ich hatte schon die Absicht, mich zu empfehlen . . . Mascha erhob sich plötzlich, öffnete das Fenster, steckte den Kopf hinaus und rief wütend einem vorübergehenden Bauernweibe zu: »Aksinja!« Das Weib fuhr zusammen, wollte sich umdrehen, glitt aber aus und fiel schwer zu Boden. Mascha warf sich zurück und begann laut zu lachen; auch Tschertopchanow lachte; Nedopjuskin piepste vor Vergnügen. Wir wurden alle lebendig. Das Gewitter hatte sich durch einen einzigen Blitz entladen . . . die Luft war nun rein.

Eine halbe Stunde später hätte uns niemand wiedererkannt; wir plauderten und tollten wie die Kinder. Mascha war ausgelassener als alle. Ihr Gesicht war blaß geworden, die Nasenlöcher hatten sich gebläht, der Blick war leuchtender und zugleich dunkler geworden. Die Wilde war entfesselt. Nedopjuskin humpelte auf seinen dicken und kurzen Beinchen hinter ihr her wie ein Enterich hinter einer Ente. Selbst Vensor kam unter der Bank im Vorzimmer hervorgekrochen, blieb eine Weile auf der Schwelle stehen, sah uns an und begann plötzlich zu springen und zu bellen, Mascha flog flink wie ein Vögelchen ins andere Zimmer hinüber, brachte die Gitarre, warf sich den Schal von den Schultern, setzte sich rasch und stimmte ein Zigeunerlied an. Ihre Stimme klang und zitterte wie ein gesprungenes Glasglöckchen, sie schwoll an und erstarb . . . Es wurde einem dabei so süß und so bange ums Herz. – »Ai, brenne, glüh und sprich . . .!« Tschertopchanow fing an zu tanzen. Nedopjuskin stampfte und strampelte mit den Füßen. Mascha war ganz Bewegung und bog sich wie Birkenrinde im Feuer, die feinen Finger liefen hurtig über die Saiten, der braune Hals hob sich langsam unter der doppelten Bernsteinkette. Bald verstummte sie, sank erschöpft hin und zupfte lustlos an den Saiten; Tschertopchanow blieb stehen, zuckte nur mit einer Achsel und tänzelte auf einem Fleck, während Nedopjuskin wie ein Porzellanchinese mit dem Kopf wackelte; bald sang sie wieder aus voller Kehle wie eine Wahnsinnige, richtete sich auf und reckte die Brust, Tschertopchanow hockte sich wieder bis zur Erde nieder, sprang bis an die Decke, drehte sich wie ein Kreisel und schrie: »Schneller . . .!«

»Schneller, schneller, schneller, schneller!« wiederholte Nedopjuskin.

Spät am Abend verließ ich Bessonowo.

Das Ende Tschertopchanows

Etwa zwei Jahre nach meinem Besuch bei Pantelej Jeremejitsch trafen ihn harte Schicksalsschläge, Schicksalsschläge im buchstäblichen Sinne des Wortes. Unannehmlichkeiten, Mißerfolge und Unglücksfälle hatte er auch schon früher erlebt; aber er hatte ihnen keine Beachtung geschenkt und nach wie vor wie ein Fürst gelebt. Der erste Schlag, der ihn traf, war für ihn am empfindlichsten: Mascha verließ ihn.

Was sie bewogen hatte, aus seinem Haus zu gehen, an das sie sich so gut gewöhnt zu haben schien, ist schwer zu sagen. Tschertopchanow hielt bis ans Ende seiner Tage an der Ansicht fest, daß die Schuld an Maschas Verrat ein junger Nachbar gewesen sei, ein Ulanenrittmeister a. D. namens Jaff, der nach den Worten Pantelej Jeremejitschs nur dadurch einnahm, daß er ununterbrochen seinen Schnurrbart drehte, sehr viel Pomade gebrauchte und mit wichtiger Miene ›Hm‹ zu sagen pflegte; es ist aber eher anzunehmen, daß hier das unstete Zigeunerblut, das in Maschas Adern floß, im Spiele war. Wie dem auch sei, an einem schönen Sommerabend band Mascha einige Kleidungsstücke zu einem kleinen Bündel zusammen und verließ Tschertopchanows Haus.

Vorher hatte sie drei Tage in einem Winkel gesessen, zusammengekauert und an die Wand gedrückt, wie eine verwundete Füchsin; sie hatte kein Wort gesprochen, sondern nur immer die Augen herumschweifen lassen, nachgedacht, mit den Brauen gezuckt, die Zähne gefletscht und die Arme bewegt, als wenn sie sich in etwas einhüllte. Solche Launen hatte sie auch schon früher gehabt, aber so lange hatte der Zustand noch nie gedauert; Tschertopchanow wußte es, beunruhigte daher weder sich selbst noch sie. Als er aber auf dem Heimweg vom Hundezwinger, wo, nach den Worten seines Jagdgehilfen, die beiden letzten Windhunde ›verreckt‹ waren, die Dienstmagd traf, die ihm mit bebender Stimme meldete, Maria Akinfijewna lasse ihn grüßen und ihm sagen, daß sie ihm alles Gute wünsche, zu ihm aber nicht mehr zurückkehren werde – da drehte sich Tschertopchanow ein paarmal auf einem Fleck, gab ein dumpfes Gebrüll von sich und stürzte der Flüchtigen nach; für jeden Fall nahm er seine Pistole mit.

Er holte sie zwei Werst von seinem Hause ein, neben dem Birkenwäldchen an der Landstraße, die nach der Kreisstadt führte. Die Sonne stand tief am Horizont, und alles ringsum war plötzlich rot geworden: die Bäume, das Gras und die Erde.

»Zu Jaff! Zu Jaff!« stöhnte Tschertopchanow, sobald er Mascha erblickte. »Zu Jaff!« sagte er wieder, auf sie zulaufend und bei jedem Schritt fast stolpernd.

Mascha blieb stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Sie stand mit dem Rücken zum Licht und erschien ganz schwarz, wie aus dunklem Holz geschnitzt. Nur das Weiße ihrer Augen leuchtete wie silberne Mandeln, die Pupillen selbst schienen aber noch dunkler. Sie warf ihr Bündel auf die Seite und kreuzte die Arme.

»Zu Jaff gehst du, Nichtswürdige!« wiederholte Tschertopchanow. Er wollte sie an der Schulter packen, bekam aber, von ihrem Blick getroffen, Angst und hielt verlegen inne.

»Ich gehe gar nicht zu Herrn Jaff, Pantelej Jeremejitsch«, antwortete Mascha ruhig und leise, »aber ich kann mit Ihnen nicht mehr leben.«

»Wieso kannst du nicht mehr leben? Warum? Habe ich dich denn irgendwie gekränkt?«

Mascha schüttelte den Kopf.

»Sie haben mich durch nichts gekränkt, Pantelej Jeremejitsch, aber mir ist bei Ihnen zu öde . . . Für das Vergangene danke ich Ihnen, aber bleiben kann ich nicht, nein!«

Tschertopchanow war erstaunt; er schlug sich sogar auf die Schenkel und sprang in die Höhe.

»Was ist denn das? Hast bei mir so lange gelebt, hast nichts als Freude und Ruhe gehabt, und plötzlich langweilst du dich bei mir! ›Ich will ihn verlassen‹, sagst du auf einmal. Nimmst ein Tuch über den Kopf und gehst fort. Alle Achtung wurde dir bei mir erwiesen, ganz wie einer Gnädigen . . .«

»Das brauchte ich gar nicht«, unterbrach ihn Mascha.

»Das brauchtest du nicht? Bist aus einer Zigeunerin und Herumtreiberin eine Gnädige geworden, und das brauchtest du nicht? Wieso brauchtest du das nicht, du Hams Brut? Kann man es denn glauben? Verrat steckt dahinter, Verrat!« Er zischte wieder.

»Ich habe gar keinen Verrat im Sinn und auch niemals im Sinne gehabt«, sagte Mascha mit ihrer singenden, deutlichen Stimme, »aber ich habe es Ihnen schon gesagt: Die Sehnsucht hat mich gepackt.«

»Mascha!« rief Tschertopchanow und schlug sich mit der Faust vor die Brust, »Hör doch auf, genug, hast mich genug gequält, jetzt laß es sein! Bei Gott! Bedenke nur, was Tichon sagen wird, habe doch wenigstens mit ihm Mitleid!«

»Grüßen Sie Tichon Iwanytsch von mir und sagen Sie ihm . . .«

Tschertopchanow hob die Arme: »Nein, du irrst, du entkommst mir nicht! Dein Jaff wird es niemals erleben!«

»Herr Jaff . . .«, begann Mascha.

»Was ist er für ein Herr Jaff?« äffte Tschertopchanow nach. »Er ist ein Schuft, ein Gauner und hat eine Fratze wie ein Affe!«

Eine halbe Stunde schlug sich Tschertopchanow mit Mascha herum. Bald trat er ganz dicht an sie heran, bald sprang er zurück, holte zu einem Schlag aus, verneigte sich wieder vor ihr, weinte und fluchte . . . »Ich kann nicht«, wiederholte Mascha, »es ist mir so traurig . . . Die Langweile wird mich töten.« Ihr Gesicht nahm allmählich einen so gleichgültigen, fast schläfrigen Ausdruck an, daß Tschertopchanow fragte, ob man sie nicht mit irgendeinem Trank behext hätte.

»Die Langweile«, sagte sie zum zehntenmal.

»Und wenn ich dich töte?« rief er plötzlich und holte aus der Tasche die Pistole.

Mascha lächelte, ihr Gesicht belebte sich. »Nun, töten Sie mich, Pantelej Jeremejitsch, das ist in Ihrer Gewalt, aber zurückkehren werde ich nicht.«

»Du wirst nicht zurückkehren . . .?« Tschertopchanow spannte den Hahn.

»Ich werde nicht zurückkehren, Liebster. Nie im Leben kehre ich zurück. Ich halte mein Wort.«

Tschertopchanow steckte ihr plötzlich die Pistole in die Hand und setzte sich auf die Erde. »Nun, dann töte du mich! Ohne dich will ich nicht leben. Du magst mich nicht mehr, und auch ich mag nichts mehr im Leben.«

Mascha bückte sich, hob ihr Bündelchen auf, legte die Pistole ins Gras, den Lauf von Tschertopchanow abgewandt, und rückte näher zu ihm heran.

»Ach, Liebster, was grämst du dich? Oder kennst du uns Zigeunerinnen nicht? So ist einmal unsere Art, unsere Sitte. Wenn die Sehnsucht kommt und das Herz in ein fremdes, fernes Land lockt – wie kann man dann bleiben? Denke an deine Mascha – eine solche Freundin findest du nie wieder; auch ich vergesse dich nicht, mein Falke. Unser Miteinanderleben ist aber aus!«

»Ich habe dich geliebt, Mascha«, murmelte Tschertopchanow durch die Finger, die er sich aufs Gesicht preßte.

»Auch ich habe Sie geliebt, Freund Pantelej Jeremejitsch!«

»Ich habe dich geliebt, ich liebe dich wahnsinnig, bis zur Bewußtlosigkeit – und wenn ich bedenke, daß du mich so ohne jeden Grund, so mir nichts, dir nichts, verläßt und dich in der Welt herumtreiben willst, so stelle ich mir vor, daß, wenn ich nicht so ein armer Teufel wäre, du mich niemals verlassen hättest!«

Auf diese Worte hatte Mascha nur ein Lächeln. »Und du hast mich doch immer uneigennützig genannt!« sagte sie und schlug ihn kräftig auf die Schulter.

Er sprang auf die Füße. »Nun, dann nimm wenigstens Geld von mir – was willst du denn ohne Geld anfangen? Aber noch besser: Töte mich! Ich sage es dir klar und deutlich: Töte mich auf einen Schlag!«

Mascha schüttelte wieder den Kopf. »Dich töten? Und wofür wird man nach Sibirien verschickt, mein Lieber?«

Tschertopchanow fuhr zusammen. »Also nur darum nicht, aus Furcht vor Sibirien . . .«

Er warf sich wieder ins Gras.

Mascha stand eine Weile schweigend über ihm. »Du tust mir leid, Pantelej Jeremejitsch«, sagte sie mit einem Seufzer, »du bist ein guter Mensch . . . aber es ist nichts zu machen – leb wohl!«

Sie wandte sich weg und machte zwei Schritte. Die Nacht war schon angebrochen, von allen Seiten schwebten dunkle Schatten heran. Tschertopchanow sprang schnell auf und packte Mascha von rückwärts an den beiden Ellenbogen.

»Du gehst also, Schlange? Zu Jaff!«

»Leb wohl!« sagte Mascha ausdrucksvoll und scharf. Sie riß sich los und ging.

Tschertopchanow sah ihr nach, lief zu der Stelle, wo die Pistole lag, ergriff sie, zielte und schoß . . . Aber bevor er losdrückte, wandte er die Waffe nach oben; die Kugel pfiff über Maschas Kopf hinweg. Sie sah ihn im Gehen über die Schulter an und ging, sich wiegend, weiter, als neckte sie ihn.

Er bedeckte sich das Gesicht und rannte davon . . . Aber er war noch nicht fünfzig Schritte gelaufen, als er plötzlich wie angewurzelt stehenblieb. Eine bekannte, allzu bekannte Stimme schlug an sein Ohr. Mascha sang. »O schöne Zeit, o Jugendzeit!« sang sie; jeder Ton schwebte durch die Abendluft, klagend und sehnsuchtsvoll. Tschertopchanow lauschte. Die Stimme entfernte sich immer mehr; bald erstarb sie ganz, bald tönte sie wieder, kaum hörbar, doch voller Glut . . .

Das tut sie mir zum Trotz, dachte sich Tschertopchanow; aber er stöhnte gleich darauf: »Ach, nein! Sie nimmt von mir Abschied für immer«, und brach in Tränen aus.

Am nächsten Tag erschien er in der Wohnung des Herrn Jaff, der als echter Weltmann die Einsamkeit des Landlebens nicht liebte und sich darum in der Kreisstadt niedergelassen hatte, ›näher bei den jungen Damen‹, wie er sich ausdrückte. Tschertopchanow traf Jaff nicht an; nach den Worten seines Kammerdieners war er einen Tag vorher nach Moskau abgereist.

»Ja, es stimmt!« rief Tschertopchanow voller Wut. »Es ist eine abgekartete Sache, sie ist mit ihm geflohen . . . aber warte!«

Er stürzte sich trotz des Widerstandes des Kammerdieners ins Kabinett des jungen Rittmeisters. Im Kabinett hing über dem Sofa ein in Öl gemaltes Bild des Hausherrn.

»Ah, da bist du, du schwanzloser Affe!« donnerte Tschertopchanow; er sprang aufs Sofa, schlug mit der Faust auf die gespannte Leinwand und machte ein großes Loch.

»Sag deinem nichtsnutzigen Herrn«, wandte er sich an den Kammerdiener, »daß der Edelmann Tschertopchanow in Abwesenheit der wirklichen Fratze deines Herrn die gemalte verstümmelt hat; wenn er aber von mir Genugtuung haben will, so weiß er selbst, wo er den Edelmann Tschertopchanow finden kann! Andernfalls aber werde ich ihn finden, auf dem Meeresgrund werde ich ihn finden, den gemeinen Affen!«

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, sprang Tschertopchanow vom Sofa und entfernte sich feierlich.

Aber der Rittmeister Jaff verlangte von ihm keinerlei Genugtuung – er begegnete ihm sogar niemals mehr; auch Tschertopchanow dachte gar nicht daran, seinen Feind zu suchen, und es kam zu gar keinem Auftritt zwischen ihnen. Mascha selbst war aber bald darauf spurlos verschwunden. Tschertopchanow fing an zu saufen, kam aber wieder zur Vernunft. Doch da traf ihn der zweite Schlag.

Und zwar: Sein Herzensfreund Tichon Iwanytsch Nedopjuskin war gestorben. Schon zwei Jahre vor seinem Tode war es mit seiner Gesundheit nicht am besten bestellt – er litt an Atemnot, schlief fortwährend ein und konnte, wenn er erwachte, lange nicht zu sich kommen; der Kreisarzt behauptete, es seien kleine Schlaganfälle. Während der drei Tage, die Maschas Flucht vorangingen, der drei Tage, an denen sie von der ›Sehnsucht gepackt‹ war, lag Nedopjuskin zu Hause in Besselendejewka, er hatte sich stark erkältet. Um so mehr überraschte ihn Maschas Schritt, er traf ihn vielleicht noch härter als Tschertopchanow selbst. Infolge seines sanften und scheuen Charakters äußerte er nichts außer der zärtlichen Teilnahme und eines schmerzhaften Erstaunens . . . aber alles in ihm war gerissen. »Sie hat aus mir meine Seele genommen«, flüsterte er zu sich selbst, auf seinem mit Wachstuch bezogenen Lieblingssofa sitzend und mit den Fingern spielend. Selbst als Tschertopchanow sich schon beruhigt hatte, hatte sich Nedopjuskin noch immer nicht erholt – er fühlte noch immer, daß alles in seinem Innern leer sei. – »Hier«, pflegte er zu sagen, indem er auf die Mitte der Brust über dem Magen zeigte.

So zog er bis zum Winter hin. Als die ersten Fröste kamen, wurde es mit seiner Atemnot etwas besser, dafür traf ihn ein wirklicher Schlag, und kein ›kleiner‹ mehr. Er verlor nicht gleich die Besinnung; er konnte noch Tschertopchanow erkennen und antwortete sogar auf den verzweifelten Aufschrei seines Freundes: »Was ist mit dir, Ticha?«

»Pa-a-jej Je-e-jejitsch, zu Ih-en Die-sten.«

Das hinderte ihn aber nicht, am selben Tag zu sterben, noch vor der Ankunft des Kreisarztes, dem angesichts der kaum erstarrten Leiche nichts mehr übrigblieb, als mit dem traurigen Bewußtsein der Vergänglichkeit alles Irdischen um ein Schnäpschen mit gedörrtem Störrücken zu bitten.

Sein Gut hatte Tichon Iwanowitsch, wie es auch zu erwarten war, seinem ›verehrtesten Wohltäter und großmütigsten Gönner‹ Pantelej Jeremejitsch Tschertopchanow vermacht; aber der verehrteste Wohltäter hatte davon keinen großen Nutzen, da es bald darauf öffentlich versteigert wurde – zum Teil, um die Kosten des Grabmonuments zu decken, das Tschertopchanow (es war offenbar eine väterliche Ader in ihm!) über der Asche seines Freundes zu errichten beschloß.

Dieses Monument, eine Statue, die einen betenden Engel darstellen sollte, verschrieb er sich aus Moskau; aber der ihm empfohlene Kommissionär sagte sich, daß in der Provinz die Kenner der Skulptur dünn gesät seien, und schickte ihm statt des Engels eine Flora, die viele Jahre einen verwilderten Park aus der Zeit Katharinas der Großen bei Moskau geschmückt hatte – um so mehr, als diese im übrigen recht hübsche Rokokostatue mit runden Händchen, üppigen Locken, einer Rosengirlande auf dem entblößten Busen und geschwungenem Oberkörper ihn, den Kommissionär, keine Kopeke gekostet hatte. So steht die mythologische Göttin mit graziös erhobenem Füßchen auch heute noch auf dem Grab Tichon Iwanowitschs und schaut mit der echten Grimasse einer Pompadour auf die um sie herumspazierenden Kälber und Schafe, diese unvermeidlichen Besucher unserer ländlichen Friedhöfe.

Nach dem Verlust seines treuen Freundes ergab sich Tschertopchanow wieder dem Trunke, diesmal in einer viel besorgniserregenderen Weise. Seine Geschäfte gingen immer schlechter. Er konnte nicht mehr jagen, sein letztes Geld ging ihm aus, die letzten Leibeigenen liefen ihm davon. Die Vereinsamung Pantelej Jeremejitschs war nun vollständig, er hatte niemanden, mit dem er ein Wort hätte sprechen können, geschweige denn, vor dem er sein Herz ausschütten konnte. Nur sein Stolz allein hatte nicht abgenommen. Im Gegenteil – je schlimmer seine Verhältnisse waren, desto stolzer, hochmütiger und unzugänglicher wurde er selbst. Zuletzt war er ganz verwildert. Nur ein Trost, eine Freude war ihm geblieben: ein wunderbares graues Reitpferd von Donscher Rasse, das er Malek-Adel nannte, ein wirklich wunderbares Tier.

Zu diesem Pferd war er auf folgende Weise gekommen.

Als Tschertopchanow einmal durch ein Nachbardorf ritt, hörte er neben der Schenke einen Haufen Bauern schreien und lärmen. In der Mitte der Menge hoben und senkten sich fortwährend kräftige Fäuste.

»Was ist da los?« fragte er mit dem ihm eigenen befehlenden Ton ein altes Weib, das vor der Schwelle ihres Hauses stand.

An den Türbalken gelehnt und wie schlafend, blickte das Weib in der Richtung nach der Schenke. Ein strohblonder Junge im bloßen Kattunhemd mit einem Kreuzchen aus Zypressenholz auf der nackten Brust saß mit gespreizten Beinchen und geballten Fäustchen zwischen ihren Bastschuhen; gleich daneben pickte ein Küken an einer versteinerten Schwarzbrotrinde.

»Gott weiß es, Väterchen«, antwortete die Alte, indem sie sich vorbeugte und ihre runzelige dunkle Hand auf den Kopf des Jungen legte. »Man sagt, die Unsrigen schlagen einen Juden.«

»Was, einen Juden? Was für einen Juden?«

»Das weiß Gott, Väterchen. Bei uns ist so ein Jude aufgetaucht; woher er kommt, wer kann es wissen? Waßja, Liebster, geh zu der Mutter. – Ksch, ksch, du Mistvieh!« Die Alte verscheuchte das Küken, und Waßja ergriff ihren Rocksaum. »Also schlägt man ihn, Herr.«

»Man schlägt ihn? Warum?«

»Ich weiß es nicht, Väterchen. Er wird es wohl verdient haben. Wie soll man ihn nicht schlagen! Er hat doch Christus ans Kreuz geschlagen!«

Tschertopchanow schrie auf, schlug das Pferd mit der Peitsche auf den Hals und sprengte mitten in die Menge hinein; dann fing er an, auf die Bauern wahllos nach rechts und nach links mit der Peitsche zu schlagen und dabei aufgeregt zu schreien: »Will-kür! Will-kür! Das Gesetz straft und nicht Pri-vat-per-so-nen! Das Gesetz! Das Ge-setz!! Das Ge-setz!!«

Es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als die Menge sich nach allen Seiten zerstreut hatte. Auf der Erde, vor der Tür der Schenke, lag aber ein kleines, hageres schwärzliches Geschöpf in einem Kaftan aus Nanking, zerzaust und zerschlagen . . . Ein bleiches Gesicht, leblose Augen, ein offener Mund . . . Was war das? Die Erstarrung des Schreckens oder schon der Tod selbst?

»Warum habt ihr den Juden erschlagen?« rief Tschertopchanow mit Donnerstimme und schwang die Reitpeitsche.

Ihm antwortete ein schwaches Murren in der Menge. Der eine Bauer griff sich an die Schulter, der andere an die Hüfte, der dritte an die Nase. »Der kann hauen!« ertönte es in den hinteren Reihen.

»Mit der Reitpeitsche! So kann es ein jeder!« versetzte eine andere Stimme.

»Warum habt ihr den Juden erschlagen? Euch frage ich, ihr verdammten Asiaten!« wiederholte Tschertopchanow.

Hier sprang aber das auf der Erde liegende Geschöpf flink auf die Beine, lief hinter Tschertopchanow und griff krampfhaft nach dem Rand seines Sattels.

»Der ist zäh!« ertönte es wieder in den hinteren Reihen. »Wie eine Katze!«

»Euer Hochwohlgeboren, nehmen Sie sich meiner an, retten Sie mich!« stammelte indessen der unglückliche Jude, sich mit der ganzen Brust an das Bein Tschertopchanows drückend. »Sonst erschlagen sie mich, sie erschlagen mich, Euer Hochwohlgeboren!«

»Warum schlagen sie dich?« fragte Tschertopchanow.

»Bei Gott, ich weiß es nicht! Das Vieh fing an bei ihnen zu fallen, und sie glauben . . . ich aber . . .«

»Nun, das werden wir später untersuchen!« unterbrach ihn Tschertopchanow. »Halte dich jetzt an meinem Sattel fest und folge mir. – Ihr aber«, fügte er hinzu, indem er sich an die Menge wandte, »kennt ihr mich? Ich bin der Gutsbesitzer Pantelej Tschertopchanow und wohne auf dem Gut Bessonowo – wenn ihr wollt, könnt ihr euch über mich beschweren, auch über den Juden zugleich!«

»Warum sollen wir uns beschweren?« sagte mit einer tiefen Verbeugung ein gesetzter Bauer mit grauem Bart, der ganz wie ein alter Patriarch aussah. (Den Juden hatte er übrigens genauso wie die anderen mißhandelt.) »Wir kennen dich, Väterchen Pantelej Jeremejitsch, gut; wir sind deiner Gnaden dankbar, daß du uns eine Lehre erteilt hast!«

»Warum sollen wir uns beschweren!« fielen ihm die andern ins Wort. »Mit dem Ungetauften werden wir aber schon abrechnen! Er entkommt uns nicht! Wir werden ihn wie einen Hasen im Felde . . .«

Tschertopchanow bewegte seinen Schnurrbart, schnaubte und ritt im Schritt auf sein Gut, begleitet vom Juden, den er auf die gleiche Weise von seinen Bedrängern befreit hatte wie einst den Tichon Nedopjuskin.

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Release date on Litres:
10 December 2019
Volume:
510 p. 1 illustration
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