Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots
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Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

Eine literarische Suchbewegung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0034-4


Inhalt

  Für M.J.A.

  Die vorliegende Studie Das ...

  Einleitung

  ERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR

  1 Cécile Wajsbrot 1.1 Biographischer Hintergrund 1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots 1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland

  2 Darstellung des literarischen Raums 2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums 2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi

  ZWEITER TEIL (B) ANALYSE DER LITERARISCHEN SUCHBEWEGUNGEN IM ERZÄHLWERK CÉCILE WAJSBROTS

  1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder 1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas

 2 Themenfeld I2.1 Atlantique – Entfaltung eines personalen Beziehungsgeflechts in Raum und Zeit2.1.1 Auswahl der Orte der Vorder- und Hintergrundhandlung2.1.2 Das Gewebe örtlich-räumlicher und personaler Beziehungen2.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung2.2 Le Désir d’Équateur – Eine Suchbewegung „zwischen Welten“2.2.1 Reale Schauplätze2.2.2 Reisebewegungen2.2.3 Der Äquator als virtuelles Ziel2.2.4 Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung2.3 Mariane Klinger – Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York2.3.2 New York vs. Heidelberg2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung2.4 Voyage à Saint Thomas – Suchbewegungen zwischen Paris und Saint-Thomas2.4.1 Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels2.4.2 Die Schauplätze – Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen2.4.3 Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“2.4.4 Medial vermittelte Räume2.4.5 Intertextuell vermittelte Räume2.4.6 Perspektivierende Zusammenfassung2.5 Zusammenfassung Themenfeld I

 3 Themenfeld II3.1 La Trahison – Louis Mérians Suche nach der eigenen Vergangenheit3.1.1 Die Bedeutung von Raum und (Nicht-)Bewegung für die Charakterisierung des Louis Mérian3.1.2 Die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Charakterisierung der Ariane Desprats3.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung3.2 Nation par Barbès – Räume und „Nicht-Räume“ als handlungsauslösende und Gedanken und Gefühle widerspiegelnde Elemente3.2.1 Chronotopische Markierungen der familiengeschichtlichen Herkunft Lénas, Anielas und Jasons3.2.2 Die Métro – ein klassischer „non-lieu“ als „générateur de texte“3.2.3 Der Parc Monceau – ein heterotopisches Refugium in der „ville du dessus“3.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung3.3 Beaune-la-Rolande – Annäherung an einen literarischen Erinnerungstext3.3.1 Beaune-la-Rolande – Annäherungen an einen Ort3.3.2 Von Beaune-la-Rolande nach Auschwitz – Orte der Identitätsstiftung3.3.3 Traumlandschaften3.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung – die Literatur als „sinnlicher Erinnerungsraum“3.4 Mémorial – Die Erzählerin auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln und dem Sinn ihres Lebens3.4.1 Warten auf einem Bahnsteig – Beginn eines „[…] voyage particulier, sur les traces d’une histoire, pour tenter de trouver une origine […]“3.4.2 Bahnfahrt nach Kielce – Fortsetzung und Vertiefung der „recherche de l’origine“3.4.3 Aufenthalt in Kielce3.4.4 Exkurse über die Schneeeule3.4.5 Perspektivierende Zusammenfassung3.5 Fugue – Die Geschichte einer Flucht- und Suchbewegung3.5.1 Entfaltung einer Seelenlandschaft in der Abfolge der Kapitel3.5.2 Perspektivierende Zusammenfassung3.6 Zusammenfassung Themenfeld II

 4 Themenfeld III4.1 Une vie à soi – Anne Figuières’ Anverwandlung ihres Vorbildes Virginia Woolf4.1.1 Entdeckung einer Leitfigur4.1.2 Annes Annäherung an die Lebensräume Virginia Woolfs4.1.3 Annes Annäherung an die innere Befindlichkeit Virginias4.1.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.2 Caspar Friedrich Strasse – Der Ich-Erzähler auf dem Weg zu einem von Caspar David Friedrich inspirierten Verständnis seiner „histoire personnelle“ und der „histoire collective“4.2.1 Die Klosterruine bei Greifswald und Eichbaum im Schnee – Bemühungen um Orientierung in Raum und Zeit4.2.2 Meeresküste bei Mondschein – rester ou partir?4.2.3 Das Riesengebirge – die Caspar-Friedrich-Strasse als Straße der Zukunft4.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.3 Le Tour du lac – Das sonntägliche Kreisen um einen See als Methode und Symbol einer Suchbewegung4.3.1 Von Neuilly nach Paris – Schreiben als Akt der Befreiung4.3.2 Das Dilemma des jungen Mannes – „gefangen im Labyrinth einer unmöglichen Beziehung“4.3.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.4 Conversations avec le maître – Die Ich-Erzählerin und ihre Begegnungen mit dem Maître und einer illegal eingewanderten Ukrainerin4.4.1 Der Maître in der Parallelwelt seines tatsächlichen und imaginierten Lebensumfelds4.4.2 Die Ukrainerin in der Parallelwelt einer illegalen Einwanderin4.4.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.5 L’Île aux musées – Die vier Protagonisten als Zeugen einer „[…] fusion […] entre deux mondes, l’art et la vie’“4.5.1 „Suchbewegungen“ in der „realen Welt“ der vier Protagonisten4.5.2 Die Parallelwelt der Kunst als „[…] le miroir des temps“4.5.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.6 Sentinelles – Die Vernissage eines Videokünstlers – Einladung zu einer künstlerisch-intellektuellen Suchbewegung unter erschwerten Bedingungen4.6.1 Die Phase vor Einbruch der Dunkelheit4.6.2 Die Phase der Dunkelheit4.6.3 Die Phase nach der Rückkehr des Lichts4.6.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.7 Totale Éclipse – Über die existentielle und künstlerische Krise der Erzählerin-Fotografin4.7.1 Die „errance intérieure“ der Erzählerin4.7.2 Perspektivierende Zusammenfassung4.8 Zusammenfassung zum Themenfeld III

  5 Die kurzen Erzähltexte 5.1 Einordnung der kurzen Erzähltexte in das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots 5.2 La Ville de l’oiseau – Bindeglied zwischen vertrauter und neuer Thematik

  DRITTER TEIL (C) ZUSAMMENFASSUNG UND VERTIEFUNG

  1 Vorbemerkung

 

 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der SuchbewegungenThemenfeld IThemenfeld IIThemenfeld III

 3 SchlussfolgerungenInhaltliche Schwerpunkte des Erzählwerks vor dem Hintergrund der literaturtheoretischen Positionen Cécile WajsbrotsDas den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Verständnis von KunstDas erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots als Suchbewegung – eine inhaltlich- formale GesamtschauLeben und Kunst als Bewegung

  ANHANG

 Inhaltlich-strukturierte ZusammenfassungenThemenfeld IAtlantique (1993)Le Désir d’Équateur (1995)Mariane Klinger (1996)Voyage à Saint-Thomas (1998)L’Hydre de Lerne (2011)Themenfeld IILa Trahison (1997/2005)Nation par Barbès (2001)Beaune-la-Rolande (2004b)Mémorial (2005a)Fugue (2005b)Themenfeld IIIUne vie à soi (1982)Caspar Friedrich Straße (2002a)Le Tour du lac (2004a)Conversations avec le maître (2007)L’Île aux musées (2008a)Sentinelles (2013)Totale Éclipse (2014)Die kurzen ErzähltexteLa ville de l’oiseau (2010a)

 LiteraturverzeichnisMehrfach zitierte SammelbändeCécile WajsbrotAndere PrimärtexteWeitere Internetquellen (geordnet nach Bezugstexten bzw. Anlässen)Sekundärliteratur zu Cécile WajsbrotInterviews (chronologisch geordnet)Ausgewählte Rezensionen zu einzelnen Werken Cécile Wajsbrots (Bezugstexte in eckigen Klammern)Weiterführende (Sekundär)literaturNachschlagewerke

Für M.J.A.

Die vorliegende Studie Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots – Eine literarische Suchbewegung ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die ich im November 2015 beim Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück eingereicht habe. Die Disputation hat am 8. Juli 2016 stattgefunden.

Dass es mir als Pensionär ermöglicht wurde, ein Forschungsprojekt im Rahmen einer Promotion durchzuführen, verdanke ich in erster Linie der Bereitschaft von Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, mich trotz ihrer vielfältigen Verpflichtungen als Doktoranden über einen Zeitraum von annähernd fünf Jahren zu betreuen. Von ihrer immensen Erfahrung, ihren berechtigten Einsprüchen und konstruktiven Anregungen habe ich in allen Phasen der Arbeit in hohem Maße profitiert. Aufrichtigen Dank schulde ich auch Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder für die Übernahme des Korreferats und hilfreiche Empfehlungen, die in die Schlussfassung des Textes eingegangen sind.

Sehr gerne richte ich meinen Dank an Herrn Prof. Dr. Asholt für seine Bereitschaft, meine Dissertation in die edition lendemains aufzunehmen, und Frau Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre kompetente lektoratsmäßige Betreuung des Projekts.

Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie, die meine zeitintensive Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots mit großer Geduld und liebevoller Ermunterung begleitet hat. Danken möchte ich vor allem Veronika und Frank, die mir immer dann geholfen haben, wenn mir meine Unerfahrenheit in der digitalen Bearbeitung großer Textmengen im Wege stand.

(H.H.)

Einleitung

Margarete Zimmermann markiert im Titel ihres Artikels „Trop de mémoire – trop de silence. Schweigen und Vergessen im Werk von Cécile Wajsbrot“ jene „Pole“, „[…] zwischen denen sich das Werk der Cécile Wajsbrot bewegt“1. Tatsächlich stellen die Lasten der Erinnerung und die Unfähigkeit bzw. die mangelnde Bereitschaft, über die eigene Vergangenheit oder zurückliegende Kapitel der „großen“ Geschichte zu sprechen, ebenso wichtige Themen in den Romanen und Erzählungen Wajsbrots dar wie die Versuche der handelnden Figuren, verloren geglaubte Spuren, nicht zuletzt auch das rätselhaft Geheimnisvolle der persönlichen Herkunft aufzudecken, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und Brücken in die Zukunft zu schlagen. Dabei sind, wie das Beispiel der Ich-Erzählerin in dem 2004 erschienenen Roman Le Tour du lac zeigt, die Bemühung um ein Gespräch mit einem – in diesem Fall fremden – Gegenüber und die Bewegung im Raum, und handle es sich nur um das sich sonntäglich wie ein Ritual wiederholende Umkreisen des Sees, immer auch „[…] Ausdruck der Suche nach einem ‚Ort‘ – als Individuum, als Schriftstellerin – in der Gegenwart und in der Zukunft“2. Dass Orte, Räume und die Suchbewegung zwischen den Orten, im Raum der Geschichte, für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von großer Wichtigkeit sind, betont Margarete Zimmermann auch noch an anderer Stelle, allerdings ohne diesen Aspekt zu vertiefen.3 Dies gilt für die ganze bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin, sieht man einmal davon ab, dass Ottmar Ette sie bereits 2005 in den Kreis jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeordnet hat, deren Schaffen er sehr treffend als ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz4 charakterisiert hat. Diese geniale, aber gleichwohl globale „Verortung“ des Erzählwerks Cécile Wajsbrots vermag indes nicht das Desiderat einer Studie aufzuheben, die im Detail die Funktion und Bedeutung, die Raum und Bewegung in ihren Romanen und erzählerischen Kurztexten zukommt, analysiert und differenziert darstellt. Der Differenzierungsanspruch betrifft zu allererst den Begriff „Ort“, der im Hinblick auf das Erzählwerk Cécile Wajsbrots immer auch auf „innere Orte“, d.h. Standpunkte, Sichtweisen und Empfindungen zu beziehen ist.

Bei der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit lässt sich der Verfasser nicht in erster Linie von jener Debatte über „Cultural Turns“ leiten, in deren Verlauf der Raum eine Aufwertung erfahren hat, die keineswegs nur die Literaturwissenschaften, sondern alle unter dem Dach der Kulturwissenschaften vereinten Disziplinen erfasst hat.5 Primär entscheidend ist vielmehr, dass die Suchbewegungen der handelnden Figuren im Erzählwerk Cécile Wajsbrots, die vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raum- bzw. ortsbezogene Titel gegeben hat, von besonderer Bedeutung sind. Dies drängt sich als Ergebnis einer ersten Lektüre der Texte geradezu auf. Zudem hat Cécile Wajsbrot inzwischen mehrfach, besonders deutlich in einem Gespräch mit Dominique Dussidour im Oktober 2005, erklärt, welche Funktion der Raum für ihr Schreiben hat:

Alors comment écrire, comment dire ce qu’on a à dire? En passant par des biais qui ne peuvent être ni tout à fait des personnages, ni tout à fait une action romanesque, ni un simple constat des choses. D’abord, il me semble que dans mes livres, cela passe par un ancrage, qu’il y a, à chaque fois ou presque, un lieu – au sens large du terme. La radio dans La Trahison, le métro dans Nation par Barbès, Berlin dans Caspar Friedrich Strasse, Kielce et la Pologne dans Mémorial, le bois de Boulogne dans Le Tour du lac. En même temps, ce lieu n’est pas donné, il est gagné (ou perdu), il est parcouru, constitué ou reconstitué. L’ancrage dans le lieu permet un ancrage dans le temps, car le lieu – souvent une ville – est imprégné de ce qui s’y est produit à différentes périodes et ce sont ces strates temporelles qui lui donnent existence. Les figures sans nom de mes romans les traversent et sont à leur tour traversées par ce qui s’y passe, ainsi y a-t-il une sorte d’échange entre le dedans et le dehors, une sorte de mécanique des fluides, un phénomène de vases communicants.6

Mit dem Bild des „[…] échange entre le dedans et le dehors […]“ bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass einerseits Orte und Räume durch geschichtliche Entwicklungen geprägt sind, andererseits die Figuren, die sie „durchqueren“, in ihrem Denken und Handeln durch die sich ebendort abspielenden Ereignisse beeinflusst werden. Die Metapher der kommunizierenden Röhren hebt somit die Interpendenz zwischen Raum, Zeit und handelnden Figuren als konstituierenden Elementen der erzählten Welt hervor. Diese Faktoren sind in einem Erzähltext wie die Fäden eines Gewebes, einer „texture“, miteinander verknüpft. Die Ankermetapher weist dem Ort/Raum gleichwohl eine besondere Bedeutung zu. So wie ein Anker immer nur das temporäre Verbleiben eines Schiffes an einem bestimmten Platz sichert, bevor es seine Fahrt fortsetzt, so hat man sich den Raum nicht als etwas unumstößlich Gegebenes, sondern eher, im Sinne eines dynamischen Prozesses, als ein stets neu zu gewinnendes und zu entdeckendes, aber zugleich als ein gefährdetes Gut vorzustellen. Die damit implizierte „Unbestimmtheit“ des Raumbegriffs bedeutet konsequenterweise auch, dass die Vorstellung von „Raum“ die Idee der „Bewegung“ geradezu voraussetzt, die beiden Begriffe also in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Bedeutung und die Funktion des Raums werden dadurch in einen Bezugsrahmen eingeordnet, der auch im Titel der oben zitierten Studie von Ottmar Ette implizit zum Ausdruck kommt. Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots kann daher, ungeachtet seiner thematischen Differenziertheit, in seiner Gesamtheit als eine literarische Suchbewegung bezeichnet werden.7

Der erste Teil der vorliegenden Arbeit präsentiert in Kapitel A 1 Informationen über die Biographie Cécile Wajsbrots sowie über ihre literarhistorischen und literaturtheoretischen Äußerungen zum Roman als literarischer Gattung (A 1.1 und A 1.2). Dabei wird keineswegs Vollständigkeit angestrebt, die Auswahl der Aspekte orientiert sich vielmehr an ihrer funktionalen Bedeutung für die Schwerpunkte der Analyse in Teil B. Ergänzt wird Kapitel A 1 durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots (A 1.3) und Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Deutschland und Frankreich (A 1.4). Auch die Ausführungen zur „Darstellung des Raums“ in Kapitel A 2 erheben keineswegs den Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema in seiner ganzen historischen Breite und Tiefe sowie in seiner komplexen theoretischen Differenziertheit abzubilden. Gleichwohl sollen die der Analyse zugrunde liegenden Fragestellungen und der methodische Weg der Erarbeitung in einer historisch und theoretisch fundierten Weise aufgezeigt werden.

Der zweite, der Hauptteil der Arbeit, führt in einem ersten Schritt (Kapitel B 1.1) zu einer inhaltlich-thematisch bestimmten Aufteilung des erzählerischen Werks auf drei Felder (B 2, B3, B4). (Die kurzen Erzähltexte werden in dem gesonderten Kapitel B 5 exemplarisch anhand der Erzählung La Ville de l’oiseau behandelt.) Eine Beschränkung auf eine exemplarische Auswahl im Bereich der Romane empfiehlt sich angesichts der inhaltlichen und formalen Verschiedenheit dieser Texte nicht. Unter Bezugnahme auf die Kapitel A 1 und A 2 werden sodann (Kapitel B 1.2) die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte der Untersuchung festgelegt und das Thema der Studie ausführlich begründet.

Grundsätzlich orientieren sich alle Werkanalysen an den in B 1.2 dargelegten Grundsätzen, passen sich aber immer auch der inhaltlichen und formalen Struktur der einzelnen Texte an. Aufgrund des kontextualisierenden Ansatzes der Analyse vermittelt die Studie trotz der konsequent eingehaltenen Konzentration auf die Thematik der literarischen Suchbewegung gelegentlich auch Einblicke in mit der zentralen Fragestellung verwobene inhaltliche und formale Details der Textgestaltung. Die wesentlichen Ergebnisse der Werkanalysen werden jeweils themenfeldbezogen zusammengefasst.

Der abschließende dritte Teil C arbeitet themenfeldbezogen und themenfeldübergreifend die Entwicklung der Suchbewegungen in ihrer räumlichen und ideellen Dimension heraus (C 2). In den Schlussfolgerungen (C 3) werden die Beziehungen zwischen dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots und von ihr vertretenen literaturtheoretischen Positionen beleuchtet sowie das den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Kunstverständnis in Ansätzen eruiert, bevor der Begriff der literarischen Suchbewegung in einer vertiefenden Gesamtschau abschließend definiert wird.

 

Um das Verständnis der vorliegenden Studie für alle Leserinnen und Leser zu erleichtern, sind im Anhang strukturierte inhaltliche Zusammenfassungen aller analysierten Texte beigefügt.

ERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR

1 Cécile Wajsbrot

Cécile Wajsbrot gehört seit vielen Jahren zu den vielseitigsten und produktivsten Autorinnen und Autoren des extrême contemporain in Frankreich. Durch die Übersetzung einiger ihrer Romane und Erzählungen ins Deutsche1 hat sie auch in Deutschland eine Lesergemeinde gefunden. Gleichzeitig ist sie durch die Übersetzung deutscher Autoren ins Französische zu einer Brückenbauerin zwischen beiden Ländern geworden. Am Anfang einer Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots sollte ihr biographischer Hintergrund in dem Maße erhellt werden, in dem dies den Zugang zu ihren Romanen und Erzählungen erleichtert. Dasselbe gilt für ihre literaturtheoretischen, vor allem auch für ihre auf den Roman bezogenen Positionierungen, die sie in einem Essay und in Interviews dargelegt und erläutert hat. Ergänzt werden die Ausführungen durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots sowie durch Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Frankreich und Deutschland.