Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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From the series: edition lendemains #43
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2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums

Der 1922 geborene russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, der ab 1954 bis zu seinem Tod 1993 an der Universität Tartu in Estland lehrte, hat sich in seinem Werk mehrfach mit dem Problem des künstlerischen Raums auseinandergesetzt. Dabei wird die Entwicklung seines Denkens durch die diesbezüglichen Darstellungen in seinem erstmals 1972 in deutscher Übersetzung erschienenen Standardwerk Die Struktur literarischer Texte1 und in dem erst 2010 in deutscher Sprache unter dem Titel Die Innenwelt des Denkens2 veröffentlichten Spätwerk markiert. Das in letzterem entwickelte Modell der Semiosphäre hat Lotman in kondensierter Form ebenfalls unter dem Titel „Über die Semiosphäre“ in einem Zeitschriftenaufsatz vorgestellt.3

Lotman geht – wie Cassirer – davon aus, dass im Kunstwerk „[…] ein endliches Modell der unendlichen Welt [dargestellt wird]“, die reale Welt dabei jedoch nicht kopiert, sondern in eine andere, künstlerische Wirklichkeit übersetzt wird.4 Die unterschiedlichen Künste bedienen sich dabei unterschiedlicher Kodierungen. So wurde in der Malerei die Perspektive zu einem Mittel, die Pluridimensionalität des Raumes der Wirklichkeit in die Zweidimensionalität eines in einen Rahmen eingefügten Bildes zu übertragen. Für Lotman wird jedoch auch „[…] die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt […]“.5 Er begründet dies damit, dass „[…] die Denotate verbaler Zeichen in ihrer Mehrzahl irgendwelche räumlichen, sichtbaren Objekte sind […]“ und der Rezeption „verbalisierter Modelle“ ein ikonisches, Anschaulichkeit ermöglichendes Prinzip zugrunde liegt.6 Um diese Behauptung zu belegen und zu veranschaulichen, schlägt er eine Art Gedankenexperiment vor: Man stelle sich einen in höchstem Grade abstrahierten Begriff, „irgendein Alles“, vor und definiere seine Merkmale. Dabei werde man sich eines räumlich bestimmten Terminus wie „Unbegrenztheit“ bedienen, was durch die Beziehung zur räumlichen Grenze und die durch den Ausdruck evozierten Assoziationen naheliege. Nimmt man den – von Lotman nicht genannten – Begriff „Vollkommenheit“ als Beispiel, der landläufig mit den fünf „vollkommenen“ platonischen Körpern (Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder, Würfel, Dodekaeder) oder mit Kreis und Kugel in Verbindung gebracht wird, leuchten seine o.g. Erläuterungen ebenso ein wie seine Behauptung, dass der Begriff „[…] Universalität … für die Mehrzahl der Menschen einen deutlich räumlichen Charakter [habe]“.7

Für Lotmans Vorstellung des künstlerischen Raums als eines Modells der Wirklichkeit ist sodann eine von A.D.Aleksandrov aufgestellte Definition des Raums konstitutiv, die einerseits den Begriffsumfang sehr weit fasst, andererseits Relationalität als ein allgemein gültiges Merkmal des Raums bestimmt. Für Aleksandrov ist Raum

[…] die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u.dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u.dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind.8

Diese Betrachtungsweise erlaubt die Übertragung räumlicher Vorstellungen auf Bereiche, die eigentlich nicht räumlich geprägt sind. So spricht man daher in der Mathematik und in den Naturwissenschaften z.B. vom „Zahlenraum“, „Farbenraum“ oder „Phasenraum“. Auch richten wir in unserem Alltag gerne „Freiräume“ ein und denken langfristig in größeren „Zeiträumen“. Zugleich aber bedienen wir uns verschiedener topologischer Gegensatzpaare wie „hoch – niedrig“, „rechts – links“, „nah – fern“, „offen – geschlossen“, „abgegrenzt – nicht abgegrenzt“, „diskret – ununterbrochen“ keineswegs nur zur Beschreibung räumlicher Beziehungen, vielmehr setzen wir sie auch ein, um z.B. im sozialen (‚eine offene/geschlossene Gesellschaft‘, ‚nahe/ferne Bekannte‘) oder politisch-ökonomischen (‚hohe/niedrige Gewinne‘) Bereich Beurteilungen und Wertungen vorzunehmen. Auch ist unser Denken durch vertikal strukturierte Hierarchisierungen, wie sie z.B. in der Unterscheidung zwischen „Himmel – Erde – Hölle/Unterwelt“ zum Ausdruck kommen, in einer räumlichen, zugleich jedoch wertmäßig differenzierenden Weise vorgeprägt.

Zum „[…] wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes […]“ wird für Lotman jedoch die Grenze, die „[…] den Raum in zwei disjunkte Teilräume [teilt]“, deren „innere Struktur […] verschieden [ist]“. Die Grenze zeichnet sich zuvörderst durch ihre „Unüberschreitbarkeit“ aus, sie „[…] muss unüberwindlich sein […]“. Die „disjunkten Teilräume“ sind nicht notwendigerweise als aneinander grenzende, sich feindlich begegnende Territorien zu denken, vielmehr nennt Lotman beispielhaft „[…] eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere […]“.9

In Lotmans Vorstellung vom künstlerischen Raum und damit auch in seiner Narratologie ist die Grenze auf das engste mit dem Begriff des „Sujet“ bzw. des „Ereignisses“ verbunden. Die Frage: „Was ist ein Ereignis als Einheit des Sujetaufbaus?“ beantwortet er folgendermaßen: „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.“10 Angesichts der Charakterisierung der Grenze als einer unüberwindbaren Trennungslinie überrascht es nicht, dass Lotman ein „Ereignis“ als „[…] revolutionäres Element, das sich der geltenden Qualifizierung widersetzt“,11 bezeichnet. Da ein in diesem Sinne verstandenes „Ereignis“ also etwas gänzlich Unerwartetes bzw. Unwahrscheinliches darstellt, nimmt seine „Sujethaftigkeit“ zu, je geringer die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens ist.12

Allerdings bedarf die Unterscheidung zwischen „Ereignis“ und „Nicht-Ereignis“ noch der Präzisierung, insofern ein Geschehen weder losgelöst von seinem „[…] sekundären semantischen Strukturfeld […]“ noch von den jeweiligen „[lokalen] Geordnetheiten […]“13 zu beurteilen ist. Der Kontext der Zitate lässt vermuten, dass Lotman damit den sozio-kulturellen Kontext eines Handlungsablaufs mitsamt seinen bis auf lokaler Ebene zu beobachtenden Differen­zierungen meint. So weist er darauf hin, dass das „[…] Sujet […] organisch […] mit dem Weltbild [zusammenhängt], das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt“14. Die Relativität der Einschätzungen gelte für künstlerische und nicht-künstlerische Texte gleichermaßen, stellt Lotman mit einem Blick auf die „[…] Rubrik der ‚Tagesereignisse‘ in Zeitungen verschiedener Epochen […]“15 fest und betont damit zugleich, dass Einstellungen und Wertmaßstäbe auch dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind. Man mag Lotmans Gedanken daher mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Ein Papstbesuch löst nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch in jedem einzelnen Land angesichts der Unterschiede z.B. zwischen ländlichen Gebieten und (Groß-)Städten sowie – in unterschiedlichem Maße – konfessionell-kirchlich gebundenen und kirchenfernen Bevölkerungsschichten unterschiedlichste Reaktionen aus, die von begeisterter Zustimmung („Jahrhundertereignis“) bis zu entschiedener Ablehnung („unnötige Geldverschwendung“) reichen dürften, die darüber hinaus jedoch auch durch zeitbedingte Faktoren beeinflusst werden.

Wenn Lotman den Akt der – unerwarteten – Grenzüberschreitung als Ereignis bzw. Sujet eines Textes bezeichnet, dann sind die agierenden Figuren als bewegliche Helden zu bezeichnen. Er nennt beispielhaft Balzacs Rastignac, der sich – topologisch ausgedrückt – gesellschaftlich von „unten“ nach „oben“ emporarbeitet, und Shakespeares Romeo und Julia, die sich – ungeachtet der die Häuser Montague und Capulet wie eine hohe Mauer voneinander trennenden Erbfeindschaft – zu ihrer Liebe bekennen. Die Beispiele zeigen, dass Grenzüberschreitungen (a) topologisch markiert, (b) angesichts der aufeinander treffenden Einstellungen, Überzeugungen, Weltbilder zugleich semantisch aufgeladen und (c) selbstverständlich immer auch in einen topographisch mehr oder weniger genau bestimmten Rahmen eingefügt sind.16

Während sujethaften Texten geradezu revolutionäre Eigenschaften eignen, geht von sujetlosen Texten eine die bestehenden Verhältnisse bestätigende Wirkung aus, d.h. dass sie „[…] einen deutlich klassifikatorischen Charakter [haben]“ und die in ihnen agierenden Figuren unbeweglich sind.17

Lotmans Anliegen, die Bedeutung des Raums für die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen darzustellen und zu begründen, ist so plausibel wie seine Feststellung, dass „[…] die Sprache räumlicher Relationen […] eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit“18 ist. Weniger zu überzeugen vermögen jedoch der rigoros binäre Charakter seines Raummodells sowie die sich daraus ableitende Unterscheidung zwischen sujetlosen und sujethaften Texten bzw. zwischen unbeweglichen und beweglichen Figuren, da sich die Frage aufdrängt, ob die komplexe Wirklichkeit ausschließlich in dieser schematisierten Form literarisch abgebildet bzw. übersetzt werden kann.19 Unerlässlich ist daher ein Blick auf das in seinem Spätwerk entfaltete Modell der Semiosphäre, in dem die Grenze als topologisches Hauptmerkmal zwar weiterhin von zentraler Bedeutung ist, aber zugleich neu definiert wird.

Lotman hat sein Modell der Semiosphäre in Anlehnung an Vladimir Vernadskijs Konzept der Biosphäre als ein organisches, holistisches Gebilde entwickelt.20 Er betont, dass der Raum der Semiosphäre zwar von abstrakter Natur sei, der Begriff aber nicht metaphorisch gebraucht werde.21 Entsprechend ihrem organischen Charakter „[…] ist […] die Semiosphäre zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur“22. In seiner zuweilen sehr bildhaften Sprache bringt Lotman damit zum Ausdruck, dass die Semiosphäre jenen Nährboden bildet, aus dem kulturelles Leben hervorgeht. Holistisch ist Lotmans Ansatz, insofern für ihn „[…] jede einzelne Sprache […] von einem semiotischen Raum [umgeben ist]“ und „[der] kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, […] nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur [ist]“23. Wenn Lotman hier offensichtlich von einer Vielzahl von in einer Semiosphäre nebeneinander existierenden Sprachen ausgeht, ist dies in hohem Grade missverständlich, solange man dabei nur an natürliche Sprachen denkt. Gemeint sind vielmehr

 

[…] auch Partialsprachen, Sprachen mit eingeschränkten kulturellen Funktionen und sprachähnliche, unausgeformte Gebilde, die zu Trägern der Semiose werden können, wenn sie in einem semiotischen Kontext stehen: Etwa wie ein Stein oder ein seltsam gebogener Baumstamm als Kunstwerk fungieren können, wenn man sie als solches betrachtet. Ein Objekt nimmt die Funktion an, die man ihm zuschreibt.24

Cornelia Ruhe betont, dass Lotman unter „Sprache“ in diesem Kontext „[…] nicht nur natürliche Sprache, sondern auch innerhalb einer Kultur geführte Diskurse, bestimmte kulturelle Phänomene [verstehe]“25. Konkret wird er neben bestimmten Fachsprachen oder Fachjargons z.B. auch verschiedene nonverbale künstlerische oder kunsthandwerkliche Ausdrucksformen im Blick gehabt haben, betrachtete er doch ganz offensichtlich auch „Kleidermoden“26 als „Sprachen“. Angesichts der „[…] unterschiedlichen Art und Funktion […]“27 dieser „Sprachen“ und ihrer stark divergierenden Lebensdauer diagnostiziert Lotman Heterogenität als „[…] Kennzeichen der Semiosphäre […]“28, da man bei synchroner Betrachtung immer „[…] verschiedene Sprachen in verschiedenen Entwicklungsstadien […]“ vorfinde.29 Wenn Lotman nun in eben diesem Zusammenhang überraschenderweise „[…] eine einheitliche Welt (der Semiosphäre) im synchronen Schnitt […]“ entdeckt, bedient er sich dabei eines Vergleichs mit einem Museumssaal, in dem „[…] Exponate aus unterschiedlichen Epochen […]“ mit darauf bezogenen Erläuterungen in „[…] bekannten und unbekannten Sprachen […]“ sowie organisierte Rundgänge und kunsthistorische Führungen „[…] einen zusammenhängenden Mechanismus […] und damit die Abbildung einer Semiosphäre ergeben, deren „[…] Elemente […] nicht in einem statischen, sondern in einem beweglichen, dynamischen Verhältnis zueinander stehen […]“.30 Für Lotman ist eine einheitliche Welt also eindeutig nicht eine symme­trisch-gleichförmige, sondern eine asymmetrische, vielfältig strukturierte Welt, in der permanente Prozesse der Übersetzung zwischen verschiedenen „Sprachen“, die „[…] in den meisten Fällen semiotisch asymmetrisch sind […]“, als „[…] Informationsgenerator […]“31 fungieren und damit innovativ-sinnstiftend wirken.

Asymmetrie ist innerhalb der Semiosphäre besonders stark ausgeprägt „[…] im Verhältnis zwischen dem Zentrum und […] ihrer Peripherie“32. Um diese Gesetzmäßigkeit zu verstehen, bedarf es jedoch eines Blickes auf die Grenze als das topologische Hauptmerkmal der Semiosphäre. In deutlicher Abkehr von seinen frühen Schriften, in denen er, wie oben dargelegt wurde, das Prinzip einer strikten Opposition zwischen aneinander grenzenden Räumen vertrat, definiert Lotman die Grenze in Die Innenwelt des Denkens wesentlich differenzierter. Zwar erinnert er an das binäre Modell mit dem Hinweis, dass „[am] Beginn jeder Kultur […] die Einteilung der Welt in einen inneren („eigenen“) und einen äußeren Raum (den der „anderen“) [stehe]“33, als wesentliches Charakteristikum der Grenze bezeichnet er jedoch ihre „Ambivalenz“:

Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache „unserer eigenen“ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das „Äußere“ zum „Inneren“ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen […].34

Die Grenze, oder, genauer: der Grenzraum bzw. die Peripherie stellen somit für Lotman einen überaus produktiv-kreativen Bereich dar, in dem aus der dynamischen, oft auch spannungsreichen Begegnung unterschiedlicher „Sprachen“ und der damit notwendigerweise einhergehenden Vermittlung zwischen unterschiedlichen Kodierungen neue Ausdrucksformen („Sprachen“) hervorgehen. Die generative Kraft des Grenzraums könne so stark sein, dass sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zwischen Zentrum und Grenze umkehre.35

Das Zentrum hingegen ist der Ort der Semiosphäre, an dem die „[…] am meisten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen“, also „[i]n erster Linie […] die natürliche Sprache der jeweiligen Kultur“36 dominieren und ihre die Kultur, die Rechts- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft normierende Wirkung entfalten. Exemplarisch nennt Lotman den florentinischen Dialekt, der sich während der Renaissance als gesamtitalienische Literatursprache etablierte und, wie hinzuzufügen wäre, im Laufe der Jahrhunderte zur italienischen Hochsprache wurde; die Rechtsnormen, deren Geltungsbereich von Rom aus auf das ganze Imperium ausgeweitet wurde und die, wie einmal mehr zu ergänzen ist, bis heute das Rechtssystem in weiten Teilen Europas und der Welt mit prägen; die Etikette, die vom Hofe Ludwigs XIV. auf die Höfe Europas ausstrahlte.37

Neben den zwischen unterschiedlichen Semiosphären liegenden Grenzen erkennt Lotman jedoch auch Binnengrenzen innerhalb der Semiosphären, durch die „Sub-Semiosphären“ entstehen, deren wechselseitige Beziehung unterschiedlich strukturiert sein kann. Binnengrenzen kommen z.B. durch die in einer Semiosphäre nebeneinander bestehenden Sprachen zustande. Für Lotman kann jedoch auch „[d]ie Grenze der Persönlichkeit […]“ zur „semiotischen Grenze“ werden, wobei der Begriff „Persönlichkeit“ nicht in einer kulturübergreifend einheitlichen Weise interpretiert wird und keineswegs immer „mit den physischen Grenzen des menschlichen Individuums“ übereinstimmt.38

Konsequenterweise geht im Denken Lotmans mit der modifizierten Definition des Begriffs „Grenze“ eine Neudefinition des Sujet-Begriffs und der „beweglichen Figuren“ einher. Statt – wie bisher – von einer einen „inneren“ von einem „äußeren“ Raum trennenden Grenze zu sprechen, die „[…] eine Figur … überschreiten kann“, geht er nun von einer „[…] davon abgeleitete[n], komplexere[n] Situation“ aus. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass statt einer Figur „[…] ein paradigmatisches Bündel von Figuren […]“ auf eine „[…] Untergruppe von personifizierten Hindernissen […]“ bzw. auf „[…] unbewegliche Feind-Figuren […]“ trifft, so dass der „[…] Sujetraum […] mit zahlreichen, auf unterschiedliche Weise miteinander verbundenen oder widerstreitenden Helden „besiedelt“ ist“.39 Die mit der komplexen Wirklichkeit nicht zu vereinbarende, dogmatisch anmutende Rigidität des ursprünglichen Ansatzes wird damit überwunden, die Offenheit des Denkens nachdrücklich unterstrichen.40 Die „bewegliche Figur“ des binären Modells, die eine Grenze zwischen disjunkten Räumen überschreitet, mutiert zu einer „interkulturellen Übersetzerinstanz“ in einer Semiosphäre, die sich durch „[…] die stete Umformung des semiotischen Raumes […]“41 auszeichnet.

Weitaus weniger ergiebig hingegen ist Lotmans Beitrag zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Raum- und Zeitdarstellung in der Kunst und in der Literatur. Zu diesem Thema findet man in seinem Werk allenfalls einige Randbemerkungen.42 Das Interesse der Literaturwissenschaft für diese Problematik wurde unterdessen neu geweckt durch Michail Bachtins Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.43 Die zentralen Gedanken dieser Studie seien daher kurz zusammengefasst.

2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi

In der Einleitung zu Chronotopos kennzeichnet Bachtin das symbiotische Verhältnis zwischen Zeit und Raum „[i]m künstlerisch-literarischen Chronotopos […]“, indem er feststellt, dass „[d]ie Merkmale der Zeit […] sich im Raum [offenbaren], und der Raum […] von der Zeit mit Sinn erfüllt [wird]“1. Gerade auch für den literarischen Bereich sei der Chronotopos „von grundlegender Bedeutung“, allerdings sei „die Zeit das ausschlaggebende Moment“. Das von der Literatur gezeichnete „Bild vom Menschen“ sei immer „chronotopisch“2. Beim Chronotopos ist indes nicht von der „darstellenden realen Welt“ auszugehen, vielmehr bezeichnet der Begriff die vom Autor in seinem Werk geschaffene, modellierte, abgebildete Welt bzw. die vom Hörer/Leser im Rezeptionsprozess „wiedererschaffene“ Welt.3

In einer Fußnote trägt Bachtin eine philosophische Begründung für diese Auffassung vor.4 Er stimmt – anders als Cassirer – 5 mit dem von Kant in der Kritik der reinen Vernunft definierten apriorischen Charakter von Raum und Zeit überein, insofern auch für ihn jegliche Erkenntnis ohne die Bindung an Raum und Zeit unmöglich ist. Kant definiert Raum und Zeit als „[…] Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung […]“6. Bachtin teilt Kants „[…] Einschätzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozess“, versteht sie jedoch „[…] – im Unterschied zu Kant – nicht als ‚transzendentale‘, sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst“, und er will darstellen, „[…] welche Rolle diese Formen im Prozess der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens) unter Bedingungen, die dem Romangenre eignen, spielen“7. Wenn Bachtin in diesem Zusammenhang von „der realen Wirklichkeit“ spricht, so denkt er dabei, wie Michael C. Frank und Kirsten Mahlke wohl zu Recht – übrigens auch unter Berufung auf den von Michel Foucault geprägten Begriff des „historischen Apriori“ – betonen, an die jeweils epochenspezifischen Voraussetzungen, unter denen jeder Autor seine Vorstellungen von Raum und Zeit entwickelt.8

In seinen Schlussbemerkungen analysiert Bachtin die wechselseitige Wirkung von Raum und Zeit in einigen der „[…] typologisch beständigen Chronotopoi […]“9, um im Anschluss daran die Funktion der Chronotopoi für das Ganze des Romans zu bestimmen. Beispielhaft sei hier auf das „Schloss“ hingewiesen, das „[…] angefüllt [ist] mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit“ und „[…] in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, in den Familienarchiven, in den spezifischen Beziehungen der menschlichen Erbfolge […]“10 von sichtbaren Spuren der Vergangenheit gezeichnet ist.

Die Funktion der Chronotopoi definiert Bachtin in einem ersten Ansatz nüchtern abstrakt, indem er sie als „[…] Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans“11 bezeichnet. Sodann bedient er sich einer sehr anschaulich-bildlichen Sprache, indem er den Chronotopos im Hinblick auf seine „[…] gestalterisch[e] Bedeutung […]“ als „[…] Angelpunkt für die Entfaltung der Szenen im Roman […]“ kennzeichnet, um in einer weiteren Steigerung in einer beinahe enthusiastisch anmutenden Sprache festzustellen:

Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig.12

Neben der explizit genannten „gestalterischen Bedeutung“ haben die Chronotopoi somit als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse“ zusätzlich eine wichtige erzähltheoretische Funktion. Auch wird durch die von Bachtin in der Einleitung als „[…] Form-Inhalt-Kategorie […]“13 bezeichneten Chronotopoi das den jeweiligen literarischen Text beherrschende Bild vom Menschen entscheidend mitgeprägt, insofern im Roman alles Abstrakte in konkrete „Bildhaftigkeit“ übersetzt wird.14