Europäer, unterwegs

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Europäer, unterwegs
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Henning Puvogel

Europäer, unterwegs

Roman

Impressum

Texte: copyright beim Autor

Titelfoto: Autor

Verlag: Henning Puvogel

Streekmoorweg 3

26316 Varel

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Henning Puvogel war 45 Jahre lang in seinem Beruf als Seefahrer, Nautiker und Kapitän tätig. Er fuhr von 1972 bis heute ohne Unterbrechung auf Frachtern, Spezialschiffen und Seglern zur See und lebt mit seiner Familie in Norddeutschland.

Foto: Torben Mau

Von ihm erschienen bisher:

„Die letzte Fahrt der Scarabea“ (Hauschild/Bremen, 1990)

„Ebbstrom“ (Koehler/Hamburg, 1999)

„Das glückhafte Schiff“ (Holtzbrink/ Neopubli, 2017)

„Das zweite Gesicht“ (Holtzbrink /Neopubli, 2019)

1.

Petersen setzte das Fernglas ab und legte es zurück auf seinen rutschfesten Platz, neben den Steuerkompass im Brückenpult.

Die blaue Segeljacht, die sich in der südlichen Brise vom Vorsegel Richtung offene Nordsee ziehen ließ, kam ihm irgendwie bekannt vor. Als sie jetzt bei der roten Tonne Kurs ändern musste und ihre Plicht zeigte, sah er auch das schwer verwechselbare Profil des Skippers, der an der Pinne saß und dem schwarz-gelben Behördenschiff entgegensah.

Schnell war sie heran. Der Ebbstrom in der Außenharle schob bereits mit Macht und ließ die schräg liegenden Fahrwassertonnen gurgeln. Der bärtige Mann am Ruder hob die Hand und rief etwas herüber, als Petersen durch die offene Tür in die Brückennock hinaus trat. Keine zwanzig Meter querab passierten sie sich in dem engen Fahrwasser – er sah ins Cockpit hinunter:

„Wo geht’s hin?“

„Helgoland!“ schallte es von dort zurück. Der Skipper legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund, wobei sein Vollbart im Wege war:

“Bei dem Wind…“

Der Rest war nicht mehr zu verstehen, das Boot zog vorbei und zeigte das Heck.

Rasch, in einem spontanen Entschluss knipste Petersen den Lautsprecher zum Achterdeck ein. Blechern verzerrt, aber deutlich schallte seine Stimme übers Wasser dem schwindenden Boot hinterher:

„Dann bis heute Abend… wir liegen auch dort!“

Er sah auf dem Kamerabildschirm, wie der Mann am Ruder die Hand hob und jetzt rasch die Schot dichter nahm, als er dem Bogen des Fahrwassers bei der Barre folgen musste. Schnell kam das Boot außer Sicht.

„Helgoland?“

Der junge Steuermann am Ruder schaute fragend, überrascht – und auch ein bisschen neugierig, während er den Drehknopf der Steuerautomatik nachregelte, um das Schiff bei der Tiefenmessung möglichst genau auf dem track zu halten.

Petersen erklärte wie nebenbei, als stünde sein Entschluss lange fest:

„Können wir genau so gut liegen zur Nacht. Wir sind hier gleich fertig und haben dann noch genug Wasser, um zur Blauen Balje zu verholen und die äußeren Profile zu fahren, ehe die Tide zu weit weg fällt. Dann müssten wir ohnehin außen zurück – gegen den Strom, und uns über die Barre in den Hafen tasten… und dann in dem Schlickloch morgen früh noch drei Stunden warten, bis genug Wasser da ist und wir wieder ’raus kommen.“

Er warf seinem Steuermann einen Blick zu:

„Da können wir genauso gut die knapp zwei Stunden Fahrt nach Helgoland machen – schön mit dem Ebbstrom. Dort liegen wir gut und laufen morgen eine Stunde früher mit der Flut wieder ’runter, so dass wir rechtzeitig hier sind… können weitermachen und den Plan fertig kriegen.“

Der kantige, rot in der Sonne leuchtende Klinkerbau des Westturms der Insel kam jetzt nah heran, sie näherten sich der steinernen Buhne. Er wandte sich um, durchmaß die Brücke mit ein paar Schritten nach achtern und hieb auf die Tastatur des Messcomputers:

„Ist doch mal ein bisschen Abwechslung, auch für euch!“

Das rhythmische Klickern des Echographen, das wie ein Metronom in ihrem Rücken ertönt war, verstummte – wurde ersetzt durch das leise Summen des vorwandernden Lotstreifens. Sie mussten wenden, die Wassertiefe nahm hier rasch ab.

Der junge Nautiker am Fahrstand griff zu den Maschinentelegrafen und nahm Fahrt heraus – ging auf Handruder, um das Schiff in einer engen 180-Grad-Kurve genau auf die letzte noch zu messende Linie zu führen, die auf dem Bildschirm in Rot vor ihm lag.

Er hatte eine ganz spezielle Art, mit einem halb entschuldigenden, halb spitzbübisch amüsierten Lächeln wenig angenehme Dinge, die eventuell noch passieren könnten, anzusprechen – als könne er kaum erwarten, dass diese einträten:

„Gab auch schon mal kräftig Ärger damit, im Amt… da hinzufahren, meine ich – ganz früher mal. Hab ich aber auch nur gehört. Haben wohl einige Kollegen gute Geschäfte mit zollfreiem Schnaps und Zigaretten gemacht. Seitdem soll jede Fahrt dahin angemeldet werden und muss genehmigt…“

Petersen lachte humorlos auf.

„Das lasst man meine Sorge sein! Nehm’ ich auf meine Kappe. Bestimmen immer noch wir, wo übernachtet wird! Wenn wir hier selbstständig arbeiten sollen die Woche über, im Außendienst…“

Er warf einen Blick auf die beiden dicht an der offenen Brückentür ohne einen Flügelschlag segelnden Heringsmöwen:

„Demnächst soll ich wohl noch ’n Antrag stellen, wenn wir die Leinen loswerfen lassen… ich muss hier nicht unbedingt arbeiten, bei diesem Verein.“

Er biss sich auf die Lippen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Eigentlich aber mehr über den letzten halb unfreiwillig herausgerutschten Satz als über irgendwelche gängelnden Vorschriften.

Er musste sich mehr vorsehen – die neue Lebenssituation, die veränderten Zukunftsaussichten ließen ihn leichtfertig werden.

„Navigatorisch ist das jedenfalls der logische Weg, und mehr Treibstoff wird auch nicht verbraucht. Das kommt alles genauestens ins Logbuch. Zollfreien Schnaps und Zigaretten könnt ihr natürlich kaufen – aber eben nicht mehr, als pro Person erlaubt.“

Er ging zum Echolot und ließ die Messung wieder anlaufen, der rote Strich des track auf dem Bildschirm wechselte seine Farbe und wurde giftgrün. Der Steuermann korrigierte den Kurs und horchte den Worten des Kapitäns nach, wie befremdet… ließ aber nur ein maliziöses Kichern folgen und warf klackend den Schalter der Selbststeuerung herum. Das Schiff war wieder auf Westkurs, das flache Ostende Spiekeroogs vor dem Bug:

„Nicht…? Na dann… kann ich ja endlich mal wieder ’ne Runde ums Oberland joggen…“

*

Die kernige Seglergestalt im gestreiften Fischerhemd, die sich die Eisenleiter am Kai herunter tastete, um das Deck der NORDEROOG zu betreten, mochte auf die siebzig zugehen. Der Vollbart graumeliert, lang und das Haar hinten zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden. Der sehnige, braungebrannte Mann stieg die letzten grün veralgten Stufen herunter; unten stand Petersen schon und hob die Relingspforte aus der Halterung, um den Zugang frei zu machen.

„Bitte an Bord kommen zu dürfen… ! Moin, Achim – lange nicht gesehen…“

Er hieb klatschend in die ausgestreckte Hand.

„Schöner kann man nicht herkommen – mit so ’ner Backstagenbrise! Knapp 3 Stunden hab’ ich gebraucht. Happy hour… und kaum Querverkehr in der Elbe.“

Segeln war Hannes’ Leidenschaft, seit Jahrzehnten. Auch wenn es schon die dritte „Röde Orm“ war, die jetzt drüben im Päckchen lag. Das jungenhafte Grinsen über diesen schönen Schlag war ansteckend.

„Wo geht’s lang? Ich war ja noch nie hier an Bord… das ist ja ein richtiges Schiff, ist das…“

Wieder diese leise Ironie, die unverwüstlichen Humor verriet – die NORDEROOG war mit ihren fünfunddreissig Metern wenig größer als ein Hafenschlepper.

Er schickte sich an, die Treppe vom Hauptdeck hochzusteigen. Petersen ging voraus, überstieg das hohe Süll mit der Stufe vor dem Eingang und betrat durch die offene Nocktür die Brücke.

Er rutschte gleich in seinen luftgefederten Sessel vor dem Fahrstand, legte die Füße bequem hoch und zeigte mit einer einladenden Geste durch den geräumigen, rundum verglasten Raum – mit den Sitzbänken, den beiden Computer-Arbeitsplätzen, dem riesigen, von unten beleuchtbaren Kartentisch in der Mitte, den meterbreiten Schubladen für die Seekarten und Peilpläne darin. Die Brücke war der Hauptarbeitsplatz auf einem Seevermessungsschiff:

„Pflanz’ dich irgendwo hin – wo es dir gefällt. Ich hol uns gleich ein Feierabendbier hoch. Wir können auch nach unten in meine Kabine gehen – aber da hat man nicht eine so schöne Aussicht!“

Der andere ließ sich auf die mit grünem Kunstleder bezogene Sitzbank an der Steuerbordseite fallen.

„Nee, lass man nach – hier ist’s doch schön.“

Er sah das Handwaschbecken unterm Fenster und stand wieder auf.

„Hier kann ich mir doch sicher den Schmodder eben abwaschen…?“

Während er sich die seifigen Hände ausführlich rieb, warf er einen Blick durch die Fensterfront auf den Helgoländer Binnenhafen, wo ein Tonnenleger und das kleine blaue Forschungsschiff UTHÖRN an der Pier für die Arbeits- und Behördenschiffe lagen – auf der anderen Seite die Segeljachten in Dreier- und Viererpäckchen:

„Wie ’n Wohnzimmer mit Panoramafenstern, überm Hafen! Kannst du das einfach mal eben so im Dienst – hier ’rüberfahren… ? Hattet ihr nicht vor Wangerooge zu tun?“

Petersen nickte gleichmütig: „Wenn es grade passt…meine Sache, wo wir liegen.“

Der andere schnupperte, die Nase in der Luft:

„So einen Job möcht ich auch mal haben… und es riecht so gut von unten! Habt ihr noch kein Abendbrot gehabt?“

 

„Doch – alles schon erledigt. Der Chef hat Hähnchenschenkel mit frites gemacht heute – riecht man natürlich noch. Ziemlich salzig, aber gut… wieso – hast du Hunger…? Ich kann schauen, ob noch was da ist…!“

Petersen überlegte, wie lange sie sich eigentlich schon kannten. In seinem Heimatstädtchen hatte er wenig Kontakt zu einheimischen Seglern.

Genau genommen war Hannes der einzige. Es musste fast zwanzig Jahre her sein, wo der den Navigationskurs zur Vorbereitung auf den Sporthochseeschiffer bei ihm gemacht hatte. Und anschließend war er auf einem schönen Spätsommertörn in Devon und Cornwall dabei gewesen, mit Lorenz und seiner Frau Camille – als Lisa ein Jahr alt geworden war, in Dartmouth. Er hatte Anneke und ihre Kleine, die jetzt zwanzig war, damals in seinem alten Volvo nach Cherbourg mitgenommen. Von dort waren sie gestartet. -

Ewig her – als sie ihre „Jan van Gent“ noch gehabt hatten und selbstständig waren.

Nun machte er schon fünfzehn Jahre auf dem bundeseigenen Wracksuch- und Vermessungsschiff NORDEROOG seinen Job, und auch dieser Zeitabschnitt neigte sich dem Ende zu. Ihre Jacht war seit kurzem verkauft und in guten Händen gelandet – auch wenn die Ereignisse seit dem Eignerwechsel das Zeug dazu hatten, noch einmal eine ganz neue, aufregende Lebensrunde einzuleiten. Mit vielen verlockenden Möglichkeiten – die im Kopf langsam Gestalt annahmen. Oder, wenn er ehrlich zu sich selbst war, sofort danach angenommen hatten. Wenigstens in seinem. -

Jedenfalls gab es Neuigkeiten zu berichten. Und er merkte selbst, dass der ältere Seglerfreund und Haudegen jemand war, dem er solch einschneidende Veränderungen gern erzählte. Er brannte geradezu darauf – auch wenn er nicht gleich alle Hintergründe offen legen konnte.

Aber daran würde er sich, würden sie sich wohl gewöhnen müssen.

Es war schon kurios, wenn er es recht bedachte. Jetzt, wo ein Ende seines Arbeitslebens in Sicht kam, sie bei bester Gesundheit waren, ihre Kinder erwachsen wurden und ihren Weg gingen, schien die Möglichkeit gekommen, noch einmal etwas Neues anzufangen. Genau der richtige Zeitpunkt, eigentlich.

Aber dann musste man auch viel verdrängen… und nicht zuletzt die Gefährtin überzeugen. Die allerdings liebte das Meer und die Freiheit genauso wie er. So hatten sie sich schließlich kennen gelernt vor fast drei Jahrzehnten.

Aber sie ahnte vielleicht doch nicht so ganz, wie er sich die nahe Zukunft im Einzelnen vorstellte. Außerdem hatte sie einen Job – mit Kolleginnen, die ihr auch privat etwas bedeuteten. Und sie musste noch lange arbeiten, im Gegensatz zu ihm.

Es blieb eh ein reichlich fragwürdiger Nachgeschmack… denn eigentlich könnte man auch andere Dinge tun als durch die Welt zu gondeln und es sich ohne große Geldsorgen an den schönsten Plätzen Europas gut gehen zu lassen. Vielleicht sogar in Übersee, die ganz große Tour…

Gerade jetzt – wo für jeden, der nicht mit Scheuklappen durch die Gegend lief, immer deutlicher wurde, wo sie heute standen – dass sie in einer Zeit des Wandels lebten. In eine neue Epoche hinüber glitten, die einschneidender war als die der Industrialisierung.

Ein viel strapazierter Begriff: aber die Erde war wirklich zum globalen Dorf geworden… in dem alles mit allem zusammenhing, miteinander vernetzt war und obendrein sichtbar wurde, dass Ressourcen endlich, Lebensgrundlagen zerstörbar waren. Auch Ozeane und Lufthüllen.

Eine Zeit, in der Kontrollinstanzen gegen Raubbau und schrankenlose Einflussnahme immer mehr marginalisiert wurden von denen, die an Macht gewannen. In der ungehemmtes Wachstum und ökonomische Interessen, militärische Überlegenheit und weltweite Vorherrschaft wieder das Gebot der Stunde schienen – fast dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges. Diese verrückte Zeit, die es auch eingefleischten Optimisten schwer machte… es blieb nur die Hoffnung, dass es eine Phase war und das Pendel bald wieder zurück schwang. Jedenfalls, was die Chefetagen betraf… dass nicht nur Rohstoffplünderer, Kleptokraten, Spekulanten, Lobbyisten, rassistische Brandstifter und notorische Lügner, steinreich alle, oft als tumbe Marionetten der Rüstungs- und Agrarlobbys, sich die Führerschaft über wichtige Länder, halbe Kontinente erschlichen und erlogen. Mit Hilfe von Bestechung, Einflussnahme, fake news und der neuen Medien – und mit deren Unterstützung autokratisch bis diktatorisch herrschten.

Zeiten, in denen bisher unantastbar scheinende rote Linien immer bedenkenloser überschritten wurden. Zeiten, in denen lupenreine Banditen und ihre Familienclans die grünen Lungen der Erde, die allen gehörten, anzündeten und abholzten, um ihre gierige Klientel zu bedienen und dem notleidenden Volk, das von Korruption die Nase voll hatte, Sand in die Augen zu streuen. Um an der Macht zu bleiben – als gäbe es kein Morgen, als gäbe es keine indigenen Völker… als gäbe es keine Tierarten, die man nie wieder würde erschaffen können.

Zeiten, in denen beispiellose Artensterben durch Umweltgifte, Bodenversiegelung und Monokulturen eingesetzt hatten. Zeiten, in denen störende Minderheiten, Kritiker oder whistleblower überall verdrängt, vertrieben oder eingesperrt wurden.

In der auch in den hiesigen Demokratien ewiggestrige politische Strömungen wieder hervor gekrochen waren – die europäische Erfolgsgeschichte ignorierend, dass dort unter den Völkern seit siebzig Jahren Frieden herrschte nach mörderischen Kriegen. Jetzt, wo es auch um Teilnahme, ums Helfen, um Solidarität ging und sich Flüchtlinge mit ihren Familien auf den Weg machten – Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten und hofften, irgendwo neu anfangen zu können. Aus immer heißeren Regionen, die nach Kolonialisierung und Ausbeutung nun von endlosen Verteilungskriegen und Umweltzerstörung geprägt wurden.

Die Hühnerdiebe und Taugenichtse, die wegen unfertiger Einwanderungsgesetze in ihrem Kielwasser nachfolgen konnten, die es überall auf der Welt gab und die es auch in die reich gewordenen Sozialstaaten geschafft hatten… sie dienten der neuen Rechten als Beweis für die Richtigkeit ihrer kruden Verschwörungsmythen. In denen sie sich nicht entblödeten, vom geplanten „Bevölkerungsaustausch“ zu raunen… diese heimattümelnden Nationalstaatsfanatiker, für die es keinen Mensch gemachten Klimawandel gab, sonderten gebetsmühlenartig ihre kurzsichtigen und kriegerischen Wagenburg-Überzeugungen ab und waren strikt gegen jede Integration gutwilliger Einwanderer. Und erhielten dabei nie geahnten Zulauf von Menschen, die gar nicht wussten, wie gut sie es hatten. Für die der Protest gegen „die da oben“ reiner Selbstzweck war. Die nie über den Tellerrand geschaut hatten, bestenfalls in einem Urlaubsgetto vollversorgt worden waren.

Chronisch Unzufriedene mit überzogenem, durch nichts gerechtfertigten Anspruchsdenken, die sich immer als die Betrogenen sahen und sehen würden. Denen es zu liberal zuging. Die einen anderen Staat wollten mit einem starken Führer und nicht vorhatten, sich mit den komplizierten Regeln einer modernen, wehrhaften Demokratie auseinanderzusetzen. Rückwärts Gewandte, die dunkel ahnten, dass große Veränderungen im Anmarsch waren, dass sie vielleicht etwas abgeben sollten… das entfachte ihren Neid, vor allem aber ihre Wut. Und sie hatten Angst. Fürchteten sich vor der Ausbreitung fremder Religionen und deren radikalen Strömungen. Verständlich, wenn man sah, wie der reine Islam von Terroristen entstellt und missbraucht wurde – das hilflos wirkende Durchgreifen vor allem deutscher Exekutivkräfte gegen Dschihadisten, Salafisten und kriminelle Familienclans diente den verhinderten Systemveränderern, die sich selbst als „das Volk“ sahen, als weitere Bestätigung ihrer Verschwörungstheorien – auch wenn sie selbst kaum behelligt wurden.

Zeiten auch, in denen vom Westen und Osten bis an die Zähne hochgerüstete Regionalmächte endlose Stellvertreterkriege auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausfochten, um ihre Einflusssphären auszuweiten. Zeiten, in denen Technologiekonzerne aus dem Boden geschossen waren wie verführerisch glänzende Pilze und sich rasend schnell global ausgebreitet hatten – bedenkenlos auch alle dunklen Seiten der menschlichen Natur nutzend, darauf abzielend sogar. Jene Seiten, die Gaffer an Unfallstellen mit gezücktem Handy langsamer fahren ließen, um schaudernd und mitleidlos vielleicht einen Blick auf zerfetzte Körper zu werfen, deren Fotos man als erster ins Netz stellen konnte.

Als soziale Medien kamen diese Geschäftsideen aus dem silicon valley daher. Machten es möglich, dass mit riesigem technischen Aufwand millionenfach banalste, grenzdebile Kläffereien bedeutungsloser Egos, läppische oder widerliche Fotos, Mobbereien, Abartigkeiten, Todesdrohungen wie elektronisch beschmierte Klowände in einem globalen Scheißhaus des Geistes ins world wide net gestellt werden konnten – für jeden ohne Altersbeschränkung überall auf der Welt einsehbar. Und fanden schnell kaum aufspürbare Nachahmer in östlichen Ländern, die noch weit rabiater, ganz ohne Feigenblatt und unverhohlen kriminell vorgingen. Die neuen Pandemien ließen sie regelrecht aufblühen und die wenigen Eigner obszön reich werden.

Für die, die nun mit einigen Mausklicks Milliarden raffen konnten, war es ein neues Paradies. Auch für die, die sich heute Staatschefs oder Präsidenten nannten. Man konnte politisch besser denn je mitmischen – und das alles höchst lukrativ.

Schicke, junge High-Tech-Konzerne oder Versandhandel-Giganten aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten hatten sich daran gemacht, die Welt zu erobern. Darunter taten sie es nicht. Sie hatten das neue Zeitalter eingeläutet – sagenhaft erfolgreich. Mit Umsätzen und Börsenwerten, höher als das Bruttoinlandsprodukt mancher Kontinente. Mit prächtigen Schutzmänteln und knallbunten Feigenblättern. Machtzentren, die als engagierte Fortschrittsbringer daherkamen, sich überall niederließen und nirgendwo Steuern zahlten, weil ihre Anwaltbüros überall Schlupflöcher fanden. Die wahllos persönliche Daten ihrer Milliarden Nutzer abgriffen, um die Macht durch punktgenau gezielte Werbung, ausspionierte Bewegungsprofile, Konsum, damit verbundenen Transport, durch die ganze rücksichtslose Philosophie des Geldes auszuweiten und den Gedanken an die unrentable Solidarität verblassen zu lassen: The winner takes it all – alles andere waren Kollateralschäden.

In enger Komplizenschaft mit den produzierenden Konzernen des sinnlosen, umweltzerstörerischen Massenkonsums: die sich folgerichtig dort ansiedelten, wo die Menschen am ärmsten, Löhne am niedrigsten und Umweltauflagen kaum vorhanden waren.

Und gleichzeitig für jeden Bewohner der Erde, vor allem für die ärmsten, das eigentliche Problem, das alle anging und eine glasklare Überlebensfrage war, plötzlich hautnah spürbar war – viel rascher als jemals vorhergesagt: Der Klimawandel durch die Erderwärmung und die damit verbundenen Folgen. Ganze Küstenstriche brannten ab, Eisschilde schmolzen, der Permafrostboden taute auf. Der Meerespiegel stieg, messbar und sichtbar. Halbe Dörfer wurden weggespült durch nie zuvor gemessene Regenmassen, während anderswo riesige Gebiete versteppten.

Die Jugend hatte es bemerkt und stand auf, Gegenströmungen entstanden. Noch waren sie machtlos – aber sie würden irgendwann ans Ruder kommen und in die Institutionen, in die Politik… nicht alle von ihnen würden an Sachzwänge glauben und sich korrumpieren lassen.

Er sah das wandfüllende Poster vor sich, das neuerdings bei seiner Tochter Lisa im Zimmer hing.

So etwas konnten sie dort, bei der Mutter aller Umweltschutz-NGOs, da machte ihnen niemand etwas vor: Eine weiße Familie mit zwei Kindern stand da, inmitten einer Tropenlandschaft. Sie hielten sich an den Händen und sahen sich staunend im Regenwald um. Wasserfälle stürzten Felswände herab, Palmen, Lianen hingen über Dschungellichtungen, farbige Riesenblüten wuchsen am Boden, Papageienschwärme und exotische Schmetterlinge flatterten auf. Blaue Bergketten dahinter in der Ferne – wie durch ein grün umranktes Sichtfenster… das ganze Szenario war von einer mächtigen, durchsichtigen Kugel umschlossen. Einer Kugel aus hauchdünnem Glas, die das Ganze wie ein Riesenspielzeug wirken ließ. Außen spiegelten sich in ihr, halbtransparent, die Farben der Erde wieder, aus dem All gesehen – leuchtendblau und spiralig weiß, bräunlich sandfarben, blassgrün.

Aus fast unsichtbaren Sprüngen in der transparenten Hülle spritzten haarfeine Lecks im Bogen hervor. Der lebenserhaltende Flüssigkeitsspiegel war schon deutlich gesunken – abgestorbene Baumspitzen riesiger Redwoodtannen ragten oben heraus, den Blicken der staunenden Menschlein verborgen.

 

Von außerhalb der Kugel ragte die Hand einer schönen jungen Riesin ins Bild, einer Südseeinsulanerin. Sie heftete durchsichtige Klebestreifen auf die Sprünge dieses heiklen Zauberspielzeuges, dieses lebenden Wunderaquariums. Schere und Klebstreifenrolle lagen davor: aber überall schienen neue, kaum sichtbare Risse zu entstehen.

Schon ein irgendwie unbehaglicher Zeitpunkt, mit beträchtlichem finanziellen Aufwand unter weißen Segeln durch die Weltgeschichte zu gondeln, als sei nichts. Geringer Ressourcenverbrauch und spartanisches Hundeleben in Herrlichkeit an Bord hin oder her… wenn man sich im Spiegel noch ins Gesicht schauen wollte und nicht den „Nach-mir-die Sintflut“- oder „Wir können eh nichts machen“-Standpunkt vertrat…

Es hatte jedenfalls etwas vom Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckte. Obwohl der das ja in Wahrheit gar nicht tat, sondern die Redensart von einer optischen Täuschung herkam.

Und er wollte ja nicht mit ihrem neuen Schiff die Nähe und angesagten Heimathäfen der Megajachten und Börsengewinnler suchen. Sondern das Meer, die Ozeane, die Hafenstädte waren das natürliche Umfeld, wo er sein Leben verbracht hatte – auch beruflich. -

*

Der graubärtige Skipper warf jetzt durch die Fenster einen Blick auf seine ‚Röde Orm III’, an der gerade ein Motorboot mit zwei riesigen Außenbordern längsseits ging und dort bindfadendünne Leinen festbändselte.

Dann zog er umständlich die Pfeife und den ledernen Tabaksbeutel heraus, während der Schaum auf seinem Bierglas zusammensank:

„Darf man hier rauchen?“

„Hier raucht eigentlich keiner, von uns. Aber ich mach die andere Nocktür auf – dann zieht das so raus.“

Hannes stieß dicke Qualmwolken aus und warf ihm durch den blauen Dunst einen forschenden Blick zu. Scheinbar beiläufig stieß er hervor, die Pfeife zwischen den Zähnen:

„So – und ihr seid jetzt ohne euer Boot, hab ich gehört… nach so langer Zeit. Auch nicht schön… wie lange hattet ihr das jetzt? Zwanzig Jahre?“

Petersen nickte, nahm durch den Schaum einen Schluck aus dem Glas und wischte sich über den Mund:

„Ja, so ungefähr. Aber es ist in guten Händen gelandet – werftmäßig restauriert und soll dann weiter auf großen trail gehen. Ist im Moment in Portugal – da haben die neuen Eigner ein Häuschen und machen noch Restarbeiten, ehe sie los wollen. Über die Kapverden, Antillen und weiter in den Pazifik. Da könnte man fast neidisch werden. Fast. Na ja, mal sehen…“

Er ließ eine kleine Kunstpause folgen. Aber Hannes wusste, wie man Petersen Neuigkeiten aus der Nase zog.

„Soso – und jetzt willst du ein Wohnmobil anschaffen. Ist ja nicht viel, was man für so alte Schätzchen noch kriegt – so schön und kernig sie auch war! Vor allem, wenn sie dann erst aufwendig restauriert werden müssen…“

Er grinste harmlos und sein Rauschebart verschwand wieder halbwegs hinter blaugrauen Schwaden.

Aber nun war Petersen endlich am Zug.

„Wohnmobil…!? Neues Schiff kommt jetzt!“

Er schüttelte belustigt den Kopf, tat geheimnisvoll und freute sich in Wirklichkeit auf weitere Fragen.

„Wieder so eins, in der Größe? Angeboten wird ja einiges… aber auch viel Schrott.“

Petersen stellte behaglich sein Bierglas ab und bequemte sich, mit Einzelheiten herauszurücken. Es war ihm, als skizziere er dabei einen Kurs… über den er sich noch gar nicht so sehr im Klaren war. Ganz zu schweigen davon, was dann noch alles so zu regeln war in seiner Familie. Und in seinem Job.

„Mal schauen… vielleicht ein bisschen größer. Aber ich will kein Stahlschiff mehr. Was Pflegeleichteres – aber wertbeständig. Was man immer ohne viel Verlust wieder verkaufen kann, wenn mal was ist. Auch noch nach Jahren… eine noch nicht so alte, vielleicht auch neue GFK-Konstruktion. Wahrscheinlich was Skandinavisches. Kann einen oder zwei Masten haben… zwölf bis vierzehn Meter. Muss große und kleine Rollfock, Rollgroßsegel, Selbststeueranlage, Radar und vielleicht Bugstrahler haben. Ocean going… aber sonst möglichst wenig Technik – nicht alles hydraulisch, die Winden und so. Selbstholend reicht. Vielleicht noch eine schöne elektrische Ankerwinsch.“

Hannes schwieg und machte große Augen. Er paffte so angestrengt, dass man ein leichtes Schmurgeln aus dem Pfeifenkopf hörte, als Petersen fast andächtig innehielt und sich diesen Traum von einer Fahrtenjacht vor Augen führte. Und das unvorstellbarste war, dass sie jetzt die finanziellen Mittel hatten, sich genau dieses Schiff anzuschaffen. Kein Jahr, nachdem sie ihre geliebte, treue „Jan van Gent“ zu einem lächerlich niedrigen Preis verkaufen mussten, weil sie zu alt geworden war. Das war schon was.

Eine Weile sagte keiner etwas. Von unten aus dem Wohnbereich und der Kombüse drangen verhaltene Geräusche herauf – leises Klirren von Geschirr, das jemand aus der Spülmaschine räumte, Türenklappen und gedämpfte Stimmen aus der Mannschaftsmesse, wo der Fernseher lief.

„Da musst du ja einiges investieren. Vierzehn Meter – Mann… ich dachte immer, ihr wolltet euch irgendwann verkleinern…! Sagtest du nicht mal so was, als wir letztens bei euch waren? Ich meine, so lange hast du ja auch nicht mehr, bis deine Rente anfängt. Und eure Kinder sind ja noch nicht aus dem Gröbsten ’raus – hat Lisa nicht grade mit dem Studium angefangen? Das kostet ja alles…“

Sie wurden unterbrochen, weil jemand die Treppe heraufkam.

Der vierschrötige Bootsführer des Tochterbootes blieb auf den oberen Stufen stehen, stützte die Arme lässig auf das Geländer und musterte den Fremden auf der Sitzbank neugierig. Dann nickte er ihm einen kurzen Gruß zu und wandte sich an Petersen:

„Will nicht lange stören… wir wollten noch mal eben los zum Schiffsausrüster. Der bleibt extra länger für uns. Also – eine Stange Zigaretten und eine Flasche Schnaps pro Person sind erlaubt?“

Petersen nickte zustimmend.

„Meine Stange und die Flasche kann einer von euch nehmen. Könnt ihr nachher erst mal in meine Kabine bringen und dort pro forma auf den Tisch stellen. Ich brauche nichts.“

Der bullige Mittdreissiger tippte dankend an seine Stirn unter dem militärisch kurzen Haarschnitt, als sei dort ein Mützenschirm und drehte sich im Abgehen auf der Treppe noch einmal um:

„Wir wollten uns nachher einen Film ankucken unten in der Messe… oder will jemand was anderes…?“

Petersen winkte zustimmend.

„Macht mal. Ich gehe nachher vielleicht noch mit meinem Bekannten kurz an Land oder auf sein Boot – bin ohnehin nicht da.“

Als sie allein waren, nahm Hannes den Faden wieder auf :

„Na ja, wenn man nachher so ’ne Pension hat wie du – als Beamter beim Staat! Da gibt’s ja keine Abzüge, hab’ ich gehört.“

Petersen lachte gutgelaunt auf und korrigierte das schiefe Bild, das sein Gegenüber offenbar hatte.

„Ich und Beamter! Kannst du dir das vorstellen, Mann? Bin ich natürlich n i c h t – da hätte ich als Zwanzigjähriger hier bei der Behörde anfangen müssen! Nein, ich bin immer noch der Neue hier. Auch nach fünfzehn Jahren… außerdem kein richtiger Ostfriese, das ist auch nicht ganz unwichtig. War ja schon Mitte vierzig, als ich hier anfing. Kleiner Angestellter im Öffentlichen Dienst, mehr ist nicht als Quereinsteiger – gläsernes Gehalt! Kann jeder nachschauen – kein Geheimnis, der Tarif. Entgeltgruppe 10, Stufe fünf. Jeder VW- oder Mercedesarbeiter in Emden oder Stuttgart verdient mehr im Schichtbetrieb. Ich bin hier nur so ’ne Art Vorhandwerker – beim Amt gibt’s ja für alles diese Dienstbezeichnungen! Nicht umsonst heißen die Schipper hier auf den Behördenfahrzeugen nur ‚Schiffsführer’ wie auf ’nem Binnenkahn. Kapitäne beim Staat nennen sich ‚Seeoberkapitän’ oder ‚Seehauptkapitän’ und sitzen im Büro an Land, oder in der Revierzentrale – d a s sind Beamte! Kannte ich auch alles nicht, diesen Zirkus…“

Hannes legte die ausgerauchte Pfeife neben sich auf den Schreibtisch.

„… na, nun übertreib man nicht. ‚Seehauptkapitän’… – so was gibt’s?“