Europäer, unterwegs

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3.

Petersen war froh, dass er aufrecht im brausenden Wind saß und nicht bei dieser Hitze im Auto schmorte – von der Sonne durchs offene Schiebedach gebraten, oder sich durch die Klimaanlage eine Erkältung holend.

Die Staus bei Amersfoort und Utrecht hatte er hinter sich gelassen.

Sonntag, kaum Berufsverkehr – nur einige schwere Lastwagen unterwegs… es schienen immer mehr Ausnahmegenehmigungen erteilt zu werden. Aber die Nachbarn fuhren diszipliniert und ein bisschen weniger schnell. Jedenfalls in ihrem eigenen Land.

Er war seit einigen Jahren dazu übergegangen, bei längeren Fahrten Ohrenstopfen zu verwenden. Die große Scheibe vorn hielt zwar einiges an Fahrtwind ab, zumal er selten schnell fuhr, aber zehn Beaufort waren es doch immer. Und der ständige Krach aus dem lauten Rauschen des Luftstroms am Helm und dem Wummern der Zylinder unter ihm war lästig nach stundenlanger Fahrt. Man merkte es erst, wenn man angekommen war – wenn der Motor schwieg und man den Helm abnahm.

Vielleicht kam daher auch das rasch wieder in vager Ferne verhallende, gelegentlich zweistimmige Pfeifgeräusch, das dann seit einiger Zeit in den Ohren auftauchte – von früheren, unbekümmerten Fahrten. Oder Konzertbesuchen in der Vergangenheit – neben Marshal-Türmen, auf denen Ian Gillans ekstatische Stimme nicht optimal ausgesteuert war.

Anneke war jedenfalls auch immer gern mitgefahren und tat es bis heute, eigentlich.

Lästig war wie immer das häufige Auftanken. Hundertfünfzig Kilometer – dann war Schluss, und die Reserve reichte nicht weit. Er sah auf den Kilometerzähler – es musste jeden Moment so weit sein.

Aha – da stuckerte der Motor schon und lief gleich darauf nur noch auf einem Zylinder. Er sah in den Rückspiegel, ließ gezwungenermaßen den Gasgriff los, worauf sie noch langsamer wurden und griff hastig unter sich, wo er den Hebel des rechten Benzinhahns nach vorn in die Reservestellung schob. Als der Motor wieder rund lief, dasselbe Spiel auf der linken Seite, damit auch diese Tankhälfte leer laufen konnte… jetzt hatte er noch zwanzig Kilometer, bis die Maschine endgültig stehen blieb.

Er warf einen schnellen Blick auf die Straßenkarte unter der Klarsichtfolie auf dem Tankrucksack und versuchte, dort ohne Lesebrille etwas zu entziffern. Sie hatten doch grade diesen kleinen Fluss überquert – wie hieß der noch, Leke – nein, Lek…

Gott sei dank, da kam ja schon ein blaues Schild voraus in Sicht, das eine Tankstelle ankündigte. Meerkerk – das war doch mal ein schöner Name. Sie schienen sich endlich der See zu nähern.

So langsam tat ihm auch das Hinterteil weh vom langen Sitzen.

*

Als er den Tank vorsichtig randvoll gefüllt und bezahlt hatte, stülpte er den Helm wieder lose über, fuhr von den Zapfsäulen weg in den Parkplatzbereich und stellte die Maschine auf der Seitenstütze ab.

Erstmal aus der schweren Jacke raus, die Hitze war drückend. Er legte Helm, Handschuhe und Nierengurt auf den kurz geschorenen Grasstreifen, nestelte den Tankrucksack auf und nahm die Wasserflasche heraus, setzte sie an und trank den lauwarmen Inhalt fast aus.

Hier war wenigstens Halbschatten durch ein paar hohe Pappeln.

Die Außentemperatur konnte sich heute ohne weiteres mit der eines Augusttages an der griechischen Ägäis messen. Nur der in der Luft liegende Geruch war nicht grade Eukalyptushain – anders auch als in Deutschland. Nicht der stechende, schon halbwegs vergorene Jauchegestank der Gülle, sondern ein milderes, sanfteres Aroma – nach frischen Kuhfladen.

Näselndes Brabbeln, dann ein fauchendes Keuchen erklang hinter seinem Rücken.

Ein endlos langes Thunderbird-Cabriolet aus den sechziger Jahren, weiß funkelnd und Verdeck offen, rollte dicht hinter ihm aus und kam schaukelnd wie ein Alsterdampfer zum Stehen. Der Fahrer trat ein weiteres Mal lustvoll aufs Gaspedal und stellte dann den Motor ab.

Die beiden jungen Männer darin befanden sich offensichtlich auf einem Sonntagsausflug.

Sie trugen weiße Leinenanzüge, Fünfziger-Jahre-Sonnen-brillen, helle Borsalinos und rauchten erst einmal in aller Ruhe ihre sonderbar unförmigen Zigaretten auf – vorn auf der roten Ledersitzbank, wobei der Fahrer ein Bein über die Tür heraushängte. Sie schienen sich gestenreich spaßige Geschichten zu erzählen, brachen zuweilen in hektisches Gelächter aus und machten sich mit Blicken und Fingerzeigen auf ihre Mitmenschen aufmerksam, was ihre Heiterkeit weiter zu steigern schien.

Gelassene Stimmung, kein Stress… als sie ausstiegen und cool grinsend, aber interessiert herüberblickten und näher kamen, sah man, dass sie stilecht zweifarbige, schwarz-weiß vernähte Halbschuhe trugen.

Petersen nickte zurück und fuhr fort, in seinem Tankrucksack zu stochern, um die offenbar ganz nach hinten gerutschte Flasche mit dem abgefüllten Motoröl herauszuziehen.

Vierhundert Kilometer – er brauchte die fünf Zentner gar nicht erst auf den Kippständer zu wuchten und kerzengrade hinzustellen, um am Sichtfenster zu sehen, dass der Ölstand auf Minimum war: nach so einer Strecke war einfach ein halber Liter fällig bei dem dreißig Jahre alten Motor. Reiner Erfahrungswert.

Der gelbliche Inhalt der durchsichtigen Plastikflasche, die er herauszog, schien das Interesse, vielleicht auch die Phantasie der beiden jungen Herren weiter anzuregen. Als Petersen sich jetzt hinhockte, mit einem Papiertaschentuch den heißen Einfüllstutzen am Motor aufschraubte und die Hälfte des Flascheninhalts vorsichtig hineingluckern ließ, als tränke er ein verdurstendes Tier, kamen sie heran und sahen neugierig zu. Aber ihr anfängliches Amüsement schien sich langsam in eine Art verhaltene Anerkennung zu verwandeln. Sie nuckelten etwas ratlos an ihren Coladosen, traten ihre Joints aus und machten sich auf das altertümliche 80iger-Jahre-Design und den Pflegezustand der Maschine aufmerksam… schienen zu erwägen, ihn anzusprechen und nach Einzelheiten zu fragen, besannen sich dann aber doch anders. Blieben dicht bei ihm stehen, riskierten einen Blick auf die zerknitterte Straßenkarte in der Klarsichttasche, wo die Fahrtstrecke rot markiert war, sahen zu, wie er seine Jacke wieder anzog, die Flaschen verstaute und zu Helm und Handschuhen griff. Offenbar hatten sie erst einmal nichts Besseres vor – wollten noch hören, wie der Motor ansprang und ihm beim Abfahren zusehen.

Und da konnte er einiges bieten, das wusste er aus langer Erfahrung.

Zwar war der Sound gedämpft, wenn sie einmal lief… aber es gab keinen Kickstarter, und der elektrische Anlasser war etwas schwächlich konstruiert. Ausschließlich in der Lage, die Kolben ein einziges Mal über den oberen Totpunkt zu wuchten. Auch die besten Zweiräder wiesen gelegentlich kleine Konstruktionsfehler auf, mit denen man leben musste…

Er saß auf, ließ die Seitenstütze hochschnellen, schaltete die Zündung ein und drückte entschlossen, aber nicht ohne ein leises Bangen den Startknopf. Ein laut heulendes Geräusch, einer Wolfshupe nicht unähnlich, ertönte unter ihm – ein Geräusch, das alle Anlasser dieser Welt von sich geben, wenn sie gänzlich ohne Widerstand drehen.

Der Freilauf war wieder mal nicht eingerastet bei diesem ersten Startversuch, tat es aber dafür jetzt, beim Auslaufen: auf das Heulen folgte ein ohrenzerfetzendes, mahlendes Geräusch – als würde jemand eine Handvoll Schrauben in ein sich schnell drehendes Getriebe werfen.

Das kam schon mal vor, dass sie beim ersten Versuch nicht ansprang – vor allem, wenn sie so heiß war… er sah im Rückspiegel, wie die beiden Männer sich kurz und entgeistert anblickten und dann halbwegs bogen vor begeistertem Lachen, weil sie offenbar der Überzeugung waren, dass mit diesem Geräusch nur das metallene Anlassergehäuse zerbröselt und die Einzelteile auf den Boden gefallen sein konnten.

Jetzt musste sie allerdings kommen, beim zweiten Versuch… wenn nicht, würde es in der Stille, die auf das click des Knopfdrucks folgte, sehr bald anfangen, zu qualmen und nach verbranntem Gummi zu stinken. So lange, bis der Anlasser seine Magnetwicklung zur Gänze verbrannt hatte. Aber dann konnten ihn die beiden Jünglinge immer noch anschieben… wenn sie noch genug powers dazu hatten…

Aber nein – kurzes, juckelndes Klackern, dann braves, ungestümes Blubbern von unten. Alles gut – der Motor lief.

Todo claro. Petersen tätschelte automatisch einmal kurz den Tank, hob grüßend die Hand zum Abschied und rollte davon.

*

Diese sonderbaren Namen konnte man sich wahrscheinlich schon dann nicht sehr gut merken, wenn man kein schlechtes Namensgedächtnis hatte: Gorinchem, Ettenleur…

Dordrecht, okay – da hatten sie mal vor langer Zeit gelegen und eine Ladung Schrott für Bilbao in ihren Bulkcarrier geladen, nach einer endlosen Revierfahrt mit wechselnden Lotsen.

Es ging jetzt auf jeden Fall irgendwie Richtung Südwesten und südliche Nordsee, die Sonne war meist vier Strich an Backbord. Es war später Vormittag – zahlte sich aus, dass er noch vor Sonnenaufgang losgefahren war. Er musste kurz vor dem Ziel sein.

Das Autobahnnetz war dicht und erschien kompliziert. Immer mehr Tunnel und Flussarme waren zu durchfahren und zu überqueren. Er hatte die ausgedruckte google-maps-Karte in der Hülle für das letzte Stück umgedreht.

Ihm wurde bewusst, eigentlich das erste Mal, dass dieses riesige, von Sturmfluten zerrissene Delta mit den langen Inseln und den breiten, sundartigen Flussläufen und Meeresarmen vor ihm nichts anderes war als die Mündungen des Rheins und der Schelde.

Hinter Bergen op Zoom wurde es übersichtlicher. Es ging zwar ein kurzes Stück nach Süden, dann aber schnurgrade wieder nach Westen auf die große Halbinsel Beveland hinaus. Oder Duiveland…? Beim nächsten Halt musste er noch mal genauer auf die Karte schauen. Die Inseln und Halbinseln hatten irgendwie alle eine ähnliche Form. Und dort lag ja wohl dieser Ort Bruinisse, der sein Ziel war.

 

Wo er morgen vormittag einen Besichtigungstermin hatte mit dem Verkäufer. Der ein atemlos schnelles, rasantes und nahezu fehlerfreies Deutsch gesprochen hatte, das ihn an längst vergangene Fernsehsendungen mit holländischen Showmastern erinnert hatte. Er war nur schwer einmal zu Wort gekommen – nach dem Telefonat hatte er das unbestimmte Gefühl verdrängen müssen, dass er grade eine bestens gepflegte und kaum gebrauchte Jacht erworben hatte und die Sache so gut wie in trockenen Tüchern war. -

So nebenbei konnte er auch schon mal nach einer Übernachtungsmöglichkeit in einer kleinen, preisgünstigen Pension Ausschau halten, so kurz vor dem Ziel. Obwohl, preisgünstig war jetzt ja nicht mehr die alleroberste Priorität, bei so prall gefülltem Konto…aber es konnte nie schaden, sparsam zu sein.

Hotels schienen hier reichlich dünn gesät, er musste herunter von der Autobahn.

Außerdem bekam man Kaffeedurst und Appetit auf einen kleinen Beibiss. Die nächste Ausfahrt war definitiv seine – er musste irgendwie an die Nordostküste der Halbinsel kommen, die nicht weit entfernt sein konnte. Und da lag auch der große Jachthafen.

Keine Spur mehr von Trockenheit und verbranntem Gras, übrigens – platt wie ein sattgrüner Pfannkuchen breitete sich die Landschaft jetzt vor ihm aus. Kaum noch Gebäude und Häuser. Gelegentlich lange flache Viehställe mit offenen Flanken. Einzelne altholländische, auch Gruppen riesiger, moderner Windmühlen in der Ferne, sparsam in der weiten Fläche verteilt. Hier und dort ein schlanker Kirchturm oder ein qualmender Industrieschornstein am Horizont.

Endloses fettes Weideland, unter dem Meeresspiegel liegend und der See abgerungen. Von kleinen, schnurgraden Wasserläufen mit filigranen Zugbrücken durchzogen. Immer wieder von Baumreihen aus Pappeln unterbrochen, die man schon aus kilometerweiter Ferne sah. Schemenhaft Kühltürme und Schornsteine eines gewaltigen Kraftwerks an der Kimm.

Darüber ein Himmel, der jetzt nicht mehr weißlich-dunstig war wie im dicht besiedelten Binnenland. Sondern flache weiße Schönwettercumuli im zunehmend blauen Himmel, von einer leichten Seebrise fast unmerklich nach Nordosten vertreibend.

Er fuhr die nächste Ausfahrt herunter. Die Straße wurde rasch schmal und führte in ein Städtchen, dessen Hauptstraße von niedrigen, schmalen Backsteinhäusern und Katen gesäumt war. Gasthöfe und Pensionen, auch Restaurants waren nicht zu sehen – nur dieses blitzsaubere Fischerdorfambiente, wie in einem Museumsdorf. Die wenigen Geschäfte hatten geschlossen. Nirgendwo geparkte Autos.

Das Motorrad wurde langsamer und rollte fast im Schritttempo dahin. In den engen Straßen tauchten Fußgänger auf.

Festlich gekleidete Menschen begannen, sich nach dem einzigen Fahrzeug an diesem späten Sonntagvormittag umzudrehen. Kleine und große Familien strebten, nebeneinander oder in Gruppen gehend, mitten auf der Straße ohne Hast auf eine mächtige graue Kirche mit hohem Schiff und zierlichen Turm zu. Die Männer trugen schwarze Kniehosen, bemalte Holzschuhe, weiße Kniestrümpfe und Schiffermützen, dazu weiße Hemden unter prächtigen Westen – die kleineren Jungen dunkle, fast fésartige Hüte. Auch die Frauen und Mädchen waren in Trachten gehüllt: weißbestickte, teils breit ausladende, oben spitz zulaufende Kappen, die die Ohren ganz bedeckten. Lange Faltenröcke wogten über glänzenden schwarzen Schuhen, und die dunkelblauen Blusen schmückte vorn und hinten ein weißer, kunstvoll gehäkelter Stofflappen, Brust als auch Rücken bedeckend.

Petersen stoppte auf, hielt am Straßenrand und stellte den Motor ab.

Hier war Sonntag – jegliche Arbeit ruhte. Die Menschen gingen zum Gottesdienst in ihre Kirche. Es wurde kein Film gedreht… er war nur unversehens in seeländisches, sonntägliches Landleben geraten – ein Fremder. Minuten von der vierspurigen Verkehrsader der Autobahn entfernt.

Die Fischer und Seefahrer hier waren vermutlich evangelisch-reformiert oder calvinistisch – nicht katholisch wie die reichen Kaufleute in den Handelsmetropolen Amsterdam und Rotterdam. Da vorn war ja auch ein Ortsschild mit einem Wappen darüber, wie hatte er das übersehen können: eine rote Wellenlinie auf weißem Grund und zahlreiche schwarze Kreuze darunter.

Er fummelte die Lesebrille hervor und zog stirnrunzelnd die Straßenkarte aus der Hülle… da war er wohl ein bisschen verkehrt gefahren.

Yerseke … er befand sich auf der falschen Insel, beziehungsweise Halbinsel. Er musste ’rüber über die breite Osterschelde auf die andere Seite, nach Zierikzee und Duiveland… hier würde er heute weder eine Pension, ein geöffnetes Hotel oder ein Restaurant finden.

Gut, dass er in den Niederlanden war, dem Land der Weltmeister im Wasserbau und Sturmflutschutz: laut Karte führten lange Straßenbrücken herüber von Noord-Beveland aus. Die äußeren, kilometerlangen schienen gleichzeitig gewaltige Sperrwerke zu sein, die die Nordsee daran hinderten, das gewonnene Land dahinter zu fluten.

*

Auch jetzt, um acht Uhr morgens, war es im Frühstücksraum schon warm.

Zwei Fenster standen eingehakt und weit geöffnet nach außen und ließen das laute Flöten der Amseln, das ihn in seinem Zimmer im ersten Stock geweckt hatte, auch hier eindringen.

Summertime – and the living is easy…

Der gemütliche Speisesaal war nur schwach besetzt – wahrscheinlich war es noch zu früh. Als er ein zweites Mal zum Büfett ging, warf er einen Blick auf das Motorrad.

Es stand noch da auf einem der Parkplätze vor der kleinen Bed-and-breakfast-Pension.

Die obere, leere Hälfte des Tanks war mit Tautropfen beperlt. Er hatte es gestern nicht einmal angeschlossen, sah er jetzt. Hoffentlich hatte er den Zündschlüssel wenigstens abgezogen… aber der erste Startversuch hätte wahrscheinlich ohnehin jeden potentiellen Dieb hastig in die Flucht geschlagen.

Er belud sein Tablett großzügig mit Müsli, drei Sorten Vollkornbrot, gekochtem Ei und Honig. Ein reichliches Frühstück mit Kaffee und frischem Toast war ein guter Start für einen solchen Tag, der leicht weitreichende Entscheidungen mit sich bringen konnte.

Er musste allerdings sehen, dass er gleich die schweren Motorradklamotten schön eng zusammengerollt in den Seitenkoffern verstaut bekam. Die letzten zehn Kilometer von diesem Dörfchen aus, wo er gestern Nachmittag noch das offenbar letzte freie Zimmer bekommen hatte, brauchte er nicht die volle Montur. Und das schöne Sommerwetter schien weiterhin anzuhalten. Auch wenn der Seewind es nicht ganz so heiß werden ließ, hoffentlich.

Er wollte nicht mit dem Motorrad beim Jachtmakler vorfahren. Es war weder ein rat bike noch eine Boulevard-Guzzi, sondern einfach nur ein nachhaltig genutztes Transportmittel – aber man brauchte gar nicht zu wissen, wie er angereist war. Er wollte zumindest hereingelassen werden… Kleidung zum Wechseln hatte er dabei – hatte sie gleich heute morgen nach dem Duschen angelegt.

Diese Fotos auf der homepage hatten stinkfein ausgesehen. Fassaden aus Chrom und grünlichem Glas, goldfarbene Namenszüge und futuristische Plastiken aus gebürstetem Stahl, fette Limousinen und Sportwagen davor. Es hätte auch der Eingangsbereich eines Autohauses irgendwo im Stuttgarter Kessel sein können, auf die grüne Wiese geklotzt. -

Aber überall schien er bei seinen Hotelsuchen unterwegs nur noch das letzte freie Zimmer zu bekommen – es war wie verhext. Und das war dann noch ein teures Doppelzimmer.

Er war allerdings froh gewesen, als er auf der spärlich besiedelten Insel in diesem Örtchen Noordgouwe überhaupt noch diese Pension gefunden hatte, die sich so einladend an ein kleines Waldstück schmiegte: „Ons Dijkhuisje“.

Man hatte fließend Deutsch gesprochen, und alles war von einem hervorragenden Standard. Abends hatte er sogar noch in dem rustikalen Dorfrestaurant nahebei ein schmackhaftes Gericht bekommen: Rode Poon – Knurrhahn, im Ofen gebacken, mit frischem Gemüse und Salzkartoffeln. Sicher von den schweren grünen Stahlkuttern aus Texel und Terschelling hereingebracht, die auch bei neun Windstärken vor der Doggerbank noch fischten mit breit ausgebrachten Kurrbäumen, kaum auszumachen in der fliegenden Gischt… er hatte sie oft genug gesehen von der „Jan van Gent“ aus.

4.

Jetzt, um kurz nach zehn, trug Petersen sein Landgangspäckchen, sozusagen.

Jeans, neutrales weißes T-Shirt, leichte braune Lederjacke. Aber halbwegs neue Bootsschuhe, die er extra eingepackt hatte.

Er war ein wenig über die vereinbarte Zeit, weil er das Motorrad weit hinter der hohen Deichauffahrt in der schattigen, baumgesäumten Allee mit den kleinen Cafés abgestellt hatte.

Es wurde schon wieder heiß. Im grellen Sonnenlicht lag vor ihm jetzt ein weitläufiger, nicht öffentlicher Jachthafen mit Fingerstegen, schicker, flaggenbewehrter Tankstelle und flachem Wellenbrecher.

Hunderte von Segel- und Motoryachten – kaum eine unter zwölf Metern.

Hinter der Bunkerpier die Vorführmodelle, zwei Sechzigfüßer – Ein- und Zweimaster mit 30-Meter-Masten. Megateure, funkelnagelneue Spitzenmodelle ihrer Art. Längsseits festgemacht mit einer Armada dicker Ballonfender, Gangway ausgebracht.

Als Paradestück davor eine riesige schwarze Motorjacht mit ausgeprägtem negativen Sprung, schwärzlichen, blickdichten Glasflächen und langer Badeplattform. Keine Öffnungen, nirgendwo – nur hinten eine Art Tresortür aus schwarzem Panzerglas.

Von innen blickte man wahrscheinlich heraus wie aus einer klimatisierten, luxuriösen Grabkammer des Thutmosis I. Von außen wirkte sie, als sei sie luftdicht in hochglänzende, transparente Zellophanverpackung eingeschweißt. Das bucklige Design sollte möglicherweise an einen sprungbereiten Panther gemahnen – es gab jetzt auch solche Mercedeswagen, deren ganz ähnliche Formen allerdings mehr das vergebliche Bemühen offenbarten, sich britischem Jaguardesign anzunähern. Offenbar nahm der Geschmack der poser, der Zuhälter und der neuen Börsenelite auch solche Verirrungen klaglos, wenn nicht begeistert hin.

Davor ein riesiger, pseudo-kubistischer Gebäudewürfel mit asymmetrisch ansteigender Dachfront und verglastem Eingangsbereich. Endlos lange Bootshallen, daran angebaut. Weitläufige, geschwungene Parkplätze, mit rotem Klinker zugepflastert; dekoriert mit Volvo- und BMW-SUV. Von superkurzen, besprengten Rasenflächen umgeben, auf denen summend zwei Mähroboter wie Riesenkäfer aus Plastik scheinbar orientierungslos umherruckelten.

Er betrat die kühle Eingangshalle und sah sich in dem menschenleeren Raum um. Von irgendwoher tönte gedämpft instrumentale, weichgespülte Popmusik – er glaubte, Evergreens wie Hello, Goodbye zu erkennen.

Mehrere geschwungene weiße Tresen, Sitzgruppen mit modernistisch gestylten Ledersesseln mittendrin, blitzende Espressomaschinen. Alles in weiß gehalten, auch der riesige Schriftzug NOVA YACHTING. Weiße Kaffeebecher mit dem Aufdruck Navigare necesse est.

Nicht nur John Lennon, auch Klaus Mewes hätte sich in seinem Seemannsgrab auf der Doggerbank vermutlich umgedreht.

Immer diese Erinnerungen, die einen so unvermittelt anfielen – wahrscheinlich wurde man alt… wann war das gewesen, als sie in die Altdeutsche Diele nach Steinhausen gefahren waren, wo der Hamburger Dichter Kinau am flackernden Kaminfeuer aus seinem Buch vorgelesen hatte? Das er ihm anschließend lächelnd signiert hatte mit ‚Rudl Kinau’, als sei er ein besonderer Kinderfreund… wie hieß es doch, ‚Braune Segel im Wind’…? Damals eines seiner Lieblingsbücher – neben „Seefahrt ist Not“ natürlich.

Auf der Rückfahrt nach Hause war es so neblig gewesen, dass Vater, ohnehin durch seine Kriegsverletzung fast nachtblind, seine neuen Halogenscheinwerfer hatte einschalten müssen und es nur im Schritttempo voranging… zehn musste er gewesen sein. -

Ganz hinten in dem mit imitiertem Fischgrätenparkett ausgelegten Raum öffnete sich jetzt eine Glastür. Ein noch junger Angestellter in hellem Sommeranzug hielt auf ihn zu. Halb Dressman, halb Leibwächter – mit tadellosen Manieren und maßgeschneiderten, braunen Sebagos an den Füßen.

Mit einem Blick hatte er Erscheinung und Outfit seines Gegenübers einsortiert – war aber weit entfernt davon, auch nur ansatzweise eine Augenbraue zu heben oder ein noch so unauffälliges Lächeln über sein gebräuntes, langes Gesicht huschen zu lassen. Dafür war er ein zu perfekt geschulter und erfahrener Verkäufer.

 

Im Jachtbusiness musste man mit allem rechnen… der abgerissenste Hippie konnte noch der Erbe eines Fabrikanten sein. Das schwarze Schaf der Familie, dem der Firmentycoon wenigstens ein vierstöckiges Parkhaus am Genfer See vererbt hatte, damit der Taugenichts ein Monatseinkommen hatte und nicht zur Gänze von der staatlichen Fürsorge abhing.

Solche Gedanken galt es in Zukunft allerdings wohl besser ein bisschen fernzuhalten – er saß ja neuerdings selbst ziemlich im Glashaus, was dubiose Erbschaften betraf… aber d a s Geld war seinem Halbbruder ja von einem norwegischen Reeder aufgedrängt worden. Quasi eine Art Abfindung… bis heute war ihm nicht restlos klar, warum Per ihm eigentlich ohne Erklärung die Hälfte davon überwiesen hatte. Wahrscheinlich als eine Art Schweigegeld.

Ob sich diese Summe allerdings auf seinem Kontokorrentkonto gut ausmachte – davon war Anneke schon seit längerem nicht mehr überzeugt. -

Der alerte, aber nicht unsympathische Verkäufer streckte ihm verbindlich, ein wenig flüchtig lächelnd die Hand entgegen:

„Schöne guten Morgen – willkommen in den Niederlanden, Herr Peters… hatten Sie eine gute Fahrt, hoffe ich?“

Es war der gleiche Mann, den er vor Tagen am Telefon gehabt hatte. Der Nachname war nicht gut zu verstehen gewesen, mit dem er sich eben vorstellte. Aber er erkannte die etwas raue Baritonstimme, die eher zu einem weit älteren Mann gepasst hätte, und den Tonfall wieder.

Der Holländer war riesig – da fehlte wenig oder gar nichts an zwei Metern. Fehlendes Selbstbewusstsein war seine Sache nicht, und sein Deutsch war fast fließend.

Aber verglichen mit dem Telefonat war er heute geradezu wortkarg. Petersen fragte sich, woher er offenbar wusste, dass er der erwartete Kunde-in-Spe war. Er hatte noch kein Wort gesagt.

„Kommen Sie – ,“ einladend und ohne auf eine Vorstellung des anderen zu warten, wies der semmelblonde Hüne auf eine der Sitzgruppen in der Halle,

„wir gehen da herüber… nehmen einen Kaffee, wenn Sie mögen – dort sind wir ungestört und können uns unterhalten. “

Er ging voraus und lud im Vorbeigehen selbst die silberne Kanne, die offenbar vorgefüllt war, zwei Becher sowie Zuckertütchen und Stanniol-Milchdöschen auf ein Tablett, stellte alles auf dem Tisch ab, verteilte und setzte sich Petersen gegenüber. Schenkte ihm und auch sich selbst ein und lehnte sich zurück, nicht völlig entspannt:

„Sie kommen wegen der Sechsundvierziger Hallberg, wenn ich mich gut erinnere – Mijnheer Peters, doch richtig…? Wir hatten telefoniert. Sehr schönes Schiff, die Walhalla … der Eigner will vielleicht verkaufen. Auch ein Deutscher… sollen wir hinfahren? Eine Blick darauf werfen, wie sagt man?“

Er warf einen dezenten Blick auf seine Armbanduhr:

„Es würde grade passen – ich fahre Sie hin.“

Petersen verrührte mit dem gelochten Plastikstäbchen den Zucker in seinem Kaffee und nahm einen Schluck, unangenehm überrascht.

„Hinfahren… dann liegt das Boot gar nicht hier…? “ –

Sein Gegenüber hatte den Kaffee nicht angerührt, nestelte ein superflaches Smartphone aus der Hosentasche, schielte drauf und legte es vor sich hin.

„Der Eigner hat es an seinem festen Liegeplatz gelassen… nicht weit von hier. Eine halbe Stunde mit dem Wagen. In Port Zelande – wissen Sie, wo das ist? Dort wohnt er auch manchmal und hat ein Appartement, glaube ich… wir sind ja Generalimporteur von Ferretti Crafts, Mangusta und Hallberg-Rassy. Hier in unseren Hafen haben wir nur unsere neue Schiffe. Wir brauchen den Platz, auch wenn wir bald erweitern wollen. Mit gebrauchte Boote machen wir eigentlich nur, die wir ’reinnehmen – aber dies haben wir mit angeboten. Wir kennen den Eigner schon lange…“

Er griff in die Innentasche, fummelte eine Visitenkarte aus Karton heraus und warf einen Blick darauf, bevor er sie ihm über den Tisch hinschob.

„Ich kann mir den Namen nicht sehr gut merken – er ist nicht wie Schmidt, oder Peters…“

Petersen nahm sie auf und warf einen Blick darauf: Arthur Theyß-Blomquardt, jun.

Nur der Name – kein Beruf, keine Adresse, nichts weiter.

„Wollen wir hinfahren…? Sehr gepflegtes Schiff, schon etwas älter… und ein sehr fairer Preis!“

Petersen legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie und lehnte sich bequem zurück, die elegante Mugg in der Hand. Er war leicht irritiert – aber entschlossen, sich nicht anstecken zu lassen von der verhalten ungeduldigen Aura, die der andere bei aller Höflichkeit ausstrahlte. Als warteten noch andere, weit wichtigere Termine auf ihn.

„Doch, sicher… deswegen bin ich hier. So etwas in der Art suche ich. Ich wusste allerdings nicht…“

Er ließ den Satz in der Luft hängen und nahm zögerlich einen Schluck von dem frischen Kaffee. Schüttelte unmerklich den Kopf und blickte zweifelnd, als sei sein Interesse nun ins Wanken gekommen – er ein bisschen getäuscht worden.

Der andere schob seinen Becher zurück, lächelte jungenhaft und erhob sich spontan: „Kommen Sie – kein Problem, Mijnheer Peters. Sie werden begeistert sein. Ich hole die Schlüssel aus dem bureau.“

Er betonte die erste Silbe wie ein Schweizer.

„Trinken Sie inzwischen in aller Ruhe – Ihre Koffie aus… ich bin gleich wieder da.“

*

Als sie den langen, leicht schief liegenden Betonschwimmsteg hinuntergingen, vorbei an den endlosen Reihen der Jachten, stiegen erneut fast zwangsläufig Erinnerungen hoch – wie er vor fünfundzwanzig Jahren mit Anneke in Fehmarnsund dem greisen Eigner der „Jan van Gent“ mit seinem wehenden Lodenmantel gefolgt war, der ihnen, deutlich widerwillig, dann doch sein Schiff vorgestellt hatte. Das dann fast zwei Jahrzehnte in ihren Besitz übergegangen war, bis sie es selbst verkauft hatten. Verkaufen mussten… damals kannten sie sich grade mal drei Jahre und waren mit seinem uralten Passat angereist. Weder Lisa noch Jonas waren schon auf der Welt gewesen, Anneke war grade dreiundzwanzig geworden… sie waren jung, blauäugig und hatten alle Ersparnisse zusammengekratzt…

Tempi passati. Jetzt waren sie im metallic-silbernen SUV mit der Aufschrift NOVA YACHTING zu diesem riesigen Schiffsparkplatz gerauscht. Den die Niederländer in gewohnt hemdsärmeliger Manier, wahrscheinlich in einem Jahr Bauzeit, an der Südseite des Absperrdammes zwischen den Halbinseln Duiveland und Goeree in eine künstlich aufgespülte Insel hineingebaggert hatten.

Marina Port Zelande: vorn dreistöckige Betonklötze mit Luxusappartements, Liegeplätzen davor und „Harbour-Maisonnettes“, was immer das war – dahinter zur Seeseite Jachtliegeplätze, schätzungsweise fünfhundert.

Aber sie hatten schon auch echte Blauwassersegler dort liegen. Weit hinten.

Petersen hatte den weißen Rumpf mit den zwei Masten, vor dem der Verkäufer jetzt stehen blieb, längst ausgemacht. Das Schiff war das letzte in der Reihe – es lag an Heckpfählen und Bugleinen, es gab keinen Schwimmsteg. Dafür war es zu lang.

Richtig – das war sie. Sah genau so aus wie auf dem einzigen Foto im Inserat der Bootsbörse, vermutlich vom selben Standpunkt aus fotografiert. Zeitlos und zweckmäßig wie ein Landrover, mit dem man Wüsten durchquert. Nur nicht so kantig – bei Wasserwüsten ja auch wenig sinnstiftend. Und den Landrover hätte man an Deck stellen können, fast.

Formschöne, nicht zu weiche Linien ohne verspieltes Design-Schnickschnack – oder gar diesem modischen, graden Vorsteven, den jetzt alle großen Segeljachten plötzlich hatten. Der wie ein Hackmesser in jede Welle fuhr.

Wuchtiger Lateralplan, den er zu Haus lange auf der Zeichnung studiert hatte. Gemäßigter Kurzkiel, tonnenweise Blei darin.

Aber, mein Gott… ein wenig kleiner hätte sie sein können – vierzig Fuß hätten auch gereicht… fast widerwillig spürte er, wie sein Herz im Brustkorb zu klopfen begann. Damit würden sie ihre Liga verlassen.