Jakob Ponte

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Jakob Ponte
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Helmut H. Schulz

Jakob Ponte

eine deutsche Biografie

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Buch

Vorwort des Herausgebers

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Zweites Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Drittes Buch

Erster Zwischenbericht des Herausgebers

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Viertes Buch

1. Kapitel.

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Fünftes Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Zweiter Zwischenbericht des Herausgebers

11. Kapitel

Sechstes Buch

Dritter Zwischenbericht des Herausgebers

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Siebentes Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

Vierter Zwischenbericht des Herausgebers

Fünfter Zwischenbericht des Herausgebers

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Nachtrag

Impressum neobooks

Erstes Buch

In dem Maße, wie Individuum und Staat zusammenfallen, hört die Erforschung der Gesinnung auf, einen Eingriff in das Privatleben darzustellen. Wer den Charakter und die Lebensführung ausspäht, begeht damit keine unehrenhafte Handlung, sondern genügt einer patriotischen Pflicht. Unmerklich wächst der ideale Bürger in die Rolle des Polizeiagenten hinüber. Der natürliche Widerwille gegen die Denunziation hat zu verschwinden, da er auf dem Missverständnis beruht, dass es immer noch einen dem Privatleben vorbehaltenen Bezirk gäbe.

Friedrich Sieburg. Robespierre

Vorwort des Herausgebers

Ich rechne es mir zu Ehre an, die Papiere meines Freundes HHS im siebten Jahr seines Rückzuges aus der Öffentlichkeit letztwillig ordnen zu dürfen, den Nachlass eines, der sich zuletzt, ehe er sich hinter den Mauern des Klosters Mariendamm zurückzog, schonungslos offenbarte, ein Simplizissimus, ein Don Quijote, ein Parzival des Landes Thuringia, dem alten deutschen Kernland. Hatte er sich bei der Herausgabe seiner Lebenserinnerungen im Jahre 1984 noch hinter dem einfachen unauffälligen Namen Jakob Ponte verbergen müssen, so lag es sicherlich in seiner Absicht in einem später abzurundenden Werk fürderhin als Jean-Jacques, Dr. phil. Wilhelmi-Ponte aufzutreten, und als der natürliche Sohn Professor Wilhelmis, im Konkubinat gezeugt, um nach mancherlei absichtlich herbeigeführten Verwirrungen und Verschleierungen seine wahre Herkunft bekennend aufzutreten. Die Statistiker nehmen im Übrigen an, dass jedes fünfte in bürgerlichen Kreisen geborene Kind unehelich, das heißt, im Ehebruch gezeugt wurde, eine Tatsache, von der die Schriftsteller aller Zeiten Gebrauch gemacht haben; an der Identität Wilhelmi-Pontes, wie sie hier enthüllt wird, besteht kaum mehr ein Zweifel. Es sei ferner darauf verwiesen, dass im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges Hunderttausende ihre Väter verloren oder sie nicht kannten, dass sie ihren Erzeuger manchmal erst nach Jahrzehnten fanden. Da sanken denn alte Söhne noch älteren Vätern an die eingesunkenen Brüste oder häufiger an die Bäuche, um gemeinsam das Geschick zu beklagen, das ihnen den väterlichen Segen vorenthalten hatte und die kindliche Liebe. So perfekt unsere Physis, so unvollkommen ist eben leider unsere Psyche. Es scheint in der Tat dem Bastard ein schwereres Los beschieden zu sein, als dem gewöhnlichen Nachkommen …

 

Als jener Jakob Ponte, im Jahre 1935 geboren, als er zur sozialen Korrektur seiner Persönlichkeit im Jänner 1962 wie es damals Sitte gewesen ist, in die Produktion verschickt wurde, schien ein begnadeter Künstler, Literat und Akademiker seiner Zukunft beraubt. Alles war ungewiss, viel mehr war es nur zu gewiss. Viele brave Menschen sind heute derzeit am Werke, ihre tragischen Schicksale aufzuarbeiten; so nennen die Rechtgläubigen der freudschen Sekte diese ihre Archiv- und Suchtätigkeit, um sich an der Klagemauer einzufinden, beziehungsweise des Irrtums zu zeihen. Sie müssen es tun, um weiterzuleben, und sie tun es solange, bis sie aus dem Prozess ihrer Katharsis wie neu geboren hervorgegangen sind. Wilhelmi-Ponte jedenfalls war seinerzeit A.D. 1961 nach menschlichem Ermessen verloren. Braunkohle; die Heutigen erinnern kaum noch etwas an diese rückständige Form der Energiegewinnung, wo ihre Dächer gläsern gedeckt sind oder es jedenfalls werden sollen, die das Sonnenlicht in Energie umwandeln, ja, falls diese scheint, indessen sie beim abendlichen Fernsehen die Fenster schließen, um das erschütternd surrende Geräusch der Windkrafträder über ihren Köpfen fernzuhalten. Um zu telefonieren, allzeit und jederzeit, setzen sie sich dem Elektrosmog aus, der unsichtbaren Strahlung, zum Schaden ihrer inneren Ordnung. O Jahrhundert, O Wissenschaft, es ist eine Last zu leben, möchte man unseren Schiller berichtigen. Wo die jetzt aufgefüllten Senken und Gruben naturähnliche Areale und Gewässer bilden, an deren Ufern Schilf und Heidegewächse stehen und Bäume gedeihen, in deren Zweigen Singvögel herumhüpfen, wenigstens während des europäischen Sommers, und nur die wenigen Arten, welche noch nicht ausgerottet sind, dort hat also unser Held einige Jahre in Schande und in Elend zugebracht, ehe sein überraschender Aufstieg begann, an welchem der Dirigent Wimmer-Fanselow einen ungewissen gleichwohl aber hohen Anteil hat, auch ein Musiker, ein anderer zwar als der, welchem Leipzig die sanfte und friedliche Revolution verdankt und die östliche Welt ihre vorläufige Wiedereingliederung in den segensreichen Neokapitalismus der westlichen Hemisphäre. Aber immerhin, für unseren Helden war dies alles nicht nur ein Gewinn. Wilhelmi-Ponte wähnte sich mit seiner Frau Helene, seiner kleinen Schwester und Gattin, wie er sie einst zärtlich genannt, Anno Domini 1984 in Sicherheit, im dauernden Wohlstand lebend; er sah sich vielfach geehrt und privilegiert, aber die mir durch den Präfekten Pater Hochleitner aus dem Kloster der Heimsuchung Mariendamm, dem Leiter des dortigen katholischen Gymnasiums und Chef der Glaubenskongregation beim Pater Provinzial, überwiesenen Blätter zeigen doch ein anderes Bild, nicht gerade das eines reuigen Sünders, sie bieten auch keinen in sich geschlossenen Erzählfluss, was mir als Verleger die Herausgabe dieser Blätter in Buchform ungemein erschwert hat. Auf dem Wege seiner Läuterung hat der Verfasser, seinem Alter und seiner Erfahrung nach nicht mehr unter dem Zwang stehend, zu publizieren und auf alle Rezensionen wie auf das Feuilleton und die Öffentlichkeit geglaubt pfeifen zu können, da nun einmal alles ganz eitel ist, wie der Prediger in seiner biblischen Reportage über uns sagt, hat die Perspektive und die Zeiten je nach seiner Laune sprunghaft gewechselt, wie es ihm in den Sinn kam. Im Grunde dienten ihm seine Aufzeichnungen wohl nur noch zur Unterhaltung überständiger theologischer Schriftgelehrter, unter denen er allerdings ein gewisses, ein hohes Ansehen genoss, bis er seinen Vortrag abbrach und schlicht verstummte. Ich denke jetzt an das Gemälde des Rembrandt, auf dem das Malergenie eine Gruppe Menschen in einen düster-grellen Zusammenhang gebracht hat, bis ihm die Auftraggeber empört Respekt und Honorar verweigerten; dieses Werk dürfte heute auf dem sogenannten Kunstmarkt zig Millionen einbringen. Ähnlich das Ensemble der Zeitgenossen Pontes in ihren lächerlichen und tragischen Posen und Verwandlungen, in denen sie sich zögernd wiedererkennen! Der nunmehr dieser ganzen Sammlung, mehr Kolportage als Roman, überschriebene Titel Karrieristen und Denunzianten ist von mir als autorisiertem Herausgeber nach gründlicher Überlegung gewählt worden, unter Benutzung von Teilen des ersten Entwurfes 1984, Der Hades der Erwählten. Zwar gehört das falsch Zeugnis reden wider unseren Nächsten seit undenklichen Zeiten zum Topos des Homo sapiens, wie die uns angeborene Niedertracht, aber der durch die vorsätzlich falsche oder einseitige Interpretation des Begriffes Stasi in die Irre geführte Zeitgenosse mag damit aktuell eben nur das spezielle billige politische Spitzeltum verknüpfen, nicht aber die allgemeine Neigung zum Verrat als uns eigen, eine uns in die Wiege gelegte Heimtücke, bei der wir nicht selbst den Henkersknoten binden, sondern ihn von anderen knüpfen lassen, um der Exekution amüsiert und anonym beizuwohnen. Wer wird es denn wagen, sich der Öffentlichkeit als Denunziant zu präsentieren und darzulegen, mit welchem Lustgefühl er seinen Bruder ans Messer lieferte, wie er der Rechtgläubigkeit in den Arsch kroch, auch wenn er davon keinen materiellen Nutzen hatte! Na, also! Wie auch die heutigen, Parlamentarier, Minister und Parteigänger ihren Aufenthalt im After des demokratischen Großherrschers, als angenehm warm und angemessen empfinden und als Ort der Lust anderen empfehlen. Allein jeder verriet und verrät jeden, und selbst Heilige fürchten das Gerücht, wie wir aus den Zeugnissen vieler Märtyrer wissen. Beispielsweise legte der Kirchenvater Augustinus dem Missionar seines Zeitalters nahe, ruhig das Mittel der Folter anzuwenden, wenn er einen Taufunwilligen anders nicht kirren und in die christliche Gemeinschaft zwingen konnte, ähnlich wie die rechtsstaatlichen Exekutoren verfahren, um einen ihnen nicht genehmen Mann aus ihrer Mitte auszuschließen. Am Beispiel der Doktorin Helene Buder-Ponte ist zu lernen, dass es auch eine Frau sein kann, die das Beil schwingt …

Um das gegenwärtige Bild unseres Helden zu liefern; seit seinem Aufbruch ins physische Leben A.D. 1935 bis zum Millennium sind oder waren runde fünfundsechzig Jahre eines Auf und Ab dahingegangen. Jean-Jacques lebte seit der sogenannten Wende, der dritten in seinem Leben, das heißt der Kolonisierung des Ostens und der Wiedererweckung des demokratischen Kapitalismus, nach einer Interpretation des amerikanischen Präsidenten Bush, der uns die Folter wieder schmackhaft machte, bescheiden aber wohlhabend und zurückgezogen mit seiner kleinen Schwester und Gattin in seiner thüringischen Heimat. In den Folgejahren trafen ihn viele Schicksalsschläge und menschliche Verluste, bis er dem öffentlichen Leben entsagte wie jener Simplizissimus, der gleich seinem Vater, dem alten Einsiedel, in die Wälder ging, um Eicheln zu fressen und Quellwasser zu saufen, und um endlich die ewige Seligkeit zu erringen und zum Vater einzugehen. Nun, ganz so schlimm wurde es nicht, dank seiner herrlichen Tochter, der kühnen Amazone und Sauromatin Brunhilde, der weiblichen Lichtgestalt dieses Buches und die Hoffnung nicht nur ihres Vaters Wilhelmi-Ponte, sondern der Menschheit schlechthin, also beinahe nicht von dieser Welt wie inzwischen alle Frauen ...

Wir wissen nicht, ob unser Schmerzensmann noch unter den Lebenden weilt und sich vor uns verborgen hält; jedenfalls aber ist er dort angekommen, von wo er einst aufgebrochen war, um sein Glück zu machen. Dass sich unser Mann am Ende seiner sprachwissenschaftlichen Studien den Texten der altägyptischen Totenbücher, vornehmlich dem Totenbuch des Ani, widmete, einem Geheimschreiber des sogenannten neuen Reiches, dass sich Wilhelmi-Ponte den 42 Gottheiten stellen und ihre Fragen nach seiner sittlichen Lebensführung mit dem stetigen aber beharrlichen nein, dem sogenannten negativen Glaubensbekenntnis beantworten wollte, ehe er sein Herz in die Waagschale legte, zeugt von dem bedeutenden sittlichen Mut eines Mannes, der in den Geheimakten des vergangenen Staates als Informeller Mitarbeiter Evangelist geführt wurde und beiläufig diesen oder jenen ans Messer geliefert hat. Sein Herz müsste nun bei dem Wiegevorgang leichter sein als eine Feder!

Ich nehme die Erzählung aus der Hinterlassenschaft nach einem Umweg dort auf, wo der Held ins Leben trat, wo er stieg und fiel, weise und glücklich wurde, an der Seite seiner Lebensgefährtin Helene Buder-Wilhelmi-Ponte, nehme sie auf, nach mehr als zwanzig Jahren und der Erstveröffentlichung seiner Lebenserinnerungen A.D. 1984, an denen ich, wie erwähnt, einige Ergänzungen und Änderungen in seinem Sinne vorgenommen habe. Lassen wir ihn also angehen, den Cantus firmus und geben wir ihm gelegentlich selbst das Wort, wie er den Vätern im Refektorium oder auf Spaziergängen im Klostergarten oder anderswo seinen Lebenslauf mit einem Zitat zu beginnen pflegte, das als Leitfaden herzusetzen mir ein Bedürfnis ist: Wohlwollender Leser; vernimm die Bezeichnung, die ich dir gebe. Denn wahrlich, wenn du nicht wohlwollend wärst und geneigt, die Worte ebenso wie die Handlungen der ernsthaften Personen, die ich dir vorstellen will, im guten Sinne aufzunehmen, wenn du dem Autor nicht den Mangel an Übertreibung, den Mangel an moralischer Zielsetzung und so weiter und so weiter verzeihen wolltest, würde ich dir nicht raten, weiterzulesen.

Diese Erzählung wurde in Gedanken an eine kleine Anzahl von Lesern geschrieben, die ich niemals sehen werde, was mich sehr betrübt; ich hätte so viel Vergnügen daran gefunden, die Abende mit ihnen zu verbringen. Ich habe sehr lange mit Lucien Leuwen zusammengelebt; er ist der Held dieser Geschichte, die im Grunde nicht wirklichkeitsgetreu ist, wie auch eine andere, nicht gerade sehr vornehme, die ich vorzeiten veröffentlichte. Er war von der École Polytechnique verwiesen worden, weil er zur Unzeit spazieren gegangen war ... So der unsterbliche Stendal! Lassen wir ihn also wirklich angehen, den Cantus firmus.

1. Kapitel

Meine Vaterstadt heißt Müllhaeusen, eine ehemals freie Reichsstadt, heute nur noch Kreisstadt. Hier schlugen zwei große Führer der Bauern, reichlich drei Jahrhunderte nach der Erhebung Müllhaeusens in den Rang einer reichsunabhängigen Stadt, ihr Hauptquartier auf, was zur Folge hatte, dass wir uns in zwei Lager spalteten. Es handelt sich also um eine der so natürlichen Wenden. Die größere Zahl der Einwohner nahm den neuen Glauben an, bezeichnete sich als reformiert, und die amtliche Statistik weist AD 1925, zehn Jahre vor meiner Geburt, immerhin 33020 Reformierte und nur 2250 Katholiken aus. Ich nehme an, dass dieses Verhältnis vor der Wende umgekehrt gewesen ist. Gleichviel, es gab nunmehr überwiegend neue Rechtgläubige bei uns und nur wenige zurückgebliebene Papisten. Die Differenz zur tatsächlichen Einwohnerzahl entfällt auf Sonstige. Darunter sind Juden, Atheisten und Mitglieder der Freikirchen zu verstehen. Einer meiner Vorfahren muss allerdings in der katholischen Minderheit gesucht werden, ein standhafter Mann, der sich nicht verlocken ließ, einer zweifelhaften Mehrheit nachzulaufen. Aus der alten Zeit besitzt Müllhaeusen eine verhältnismäßig hohe Zahl Kirchen: Sankt Blasius Kirche, Marienkirche, Jakobikirche und Barfüßerkirche. In den Urkunden ist eine andere, Sankt Sebastian, selten erwähnt. Von manchen, Klerikern wie Laien, wird die Existenz dieser Kirche überhaupt bezweifelt. Ich kann jedoch bezeugen, dass es sie gegeben hat, bis sie durch ein Wunder verschwand und durch ein Bankunternehmen ersetzt wurde; kann es bezeugen entgegen dem Augenschein und der Quellenlage, weil ich dort die heilige Taufe erhielt, vorgenommen von meinem späteren Ziehvater, unserem Verwandten, Hochwürden Fabian. Solche Ungereimtheiten gehören zu den schockierenden Details meines Lebensberichtes. Unbestreitbar jedoch liegt die Stadt 250 Meter über dem Meeresspiegel zwischen Hainich und dem oberen Eichsfeld und besitzt ein prächtiges spätgotisches Rathaus. Früher zählte sie zu den großen Industriestädten, den Zentren des Thüringer Waldes. Holz-, Textil-, Lederindustrie, Maschinenbau, Finanz- und Hauptzollamt; das Gymnasium Justus von Liebig, in das ich zwar vorimmatrikuliert wurde, in das ich aber nie wirklich ging, weil es zu meiner Zeit schon den Namen Ernst Schneller trug, die Handelsschule; kurz, dies alles verschafften meiner Vaterstadt den Ruf, der Primus inter Pares unter den freien mitteldeutschen Stadtgemeinden zu sein. Nicht unerwähnt bleiben darf die Landesheilanstalt Puffenrode, mir dank unseres Hausarztes Doktor Wilhelmi, früh bekannt.

 

Den Wechselfällen des Lebens sind nicht nur Menschen, sondern auch Dinge unterworfen. Meiner Vaterstadt, einst frei, stolz und bedeutend, widerfuhr das Missgeschick, im Jahre 1802 unter die Herrschaft Preußens zu geraten. Sie sank noch tiefer, als sie 1807 einem Königreich Westfalen eingegliedert wurde, aber es änderten sich die Zeiten, und Preußen nahm Müllhaeusen wieder unter die Fittiche seiner strengen Verwaltung. Es war nicht die letzte Wende unserer Stadt; einmal flatterte sogar das Sternenbanner über Müllhaeusens Kirchtürme, wurde dann allerdings von den Symbolen Hammer und Sichel abgelöst und so fort. Ich werde hierzu Rede und Antwort stehen. Jede Epoche sucht sich in Bauwerken zu verewigen; der Romanik wie der Gotik dienten vorchristliche Tempel als Fundamente und Materiallieferanten. Es ist ein Glück, dass sich aus den brüchig gewordenen Steinen gotischer Kathedralen keine Regierungspaläste mehr errichten lassen, sonst würde es längst keine der alten Meisterwerke mehr geben. Ohnehin geht seiner Auflösung entgegen, was die Alten an Architektur hinterlassen haben; alles wendet sich eben real, nur Menschen ändern sich nicht; wie sie geboren, so werden sie auch ins Grab gelegt.

Ich beginne also die Geschichte eines, der mehrfach gewendet wurde, ohne sich zu bessern, eine sehr gewöhnliche Geschichte, die mich zuletzt geradewegs zur Verbannung in ein Straflager und schließlich auf den Parnass führte, neben dem Zuchthaus das einem Zeitgenossen höchste erreichbare Domizil.

Bis jetzt dürfte mein Versuch, Müllhaeusen gerecht zu werden, auf keinen großen Widerspruch gestoßen sein. Bedenkt der Hörer oder Leser nun aber die Schichten und Klassen dieses Gemeinwesens, seine gute Gesellschaft, das emsige Kleinbürgertum, das Volk der Beamten, Lehrer und der zwei oder drei Reichen, bezieht er Spießertum, die uns angeborene Niedertracht und das geistige Mittelmaß einer Kleinstadt in seine Betrachtungen mit ein, so bleibt nicht viel mehr übrig, als sich mit Bestürzung der Gegenwart zuzuwenden und von ihr Besserung zu erhoffen. Womit ich diese kurze sozialhistorische Betrachtung schließe.

Mein Geburtshaus lag am Adolf-Hitler-Platz, dem alten gotischen Rathaus gegenüber. Hätte ich schon sehen können, so wäre es ein Leichtes für mich gewesen, als Fenstergast den Ratssitzungen beizuwohnen und diese eventuell durch Schreien und Gesten in eine andere Richtung zu lenken. Seinerzeit, 1935, so wird berichtet, befand sich in der Mitte des Platzes noch ein Brunnen mit einer allegorischen Figur; sie ist irgendwann von einem Sammler demontiert und beiseite geschafft, später allerdings wieder aufgestellt und zuletzt an einen anderen Sammler verkauft worden, als der Magistrat in leere Kassen blickte. Am Rathaus links und rechts vorbei führen schmale kleinstädtische Gassen. Sie sind noch enger geworden, weil sie zur Hälfte als Parkfläche dienen müssen. Der technische Fortschritt verwandelte die alte Stadt in ein Labyrinth von Einbahnstraßen, Abstellplätzen und Tangenten. Bisher ist es noch keinem Ortsunkundigen gelungen in einer angemessenen Frist das Stadtgebiet zu durchfahren.

An den Marktseiten des Adolf-Hitler-Platzes gab es damals eine Plätterei, die Adler-Apotheke, das Hotel Zum Löwen und das Stadtcafé links; Jan, der letzte dieser Söhne sollte mir Spielkamerad und mein treuer Gefährte werden. Das Hotel spielt in meinem Leben insofern eine Rolle, als es meinem angeblichen Vater einige Wochen lang Asyl bot, und vieles sprach einmal dafür, dass ich in einem der Hotelbetten gezeugt wurde, obschon meine Mutter naiv-dreist die Behauptung aufgestellt hatte, ich wäre vielleicht durch überirdische Manipulation in ihren Körper gekommen; ein Vorgang, der sich seit der unbefleckten Empfängnis nicht wiederholt hat, sieht man von den Kunstgriffen der modernen Medizin ab, oder der im Schlaf begangenen lässlichen Sünde, jedem Beichtvater als eine der weiblichen Ausreden wohl bekannt und mit einem te absolvo leicht gesühnt. Konnte oder wollte meine Mutter über die näheren Umstände meiner Zeugung nichts mitteilen, so hat sie doch zeitlebens das Hotel Zum Löwen gemieden, und sich immer abfällig über die Qualität dieses Etablissements geäußert, wie auch ich mich gegen diese Mär vom verschollenen Vater instinktiv auf das Heftigste zur Wehr gesetzt habe ...

Hinter dem Rathaus lugte der sogenannte Pulverturm hervor. Der Sage nach wurden in ihm einige der Bauernführer der Aufstände des 16. Jahrhunderts bis zu ihrer Hinrichtung gefangen gehalten. Sie mögen von einer Wende geträumt haben, aus der dann auch nichts wurde. Der Turm ist ein solides gut erhaltenes Bauwerk aus dem frühen Mittelalter, direkt auf die Stadtmauer gesetzt, von welcher sich leider nur Reste erhalten haben, die in den gedruckten Stadtführern als malerisch bezeichnet werden, nichtsdestoweniger aber nur Schutt und Trümmer sind und auch damals nicht eben ansehnlich waren. Vor diesen Ruinen zieht sich eine Promenade, der Wall, rings um die Stadt, vorbei an dem schon erwähnten berühmten alten Gymnasium Justus von Liebig, aus dem so viele bedeutende Männer hervorgegangen sind; unter anderem ich als einer der Letzten in dieser stolzen Reihe Genies, wie übrigens auch meine Freunde, der spätere Physiker Karl Kniri, und als Überläufer aus dem Proletariat, Artus Hengst, eigentlich Pflaumenbaum, dessen Erzeuger einige Zeit im nahe gelegenen Konzentrationslager verbringen musste, weshalb sich Frau Pflaumenbaum von ihm scheiden ließ und wieder ihren Mädchennamen Hengst annahm; darauf starb sie. Artus kam nunmehr als ein Hengst wieder zu seinem Vater Pflaumenbaum, der zum allgemeinen Bedauern der Stadtbevölkerung aus dem Lager entlassen worden war und fortan als städtischer Angestellter still die Gassen kehrte, bis er schließlich nach einer weiteren Wende zum Stadtoberhaupt aufstieg, bevor er sich infolge einer weiteren Wende einfach erschoss! Zuvor kam der Streber Artus noch in und auf unser altes Gymnasium. Womit ich die aus uns Jungen bestehende Clique eingeführt habe.

In meiner Kindheit stand vor oder vielmehr neben dem Rathaus noch der Roland, als Zeichen unserer städtischen Freiheit; der echte Roland kam ins Landesmuseum, und eine Kopie wurde statt seiner aufgestellt. In diesem Tausch liegt eine traurige Symbolik. Überhaupt scheint die Stadtentwicklung mit Beginn der Neuzeit abgeschlossen. Jedenfalls hat sich keines der nachfolgenden Zeitalter nennenswert auszudrücken vermocht, abgesehen von der vorhin aufgezählten mittelständischen Industrie. Zwar wurde noch eine Eisengießerei gegründet und eine kleine keramische Anstalt, aber ihre Schornsteine blieben unter dem Niveau der Türme unserer Kirchen. An den Rändern der städtischen Bannmeile ließen sich Beamte und einige andere Angehörige des Mittelstandes in geschlossenen Villenvierteln nieder, unter anderem hauste der Vater Karls, der im Ruhestand lebende Oberstudienrat Kniri, mit Sohn und einer Wirtschafterin auf einem wunderbaren großen Grundstück am Waldrand, wo wir häufig zu Gast sein durften.

Mein Geburtshaus gehörte den Pontes bereits in zweiter Generation. Es handelt sich um eines jener alten schmalen Häuser, die mit spitzem Giebel dicht nebeneinander die Marktplätze mittelalterlicher Stadtzentren umsäumen. Erbaut haben soll es die Tuchmachergilde. Lange Zeit diente es der Knochenhauerinnung als Vereinslokal, kam an einen Musikverein für Brauchtumspflege, bis es halb verfallen an einen Ponte veräußert wurde. Der ließ das Haus wieder herrichten und seinem alten Fachwerk neuen Glanz verleihen. Was um die Jahrhundertwende 1900 geschah. Als ich geboren wurde, wovon sogleich die Rede sein wird, unterhielten meine Großeltern ein Uhrengeschäft im Knochenhauerinnungshaus oder im Tuchmacherhaus oder im Musikvereinshaus, je nachdem. Ich harre des Widerspruchs eingesessener Müllhaeusener. Solche, die sich nur allzu genau und jene, die sich überhaupt an keinen Uhrmacher erinnern können, müssen meiner Darstellung lebhaft widersprechen. Ihnen soll Recht geschehen. Das Knochenhauerinnungshaus hat es nie gegeben. Auch kein Uhrengeschäft, jedenfalls keines am Markt gegenüber dem gotischen Rathaus mit dem Falsifikat des Roland. Schlechte Hotelbetten in der Absteige Zum Löwen lassen sich urkundlich auch nicht nachweisen. Alle diese Beschreibungen sind irreführend. Der redliche Chronist hätte sich die Mühe machen sollen, genau zu erforschen, wie es mit der Stadtgeschichte beschaffen war und ist? Ich muss bedauern. Selbst wenn das Haus und einiges andere nicht vorhanden gewesen sein sollte, so dient gerade die Nichtexistenz als Nährboden meiner Fantasie und also einer höheren Wahrheit. Aussprechen werde ich diese Wahrheit freilich auf meine Weise, es ist die höhere Form der Wahrheit; anders wäre ich nie mit der Nervenklinik Puffenrode, die der Heimatkundige ebenfalls vergebens suchen wird, wenigstens nicht an diesem Platz, in Berührung gekommen; mein Leben hätte den eintönigen Verlauf eines Menschen genommen, der von keiner Wende berührt wird und den deshalb auch keiner bemerkt, bis dass er tot und begraben ist.

Um ganz vorn anzufangen, muss mein Lebensalter ein wenig ins Minus verrückt werden. Mama, denke ich mir, steckt wegen ihres schwer vorgewölbten Bauches in einem weit geschnittenen Hängekleid aus schön gemustertem Stoff. Dazu trägt sie bequeme flache Schuhe, sogenannte Latschen. Wegen ihres Zustandes hält sie weitergehende Körperpflege für unnötig, und dem Kind in ihrem Leibe für wenig zuträglich. Aber ich muss hier schon von ihrer Gewohnheit reden, sich entweder gehen zu lassen, oder sich wie eine Kurtisane aufzuführen. Sie häkelt an einem rosaroten Zeug für mich, denn wie der junge David Copperfield sollte ich als ein niedliches kleines Mädchen auf die Welt kommen. Der werdenden Mutter sitzt die werdende Großmutter gegenüber; auch sie strickend oder häkelnd, belassen wir es dabei. Mit bedeutungsvollem Blick zieht Mama ihre Ringe ab und legt sie auf den Tisch, zum Zeichen, dass ihre Niederkunft nahe bevorstehe. Darauf rollt Großmutter ihr Strickzeug zusammen, aber sie fragt sicherheitshalber, ob es sich nicht wieder um einen blinden Alarm handele, wie schon so oft, worauf Mama ergeben den Kopf schüttelt, und von ihrer schweren Stunde spricht. Damit gibt sich Großmutter aber nicht zufrieden, eben weil ihre Tochter schon mehrmals meine Geburt als ihre schwere Stunde angekündigt hat. Wenn sich diese Ponte beeile, so könne sie eines jener feinsinnigen und doch weitläufigen Mädchen werden, für welche der Mai mit dem Tierkreiszeichen der Zwillinge als Geburtsmonat reserviert sei, erklärt Großmutter; Vater Löwe, Mutter Krebs; auch wenn Großmutter einen Waage- oder Schützemenschen vorziehen würde. Sie räumt ein, dass eine Verbindung zwischen Löwe und Krebs zwar als ungewöhnlich gelten muss, aber zu großen Hoffnungen berechtigt, vor allem aber auch nicht mehr zu ändern sei. Auf all diese Erwägungen entgegnet Mama, Doktor Wilhelmi habe auch die andere Möglichkeit in Betracht gezogen; sichere Vorhersagen über das zukünftige Geschlecht eines Kindes ließen sich nicht treffen. Diese harmlos klingende Bemerkung, dieses scheinbar zufällige ins Spiel bringen Doktor Wilhelmis löst bei Großmutter weder ein ablehnendes Ja noch ein zustimmendes Nein aus, sondern eine weitläufigere Erklärung.

»Ich meine, dass es an einem Fehltritt genug ist. Dieser Arzt ist sehr verheiratet und übrigens ein verrufener Schürzenjäger, dessen Gören in der Stadt herumlaufen wie ausgesetzte Hunde, was eine so dumme Gans wie dich sicherlich nicht daran hindern könnte, oder gar gehindert hat, zu ihm ins Bett zu steigen.«

Mama wurde in den Monaten ihrer Schwangerschaft allzu oft sittliches und intellektuelles Versagen vorgehalten, und es scheint, als habe sie sich wirklich nicht ungern den Jungfernkranz abschwatzen lassen, wie Großmutter meinte. Sicherheitshalber macht sich Großvater eilig auf den Weg zur Hebamme, während das Dienstmädchen alle Vorbereitungen trifft, die meiner Geburt vorausgehen ...

Der Leser, diese mythische Größe, den keiner kennt, um dessentwillen so viele Bücher geschrieben werden, die er am Ende doch nicht liest, wird sicher längst die Frage auf der Zunge haben: Wer war der Vater? Wie kommt es, dass der Erzeuger einer oder eines Ponte nicht am Lager der Gebärenden zu finden ist, wohl aber Großvater, Großmutter und das Dienstmädchen, später noch der Arzt Doktor Wilhelmi und der Geistliche Hochwürden Fabian, der Neffe Großmutters? Genau diese Frage nach dem Verursacher der Schwangerschaft bewegte die Familie Ponte seit mindestens sechs Monaten, indessen ich wuchs und wuchs. Im sorgfältig geführten Tagebuch Mamas stehen darüber nur vage Andeutungen in der reizenden Sütterlinschrift jener Zeit. Sonst gab es von dem fraglichen Herrn nur Fragmente. Er wurde, da selbst sein Name zweifelhaft war, allgemein, als der Argentinier bezeichnet. Laut Mamas Eintragungen in ihr Tagebuch entstammte er diesem südamerikanischen Land und sei dorthin zurückgereist, ohne zu erklären, weshalb er sich übergangsweise in Müllhaeusen aufgehalten hatte. Seine Hinterlassenschaft bestand in einem Brief an Mama, der später angeblich verloren ging, seinem Foto, das uns erhalten blieb und überschrieben war mit: Hasta la vista, einem Geigenkasten mit Instrument und einem Zigarrenabschneider. Ferner ließ er noch eine zerbissene Meerschaumspitze für Zigarren zurück; sie lag in einem mit rotem Samt ausgeschlagenen Etui aus Rosenholz, war schon sehr mitgenommen, aber noch brauchbar. Großvater hat die Spitze, aus welcher der Argentinier an den wenigen Abenden, an denen ihm Mama zur Verfügung stand, einige Zigarren geraucht haben mag, für mich aufbewahrt. Jahre später habe ich sie einem texanischen Krieger und Europaliebhaber als Andenken überlassen, als die US-Armee unsere Stadt besetzt hatte, gegen eine Packung Zigaretten der Marke Chesterfield oder der mit dem Kamel, zusammen mit einem Zertifikat von meiner Hand, nach dem es sich um ein antikes Stück aus der Donkosakenzeit unter ihrem Hetmann Mazzeppa handelte, denn das Schicksal dieses Helden ward aus dem Meerschaum herausgeschnitzt und unterschiedlich gebräunt. Der Tod des Hetmanns war auf dem Meerschaum dargestellt, weshalb wir uns überhaupt nur noch an Mazzeppa erinnern; festgeschmiedet auf einem wilden Roß ritt er im bräunlichen Rauchton seinem unrühmlichen Ende entgegen.