Ostexpress in den Westen

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Ostexpress in den Westen
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INHALT

IMPRESSUM 6

VOM KOPF 7

1 7

2 21

3 30

4 37

5 43

6 52

7 58

8 60

9 63

10 71

11 74

12 77

13 82

14 90

15 95

16 100

17 102

VON KOPF BIS FUSS 104

1 104

2 116

3 119

4 135

5 147

6 154

7 180

8 184

9 189

10 193

11 197

12 202

13 207

14 211

15 226

16 229

17 235

18 238

19 244

20 251

21 255

22 264

23 277

24 293

25 319

26 323

27 329

28 332

29 343

30 351

31 356

32 378

33 388

34 397

35 404

36 422

37 428

38 437

39 453

40 458

41 463

42 482

ZU FUSSE 493

1 493

2 501

3 514

4 530

5 536

6 550

7 554

8 567

9 571

10 582

11 586

12 595

13 597

14 604

15 610

16 616

17 630

18 669

19 679

20 683

21 692

22 694

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-037-3

ISBN e-book: 978-3-99130-038-0

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Esebene, Taiga, Inara Prusakova, Tevarak11 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

VOM KOPF

1

Fensterkreuzfäden aus Rost und Beton zielen unter der Sonne auf Mittag, und der Staub tanzt mit den Tränen, die wie Perlen kristallen sich drehen. Verlegen malt der Bahnhof die Stadt ohne Farbe und stellt Girlanden und Fahnen anstelle. Blusen blähen sich auf dem Steig, Gesichter drängen, singen und weinen. Irgendwohin plagt die Musik. Unter den Kindern reißt ein Chor Lieder vom Kai, und sein Führer verschweißt aufgewühlt in der Menge mit dem Blau seines halboffenen Hemds. Auf den Gleisen der Zug – Zug um Zug mit einem Bändchen bespannt:

„Sondertransport Berlin–Moskau–Studentenver…“, und auf der anderen Seite ist das weiter unbeachtet vom Winde verweht. In den Wagons rutschen die Scheiben nieder wie wohlweislich entglittene Brote, und belegte Rufe fliegen zu Eltern, Verwandten, Geliebten geschmiert. Eine Jacke schüttelt sich spannungsgeladen, voll von scheckigen Orden behängt, und ihr Träger redet von Auftrag, Ehre und Pflicht. Das Mikrofon versteuert sich leicht. Eine Fernsehkamera surrt, und der Redakteur stellt sich die Gruppen ins Licht. Die Eltern erzählen von Kindern, die Kinder von sich.

„Freundschaft-Völkerverbund …“ – „Immer bereit!“ –

Gleich einer welken Mauer bröckelt das Echo, und die Getroffenen rühren sich warm. Dann drückt sich ein Offizier in die Einstellung groß. Hände schütteln Hände wie reife geschwollene Früchte, und Blumen fallen ins Bild. Die Musik salutiert wieder Ohrenlauthals. Ihre Fetzen stoßen gegen das Dach aus der Hülle von Stahl und mischen mit dem Lärm von den Zügen, den Lautsprecherhöhen und dem Stöhnen der Karren Gepäcks. Allein der Himmel scheint lautlos verschmiert.

 

Humpelig schürfen zwei Koffer die Treppe hinauf, und der Junge an ihnen tut sich schwer die Menschen zur Seite zu wühlen. Eire Rotblonde dahinter schiebt ihn weich in den Rücken.

„Los doch, Beeilung!“, kommandiert ihr der Junge.

„Verzeih! – Deine Hand!“ – Der Bahnsteig, die Leute.

„Welcher Waggon?“

„Der dritte!“ Die Rote schaut nach dem Atem.

„Hier! Endlich.“ – Er fächert in den Korridor mit den Koffern, stellt sie breit auf die Plätze und schleppt sich wieder leer auf den Steig. „War knapp“, sagt er, rundet einen Blick über die Menge und Fahnen, über die Köpfe – im Windzug geschmückt –und zwinkert einem Mädchen ins Auge, das sich weit hinauslehnt zur Schau. Aber es macht ihn nicht sicher mit mal Er haspelt im Wort und verkürzt zu dem Schluss: „Ganz aufgeregt ist man ja schon.“ – Doch die mit dem Farbenhaar Sonne hat nichts gemerkt, bemerkt nur die Tränen um sich, und sie reibt im Gesicht: Die Tusche läuft ihr von den Wimpern und verwischt die Sprossen vom Sommer mit zu. „Ich komme bald wieder …“, heilt sein Trost in dem Lärm. „Vielleicht schon Oktober – oder … Du kommst nach Moskau …“ Er umarmt sie wie alle umarmen: verwandt und bekannt.

„Ach, Liebe …“, fällt ihm Gott sei Dank ein. Dann trennt er sich abrupt von ihr und zieht fix das blaue Hemd über: „Hätte ich beinah vergessen! – Wir müssen doch alle …“ – Das Mädchen hatte es schon vorher gründlich gebügelt.

„Zum Sonderzug … einsteigen! Türen schließen!“

Das letzte Hetzen beginnt, und die Rotblonde heult mit den Rudeln. Der Junge kennt keinen Rat. Was sollte er tun? „In Kürze … Petra, nicht weinen! Ich denke … wir denken …“ Der Zug stößt sich ab, und die Musik stampft mit den Rädern, den Bräuten, den Müttern. Das Schluchzen wird frei. Wagen und Wagen rollen wie ein Film, verschwommen und trüb. Die Hände sind nur noch Zeichen und Schläge. Vergeblich freilich klammern sie sich an dem Bahnsteige dicht, denn sie gehen mit der ersten Biegung unter am Gleis. Es ist Abschied, ist Abstand und Wiedererlangen. So rollt der Zug in die Formen dahin.

„Wozu? Warum das Fort und die Unrast? Warum dieses Rad?“ – Gedanken spalten in Wehe, und die Weite schmilzt sich in Einsamkeit um. Ungewiss wie die Augen, die dunkelgrund Signale vorholen, sind Martin Sarodnicks Fragen. Indes, im Mund bleibt ein Lächeln verspielt. Er wechselt vom Schaden in Freude – der Weg ist gemacht, er ist auf der Strecke. Alles andere ist lange zurück. Ein paar Nachwehen bleiben, wie das Knie, das bepackt ist mit Bändern aus Mull. Darunter ruhen der Schmerz und ein Sommer.

Im Waggon drei schweben Gespräche und Nachsicht. Namen fallen ins Spiel. „Dieses Bohren und Brennen!“ – Er hätte Arzt werden sollen, wie es der Vater gedacht, der bis heut’ noch böse sich gibt und die Absage, den Trotz nicht verzieh. „Der Arzt wüsste Bescheid.“ – So ist das Knie. Und die Schmerzen. Und so waren die Ferien gemischt, die letzten mit Petra: ein Sommer am Meer, ein Zeltsommer auf kieseligem Sand mit Schaum in den Haaren und Wind. „Als ob das Nichts dieses Sommers den Schmerz retten kann!“ – Oder gilt er als letzter Stein in den Fragen? Darf ein Sturz mit dem Krad in den Graben mit überdrehendem Tempo den Abschied nicht abhalten können? „Glück gehabt, es hätte schlimmer sein können!“ – Schlimmer für wen? Für Petra bestimmt nicht, sondern wäre nur ein Verzögern für sie, eine Hoffnung auf Bleiben, gar auf „Zu-Hause-Verblieben“. Hatte sie ihm nicht schon die Ringe in der Auslage in Leipzig gezeigt? Er hatte dazu nur ironisch gelacht: „Wie komisch die aussehen: dickgebogen und Gold!“ – Rot war sie dabei geworden, verstand nicht den Spaß und sprach nie wieder darüber. „Also wird es ein später noch geben.“ Für Petra. Und für Sarodnick auch? –

Monika aber sitzt jetzt jedenfalls neben, wickelt den Jungen ein übers Knie, und ihr Blick ist der eines Sieges von heute – oder wenigstens „wie“, wenigstens „dicht“. „Soll die Zeit ruhig rollen und spielen.“ – Aber noch ist Moskau nicht da, und Rückkehr fädelt Nadeln in Öhre, dringt durch wie gesiebt. Monika ist die Brücke schon einmal gelaufen, nicht fremd und von der Erde – wer weiß schon wohin? – in ihre Augen zurück:

klar, ohne Wolken, blau, deutschblau, mit Wasser am Rand und dem Wissen vom Ich: „Ich sehe mich tief, fleißig und zornmütig gar – vorher und nachher aber gemütlich.“ – Auch Petra hat dieses Reine, ähnelt ihr, und Monika wiederum ähnelt denen, die er gekannt, ist ein wenig heller, fahlgelber bloß und dazu mit einem Polster aus Herz. Sarodnicks Mutter dagegen hat die braunen, die so auch seine Augen geworden. Der Sohn aber sucht in dem Blau, in den Flecken Metall-Spiegel und glatt wie gefallen. Verflacht seine Kindheit darin? „Petra, Monika – sind sie gleich wie zwei Augen?“ – Sein Mund formt sich zur Klage, hat eine Absicht bewirkt, und die Hände des Mädchens binden sich zart, sie lindern Bescheid. –

In Halle, um Liebfrauen und Händelaltar, wo Bettina von Arnim zwischen zwei Männern entschied, traf Sarodnick dieses Mädchen zum nächsten Mal wieder. Denn vorher war Leipzig – die gleiche Universität, die Korridore, die um das Gleiche sich wanden. Doch es war damals bloß ein flüchtiges Sehen darüber, ein Fluchtsehen nur. Der schale Kaffee an verschiedenen Tischen, und ein Lächeln war ungezählt nichts – eine nichtgezählte Begegnung. Da in Halle freilich zählte es plötzlich schon, und grundlos fand sich der Anlass: „Du hier?“ Sie hatten den Flirt – ein Dutzend von Tagen. In der Stimmung lag Grund, der Zubereitung beließ: das Studium vor Moskau, das Ausrichten, das Gleichrichten für mehr und mit staatlichen Richtern als Beilage zu, die sich spiegelgleich glichen, das Konzept in der Hand, und mit dem sie Zweifel zerhieben in Bande. Begeisterung und etwas Entgeisterung blieb. Die Halbtausend wachsenden Kinder spürten – wenn sie nicht lange schon ahnten! –, warum sie gerufen, wozu dieser Trab: Man baute die Fronten, gab ein Erlauben in Ehre fanfarig, und das Band sprach bis zum Ostbahnhof Bände, war breitstirnig dort um die Wagen gerollt.

Natürlich war für Monika alles weniger voll und aufregungsgeladen. Sie stand in den Dingen, hatte ihr Studium schon weg und hängte ein Jahr nur hinzu. „Es werden verlängerte Ferien für sie“, dachte Martin und kratzte am Bein: „Fünf Jahre dagegen für mich.“ – Fünf Jahre sprechen und schreiben in einer Sprache, die sich nicht gibt, mit der ihn höchstens Grammatik verband. Es war nicht seine eigene Sache. „Ich sollte mich an Monika halten, am nützlichen Bier.“

Steht sie nicht immer noch unter dem Torbogen im Vorgestern-Halle?

Sarodnick hatte das Gas heulen lassen vom Krad, und die Radspur schabte im Moos, gassengerecht, an den Freistellen fürs Wohnen, fürs Grade-noch-Wohnen, fürs Neuwohnen in der Nichtmöglichkeit.

Monika hielt – die Erfahrung bei sich – , hielt aus bis „unmöglich“, bis zum Sturz ab gegen den Zaun, und sie wusste, dass das Motorrad nicht das erste Mal fiel und noch weitere Male wird werfen – bis zu dem Umsturz mit Petra am Meer.

„Wann wirst du bloß klüger?“, sagte sie und hatte sich das Bein nur gerieben. „Klüger ist Klugscheiß“, antwortete Sarodnick und schlug sich auf seine Knochen. – War sie verliebt? War sie angezogen vom Lärm, von dem Drumherum um die Kunst, die wie ein Brei in ihm wärmte? Wie gern hätte sie auch dort selber gekocht! War sie verliebt in das Fach von dem Jungen? Vielleicht. Auch jetzt. Und später?

In Halle, am letzten Tag tanzten sie auf dem Ball, den Schlusstanz zusammen – einen Tanz ohne Schlüsse: Monika hatte so lange gewartet auf ihn. Gekleidet als Fest, mit einer gefiederten Brosche am Schnitt, das weiße Haar in den Nacken gestrengt, zogen tief ihre Winkel im Mund und liehen ihr Unnähe, Unweiche und Stolz: „Er hatte ihr es versprochen.“ – Der Abend ging ab, und der letzte Tanz sollte doch kerben, sich spitz einzeichnen ins Hirn. Bald würde bald, wäre das notwendige Übel verdaut, und sie könnte sich wegheben von ihrem Kreis, der sie schnürte, der das Theater, die Bücher als Notdurft sah auf die Schnelle. Bietet nicht Sarodnick so ihr eine Chance? „Die Sprache ist Mittel zum Zweck“, – und der Zweck würde nah bei ihm sitzen, wie ein Foto im Klick, wie das Auslösen eines Moments, der die Entscheidung bedeutet.

Fotografiert sie nicht gern? Hatte sie nicht schon als Kind vom Dach andere Dächer gemalt? Ihre Mutter freilich holte sie fort, wies den Vertrieb aus der Zeit und stellte sie auf die richtigen Beine – sie hatte ganz andres zu tun. „Ohne Mann“ – das war ohne Vater, hieß alleine durchbringen das Kind, bedeutete die Knochen sich nässen im Brauwerk und diesem „Kerl“ den Fluch nachschicken für die angedauten Jahre als Braut – brautlos und ohne Beruf. Sie war rum um die Jahre, und in den Tränen hatte sie dazu noch den Hopfen, die Gerste von dem Freibier im Werk. „Das Kind soll im Elend nicht saufen!“ – Das Kind – der Glücksspiegel eh schon verspielt – sollte studieren, ordentlich sein, Leute und fein, mit Geld in der Tasche, das knistert. „Malerei? – Maler malen daneben. – Sie kann nebenbei tun, als würde sie sein: häuslich zu Hause, vom Balkon das Bild auf die See.“

Und Monika wurde begabt für die Sprachen, redete nach dem Munde der Fremden, sprach breiter als die Spitzen im Norden, und es klang ein bisschen wie Ausland dazu. Die Tochter sollte mal die Mutter begleiten rund um die Welt, in ihre Träume und in ihr „Erzähl mir von das!“. Monika ließ ihre Mundwinkel hängen im Winkel und hörte den Rat, wird lange noch hören, gehören, gehorchen – trotz Trotz –, den Trotz nur in die Lippen sich schreiben. Sie wird die Mutter dulden und meiden – geschehen ist Scham, und zweimal kann man nicht in den Topf –, die Entscheidung fällt einmal im Staat. Gewöhnlich nimmt der Vater die Wahl, wenn man nach Grünzeug gerade erst riecht, und er nimmt sich dabei außerordentlich frei: „Du studierst – warte mal! – studierst Medizin!“ – Man wartet – der Vater bewirbt, kommt an, und der Weg des Sohnes ist gemacht und sein Bett: fünf Jahre höhere Schule, der Arbeitsplatz in der Klinik schon vor der „Fünf“ um den Hals und an diesem Platz bis zum Platzen gehalten. Da ist bloß noch für Auftrag, Orden und Lohntüte Raum. „Also die Ausnahme sein?“ – Ausnahmen stinken wie Schweiß oder Urin, den man in der Hose mitträgt als Angst. Sagen wir Normalität, abgesteckter Pfahl in dem Bein, Norm in der Norm: „Ich werde Lehrer. Geschichtenlehrer.“ – Nach vierzig Jahren schichtet man noch, langlebig, zukünftig, sicher auf festen Füßen genagelt. Der Marsch, die Unweil ist der Tugend abhold. „Wir wissen!“ – schon längst. „Seid bereit!“, – im Alter das Kind, der verdiente Feierabend mit dreißig – mit fünfundzwanzig gibt es keinen Studienplatz mehr, allerhöchstens noch fern, zweitgleisig, unwichtig, oder mit wichtigen Leuten im Gleis. Gewisslich wäre das auch zu stark für den Staat: Nach einem Vierteljahrhundert will plötzlich noch einer wissen, dass er nicht weiß, dass er sich irre und anders will sein! Ziele sind Ziele im Auge wie Dorn, und der Staat kann nicht warten, bis Monika sich bequemt zu entschließen. „Nützlichkeitsding.“ – Jedes Ding ist nützlich, solange es läuft.

Und Monika lief wie gedreht in Stralsund inmitten der plattspitzen Schüler, die Stimme im Glas, die sie im Schulchor kristallisierte. „Lehrerin!“, stimmten die Lehrer. „Stimme, Strenge und Stolz.“ Doch Monika leerte den Stolz, gor ihn in sich noch auf: wenn schon nicht malen, wenn schon die Mutter, dann die Erziehung – und die Kinder am Zug zu den Teufeln!

„Schön“, sang sie, „Pädagoge. Aber höher zum Alt, das Philosophische in den Lauten, den Schlag in den Rätseln, höher zum Fremden, in die Magie.“ – Das wäre Kunst fast schon wieder, ein semantischer Trick im Syllabus, die Sprache verworren in anderer Sprache. Vermählt sein mit Zeichen, ohne Ehe zu sein, ein Tor in die Weite – deuten lernen und verstehen in Zeit, lauschen wie Tiere, wie die Natur und begreifen. Begreifenmachen das Bild seinem Betrachter. Indes, Lehrerin also? Ja, aber auf einer oberen Warte: Es bleibt ein Verhüllen, ein Heimlich dazu. Der Lehrer entblößt, entzaubert, zeigt ganz. Der in der Sprache dagegen gibt nur Ergebnisse an, nicht den Weg und erst gar nicht den Ursprung. Das fertige Werk ist ein fertiges Bild – aufgestellt, ausgestellt alles. Es sind die Gedanken, die Umformung, das Vormalige hinter der Wand, und die Kunst ist ins Leben getragen. Vielleicht. Das ist die Farbe. Und Aufgabe. Ein Vermitteln, das nicht fordert, verlangt.

Ihr Deutschlehrer war glücklich im Sieg. Für ihn zählten Prozente, und Monika zählte doppelt für ihn. Beim Malen sind Schlangen gestellt – und stehe mal an! –, eine Absage wäre ein Jahr für den Hund und ein Minus für die Zahlen der Schule. Da verzählt man sich schnell. Für die Sprachen ist es nicht leicht, aber ein Wink, eine Beurteilung, die sticht, kann den guten Rat billig machen und frei.

 

Russisch/Englisch – zwischen Saxonen und Russen, zwischen zwei Welten, auf einem Steg zum Wackeln, zum Todwackeln und Fallen steht ihr jetziges Leben darauf. Und Monika ist nüchtern geworden, der Regenbogen ist weg, das Artifizielle, die Sprachkunst, die Kunst. In das Entwirren wirrt ein wenig nur Langeweile hinein – kein Mehr, keine offenen Fragen, keine Zeilen dazwischen –, und Regeln und kristallene Worte wirken ohne den zufälligen Grad. „Das wäre der Anfang“, könnte man sagen, wenn es nicht das Ende schon wär’. Es ist das Bedrängen der Arbeit, der Vertrag, das Ziel unter dem Glas. Der Alltag sollte beginnen – undenkbar, zum Denken gezwungen –, die alltägliche Arbeit, das Maschinelle mit individuellem Verstrich, wie jede Maschine mal ist.

Dieser Gedanke würgte wie eine Kahlfläche zur Last, und Monika trägt ihn mit sich aus Leipzig in ihrem Gepäck. „Was aber soll’s! Bis dahin und dann.“ – Martin ist hier, der wird sie schon brauchen, und sie braucht es davon. Weit hinter dem Bahnhof ist Petra geblieben, hinter der Grenze, die Frankfurt passiert. Danach kommt mit Sicherheit Brest – die sicherste Grenze der Welt. Wer könnte die schon durchqueren? Wem gibt man den Schein zum „Betreten verboten“? – „Und die Touristen?“, denkt Monika sich. – „Petra hat Geld.“ Aber Zeit ist kein Geld und die Pässe liegen nicht auf der Straße herum. „Ob er sie liebt, diese Petra?“ – Eine Lücke saugt in der Stirn, in die ihre, in die von Sarodnick auch. –

„Wie eilig sind diese zwei Jahre mit Petra vergangen!“ – Sarodnick sieht sie wieder in sich, sieht ihren Blick in der Mensa der Uni von Leipzig. Dort studierte sie Ökonomie, und Martin aß in dem gleichen Saale zu Mittag. „Achtzig Pfennig mit Nachschlag“ – und das nutzte er aus, reichlich und stetig, gleich, was es gab –, er hatte Hunger und viel, und er hatte obendrein auch kaum Geld. Seine Eltern halfen ihm nicht — wegen der Medizin und der verlorenen Aussicht. Der Sohn wollte die Kunst, und er stopfte sich mit Fertigkost voll seine Ohren. Danach ging’s in die Mensa, mit Blutwurst, Sülze, Eintopf, Kartoffeln und Kraut – achtzig Pfennige haben, Pfennige für den Geschmack –, und die Küchendamen kannten ihn schon des Nachschlags wegen. Der indes reichte ihm dick bis zum Abend. Hundert Mark für den Monat, mehr hatte er nicht, hundert von der hundertjährigen Oma, die stand noch zu ihm. Dazu gesellten sich die Kreuzer für die Arbeit zur Nacht – bei der Post, auf der Messe, auf dem Bahnhof als Lasten-Verschlepper. Gut war es ihm mehr in der Kunstakademie, als ein Zeichen zum Zeichnen, als ein Stück außer Papier: rumstehen und Geldverdienen dabei – die Stunde fünf Mark, stehen und denken „Was macht man damit?“ Ein Hintern, ein Fetzen Fleisch auf dem Block und die Konturen panieren, sich Zustellen wie eine aufgerissene Palette, Standgeld bekommen ohne den Stand: „Irgendwie verliert man an Würde dabei.“

Es war Frederike, die ihm das Stehen verdross beim Faschingsball ihrer Schule oder danach – ja, kurz hernach war es wohl eher. Für ihn war es der erste Karneval in der Stadt und noch dazu bei den Künstlern, mit den berüchtigten Saiten, den Matratzen im Raum und den gemischten Getränken. Allein gewiss traute sich Sarodnick nicht, und so fragte er Dieter, den Freund aus der Schule, der in Leipzig studierte wie er. Der aber hatte zu tun, hatte eine Freundin sitzen zu Hause, musste ihr schreiben, wollte sie denken und konnte auch traurig sein bei. Dieter sagte sich ab, und Martin schilderte ihm den Fasching in Farben, nackt und berauschend, als kenne er sich da aus, als hätte er dort jedes beliebige Mädchen verbraten, und er briet seinen Plan: „Ich verspreche dir, was du willst, wen du willst – wenn du nur wölltest!“ – Aber Dieter wollte ja nicht – freilich, wer möchte schon nicht, mochte nicht wenigstens gucken?

„Man lässt uns nicht ein ohne Kostüme“, zerstreute er seine Betrachtung.

„… ohne Kostüm“, wiederholte Martin stur, „ganz ohne – oben und unten wie nichts.“

„Gut, ich nehme es bar“, toppte Dieter faustdick dem lästigen Freund hinter die Ohren. „Du nackt, oder sagen wir, in Unterhosen ‚verkleidet‘. Das wäre für mich womöglich ein Grund …“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“, stöhne Sarodnick und stand da ohne Hose. „Dann eben nicht. Tschüs! Ich muss den Brief weiterschreiben an Ilse.“ – „Hier“ – wieder ging Martin sich an den Gurt: „Ich werd’ es dir zeigen!“ Und kurzbeinig, peinlich – der Gummi war schlaff – watschelte er ohne Schuhe in wollenen Socken, und der Mut sank ihm in den Schnee vor der Tür an der Höheren Schule. Aber dahinter war Fasching, und er zog ihn mächtig hinein.

„Du warst doch schon drin!“, sagte einer noch auf der Straße und stieß ihn zur Tür, ohne zu fragen, ohne Billett.

Frederike malte im letzten Studienjahr Träume. Sie war groß und begabt und nahm Martin zu sich erfahren nach Haus. Ihr geliehener Mantel schlotterte ihm als bloße Stafette ums Knie. Sie aber gab den Stab an ihn weiter. Er fummelte dran, fand nichts dabei, fand überhaupt nichts bei sich und war drüber erstaunt: Frederike war seine erste richtige Frau, und er hatte nicht einmal richtig geschlafen mit ihr. Die Angst schlief mit ihm, er wusste nicht wie, nicht wohin, und das Mädchen wusste nicht mehr oder wusste, dass Männer nicht unbedingt sind, und nahm den Jungen wie Sahne. Der leckte es ab, machte sich nass, und die Frau schlief unter dem Mantel in Ruhe. Weit war der Weg zu den Mädchen, und große Worte gehörten nicht zu. Die Furcht saß bei Martin dazwischen, Kompromisse im Satz, das Abstreifen der eigenen Grenze.

„Ihren Pass bitte!“ – Sarodnick zeigt seinen Vermerk „Gültig für alle Staaten“. Und der erste Stempel drückt sich im Pass, und ein Gruß des Soldaten – gültig in jeder Armee – klappt hinter ihm zu: „Gute Reise für Sie!“

„Elende Fahrt!“ Zuhause jetzt hätte er Ferien, wie Petra, mit Petra im schönen August, im Zelt an der See, hätte ihren Mund in dem seinen – ihren, der schmal war und schnittig. Lange hatte es gedauert, bis der Kuss ihnen „saß“, und sie hatten sich festgeklammert im Glück. Am Morgen dann waren ihre Lippen geschwollen, und sie schämten sich beide darüber. Ihre Zärtlichkeit war ohne Lippen viel mehr, war ein vorsichtendes Grüßen, ein Ausweichen vor Zittern, vor Schmerz, war Bruder und Schwester, war eher Spiel als Berührung und Schmelzfluss im Sinn.

„Monika küsste sehr gut, unsinnig besser – o nein! nicht besser, nur voller – nach dem Festball in Halle vor ihrer Tür.“ – Vielleicht war sie zu offen mit ihm, war ein Mund bloß als Rand – sicher ein Schwungrand, aber doch Rand. Und Martin riss die Lippen mit auf, wie bei Linda, der Germanistin aus der Deutschen Bücherei in der Stadt, in der er fast jeden Tag saß und die Philosophie verschlang wie den Nachschlag zum offiziellen Gericht: Er hatte von Linda eine Sondergenehmigung für Nietzsche, C. G. Jung, Stephan George … bekommen. Es war wie ein Geheimnis für ihn, und er wühlte darin, war eine Einführung in okkulte Bereiche, ein trotzdem zum Leben, zum Wertlosen, das wertlich beschrieben, und die Schwermut nahm sich darin schwer und sehr ernst.

Sarodnick lag in seinem gemieteten Bett, im gemieteten Zimmer für dreißig Mark in der Vorstadt von Leipzig und wog seinen Mut: Konnte er leben mit hundert Mark unter dem Kissen, mit Unvermögen sich Wege zerstreuen, mit abgerissen von gestern, von Eltern, von Freunden und mit keiner Richtung in Sicht? Er klang sich in Reue, im Schatten, und er wärmte darin, klammerte an den Büchern, um die Triebe in Nachsicht zu setzen, die Analyse zum Reif in die Leere – sein eigenes Ich.

Die Bänke im Saal waren schwer von den Köpfen, und Martin las in Märchen und Typen, die in Archen verpackt waren und ruhten. Er fand den Mann in der Schwüle der Endproduktion, den Hauch der Bürgerentsammlung, die Hochzeit im Beinhaus. Er spürte überall künstliches Licht, und das zog ihm über das Herz, diese Sprache im Tritt, die Krankheit verschmierte in Ordnung, die vor dem Meer einen Breitstrom, ein Delta abgab. „Drei Noten im Tristan“ und der Klang von gekippten Betten darin, das hohe Fieber mit Ironie – wer könnte da lachen im Krampf?

Drei Bänke weiter saß Linda, drei Straßen weiter von ihm in dreißig Mark Miete. Sie schied sich in Psychologie, schied sich die Geister, scheute bescheiden den Lärm und kannte Bescheid: Saß sie doch schon Jahre einige Reihen weiter im Saal. So kam für beide die Trauer gemeinsam, der Zweifel, der Einsang zu fragen und die Harmonie im einfachen Schweigen. Stumm hatte Martin sie zu küssen versucht, und sie staunte darin: Ihr Mund war weit vor der Antwort, klappte nicht zu, war ein Wochen- und Monatestaunen. Später dann nahm Martin die Hand mit zur Hilfe, und er öffnete zum Mund ihr die Bluse. Ein Knopf rollte ab, und Linda schlug die Empörung an ihn: „Wie konntest du nur?!“ – Fortab saß sie wieder ferner drei Bänke und suchte in ihren Büchern allein. Sarodnick aber war zum Fasching gegangen, lag Frederike selber Modell und stellte sich nie mehr für fünf Mark splitternackt aus: Er hatte seinen eigenen Preis. Oder ging er nur Gefahren zur Seite? –

„Clever wie sie“, sagte er sich und sah auf Monika seitlich. Sie hatte gewartet, bis der Zug den Bahnhof verließ, bis Martin abklang in sich, sacht und entschieden. Alsdann schickte sie ihre Freundin voraus mit dem Gruß: „In unserem Abteil ist ein Platz über.“ – Wie hätte er abschlagen, nicht überschlagen sollen – einen Platz zwischen den Mädchen? Er reute es nicht – gesorgt und gehegt von den Formen, geboten in Wahl und in Reihen – und Selbstruhe lag in dem, ein Grund in der Sache: „Ein Mädchen ist verteilt keine Frau.“ – Sarodnick muss sich nicht zeigen, vermag nicht und muss nicht vermögen; er kriecht in die Streuung und macht allen den Hof. Aber er schlief doch mit Petra? – Eben. Das einzige „Richtig“, das einzige Mal, die einzige Frau. Darum die Bindung, die Trauer, die Furcht. – Der Zug geht durch Fremde, durch Gebiete, die Sarodnick nur aus dem Schulunterricht kennt: wohlige Namen, die einstmals anders geheißen – deutsch-endig und -stämmig. Sie sind polnisch geworden, neulich und wieder, sind vom Leide gelöst, von dem Tod, den sie gaben, und sie sind Ausland, ausladend für die, die sie nahmen.

Noch niemals war Martin im Ausland gewesen – das eine Mal als Kind kann er nicht zählen, im Lager, als er sich verlief in den Bergen und nach dem Weg einen Bauern fragte, der ihn in einer fremden Sprache erschreckte. Und der Junge weinte damals davor. Tschechisch war es, und Polnisch ist dem verwandt, wie Russisch, wie alle slawischen Sprachen. Zehn Jahre hat er Russisch gelernt – und wie! –, mit Zensuren, die stimmten wie die anderen auch, und mit nichts, fast gar nichts, das hängengeblieben wäre davon. Monika indes hat zwei Sprachen in ihrem Hals, das ist wie eine Kette, ein Schmuck. Und er bittet: „Sag etwas in Russisch, ein Wort!“ – Dampf, Schienen und Müdigkeit schlagen auf Schwellen. Nacht zieht hinter die Fenster, und ungewohnt breitet der Schlaf sich in Fahrt. „Unter dem Weg, auf dem Wege, wegig, unterwegs – Kilometer im Leben, rollendes Leben …“ Im Sinken, im Eintauchen legt sich Vergessen, legen sich Träume zum bald, und Martin greift in die Tiefe, klammert die Hände daran. Allein in den Welten, Gleiten im Sein, mitten von löschenden Sinnen – nichts tun, ein Flackern, ein Blasen, ein Scheitholz im Feuer des Wagens, ein Silberton im Gesicht. Nacht. Endlich. Räder laufen im Atem. Eine Hand drückt die seine – gleichviel von wem. Man ist noch. Zählt. Und man hält in den Händen und sinkt. –

Als der Tag in den Wagen sich gießt, ist man in der Sowjetunion schon, in Weiß-Russland, und die Waggons laufen jetzt breit, auf breitbeinigen Schienen, anders genormt.

„Die könnten sie bei uns auch installieren“, meint jemand. „Unmöglich“, erwidert sein Gegenüber. „Der Westen macht da aber keineswegs mit, und wir sind leider immer noch abhängig von ihm.“ – Breitspurig erklärt er die Lage, und die Lage wird klar: Sarodnick ist in dem Land mit den anderen Normen. Schicksale gehen die Runde, und an die Türen klopfen Studenten in Uniformen und verteilen Broschüren, formen, was noch nicht ist geformt, Abteil an Abteil. In jedem Kopf stecken Plaketten, man fährt in die Sonne, und Martin bangt in der Frage nach Ankunft.

Berlin–Leipzig war klar. Er studierte hier, dort wohnte Petra. Martin nahm den Koffer, kam an, „zuhause“ bei ihr. In Berlin war seine Wohnung, in einem Gartenhaus bei einer vergessenden Dame, in einem Haus außer Häuschen, mit Musik und Festen darin. Dahinter lag Berlin als Hinterhalt, als Hauptstadt, als Zwilling vom verlorenen Sohn, mit Kultur und aufgeputzten Ruinen. Sarodnick spielte mit ihnen, zeichnete sich aus und steckte die Delegierung nach Moskau sich an den Hut: „Als Einziger! Einzig!“ Er klapperte sich die Fanfaren herunter, die Zirkel, die schönen Worte der Straße als Bühne. „Ein Theater würgt ab“, und Martin blähte gelähmt, flimmerte den Schein und den Spott in den Kegeln. „Das ist schon das Größte, weiter geht es nicht mehr – Kerzen in Schlössern und Sphären!“ – Er schluckte die Masken – Leipziger oder Berliner – die Drachen, die Bärte, den Sommernachtstraum, und er fiel über die Steine, die man ihm absichtlich stellte: Bert Brecht, die Zweifel im Hoch, die Krise als Zucht und die Maßnahme als Regel – das elfte Plenum als Spiel. Für Sarodnick waren es ausgelegte Karten zum Greifen, und er griff nicht daneben, noch nicht. „Glatt wie ein Scheit“, – und glatt rollten die Gespräche mit Monika über die Bühne. „Wir haben in der Oper herzlich gelacht.“