Ostexpress in den Westen

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„Jedoch wünschte man keine westliche Kunst, sondern wünschte nur sie selber zu gaffen“, spielt Sjoma auf die geschlossenen Vorführungen der Parteibonzen an. „Ich! Ich allein, bin allein. Licht aus! Ruhe! Bitte nicht stören! – Im Kreml flimmerten diese verbotenen Filme. ‚Bei uns aber keine und niemand!‘ – Und der Mann im Kreml – ganz alleine im Staat – sagte dann nachdenklich rauchend: ‚Diese dürre hässlich Rote – wie heißt sie doch gleich? Chochlowa? Richtig, die Frau von dem da … – Sie wissen schon – Kuleschow, dass ich diesen stinkigen Stockfisch nicht mehr hier auf der Leinwand erblicke!‘ – Die Hässlichen hatten verspielt. Die Schönheit triumphierte – Russland war schön. Eisensteins Bäuerin in der Generallinie war das aus der Mode gekommene Alte. ‚Solche brauchen wir nicht! Es ist nicht typisch! Was soll man in Amerika denken!‘ – Greta Garbo, Katherine Hephburn, Julie Harris, Joan Crawford, Rita Hayworth – ‚der rote Fisch!‘. Zu untypisch war das für die hässlichen Jahre. – Die große Angst machte sich breit, das Donnerwetter begann – Gott strafe! Gerechte Strafe muss sein! Generälen fiel das Herz in die Kugel. Hatte Kuleschow nicht den Armeegeneral Tuchatschewski einst in der spitz-endigen Budjonny-Mütze gezeigt? Drehte er nicht ‚Die Pfeife von Stalin‘ – ohne jemals drehen zu können.“

„Die Idee war sehr gut“, verteidigt André den Professor. „Natürlich. Kuleschow hatte endlich gefressen, und die Pfeife kippte ihm die Asche aufs Haupt: ‚Ich tue dir nichts, wenn du weiter nichts tust.‘ – Der Professor ist ein guter Professor. Eigentlich ist er schon lange gestorben. Ein Museum. Modell.“

„Er ist die zwanziger Jahre, der Anfang, die Erfindung, die Hoffnung, die Revolution noch im Schwung“, resümiert weise der hochgetriebene Junge vom Norden.

„Jetzt schwingt er dreißig Jahre seinem Ende entgegen, ist ein Wärter der entwerteten Werte, ein ausgestopfter Weihnachtsmann-Löwe.“

„Eisenstein, Pudowkin, Wertow, Dowschenko hat er überlebt …“

„Und ist viel älter als sie. Wer überlebt hat, hat sein Leben vermurkst. Er hätte besser tot sein müssen, um weiterzuleben.“ –

Schwerkrank sitzt Kuleschow an dem Tisch, hüstelt, quält sich im Husten, am Auswurf. Seine Frau, die Chochlowa, streicht ihm den Rücken, und die Assistenten warten nervös und devot. Der Professor erzählt von damaligen Freunden, von dazumal, von den „Zeiten“: „Schwierig war es – viele Kinder der Bourgeoisie studierten damals noch hier. Einige gingen ins Ausland, die anderen hatte die Tscheka selber geholt …“ – Der Professor ist krank. „Jetzt sind nur noch die braven Bürgersöhne geblieben.“ – Er räuspert sich leise vor Schmerz.

„Lew Kuleschow schreibt seine Memoiren“, flüstert André.

„Und er wird sich an die Wahrheit nicht mehr erinnern“, winkt Samwel ab. „Eine Epoche könnte er sein. Er war doch mit allen befreundet. Verschwunden, vergessen im Ruhm, im Schweigen, in Schande. Warum schreibt er nicht, wie es war?“

Der Husten peinigt den Mann, und er verzerrt sich in Qualen. Ist er zerbrochen wie alle, die weitergemacht? – Die Studenten ehren, verehren ihn, streuen ihm einen Kranz auf das Haupt. Er ist der Letzte der Letzten.

„Der Letzte ist nicht immer der Beste“, sagt Sjoma sarkastisch. „Er geht über Leichen hinweg oder stellt sich bloß tot. – Ein anerkannter Meister ist er geworden.“

„Er schreibt seine Erinnerungen auf.“

„Kranke, mit Löchern.“

Wenn Lew Kuleschow da ist und schweratmend spricht, gibt es keinen einzigen freien Platz mehr im Saal.

„Jeden Film müssen Sie sorgfältig antizipieren, vorbereiten, sorgsam mit allen, mit den Schauspielern vor allem. Ich habe als Erster ein detailliertes Drehbuch verlangt. Es war mit den Akteuren bis zum letzten Komma besprochen, erdacht. Und jeder Film wurde danach meist mit den gleichen Leuten gedreht. Den ‚Großen Tröster‘ habe ich zunächst auf der Bühne inszeniert, durchexerziert, habe da schon Kino gemacht ohne Film. Bergmann tut es übrigens auch – dreißig Jahre nach mir … Habt ihr die ‚Mutter‘ gesehen? Pudowkin hat in seinem Film jede Einstellung vorher gezeichnet, jedes Detail war erkennbar, lesbar gemacht und genau definiert. Alles im Film sollte etwas bedeuten, aussagen, verfechten, verteidigen oder anklagen … Es war ein ganzes Jahrhundert darin. Die Montage danach schnitt sich den Sinn und gab die sublime Überhöhung. Das Innere des Menschen wurde durch die Bilder ersetzt, die Psychologie hing an der Schere … Alles entstand im natürlichen Raum. Ich habe Kulissen vermieden, immer nur Natur zusammengesucht – den Fluss, den einsamen Baum, die Wiese, den Schnee auf den Hügeln, von überallher einzelne Stückchen genommen und habe es dann am Tisch zur Einheit montiert … Solch ein Film machte den aristotelischen Regeln den Garaus. Schon Meyerhold hatte ein Bein aus dem Theater gestellt. Modernes Theater kann sich nicht vor dem Vorhang verbeugen. Es wurde demokratisiert, war nicht mehr Salon, sondern das Vorzimmer, die Gesindestube mit dem Hofe dazu. Der Raum erweiterte sich zum Kosmos, das Volk sprengte ihn auf. Dies aber kann in dieser Großartigkeit eigentlich nur der Film realisieren, oder das Theater muss seine heiligen Hallen endlich verlassen … Wir haben zuerst mit den Massen gearbeitet. Später dann kam erst der ‚Streik‘, ‚Potemkin‘, kam Griffith …“ – Kuleschow hüstelt stark, macht eine Geste, bricht ab und blickt sich plötzlich auffahrend um: „Zu viel ist schon gesagt worden, zu weit bin ich gegangen … Alle guten Filme heute schöpfen von dort, entwickeln sich in dieser Tradition weiter … dank unser neuen Gesellschaft … Alles verdanken wir ihr …“

Jetzt hustet er stärker, die Halsadern schwellen wie Stricke beim Henken, das Gesicht ist bläulich ein Weiß, und die Augäpfel bluten vernehmlich. Seine Frau streicht zärtlich über sein Jackett: „Ist gut!“, und der Professor erhebt sich duldend, lehnt sich über den Arm vom devoten Assistenten anbei: „Nach der Pause werden wir spielen.“ –

Die Rast aber zieht sich ungemein hin, und als die Assistenten endlich zum Eintreten bitten, ist der Professor schon mit dem Dienstauto nach Hause gefahren. Seine Frau indessen klatscht in die mageren welken Hände: „Na dann wollen wir mal.“ – Doch die Lust ist weg mit der Zündung. „Wir sind alle nur Assistenten“‚ spricht die Frau traurig gen Tür.

Alexandra Chochlowa – Schauspielerin, Professorin, Ehefrau. Und manches noch mehr war sie ihrem Leben. Sie sprach niemals darüber, dürfte nicht sprechen, dürfte sich überhaupt an vieles nicht mehr erinnern – wer sie war und nicht war, wie alt sie ist – alterlos und verbraucht. Keiner weiß es, und sie weiß es auch nicht genau, hat es vergessen oder musste vergessen. Hat alles vergessen gemusst. Ihr Onkel war Dr. Botkin gewesen, der Leibarzt von Nikolaus II., der am 17. Juli 1918 gemeinsam mit der gesamten Zarenfamilie in Jekaterinburg umgebracht wurde. So konnte sie natürlich nicht mehr diesen Namen tragen, es käme einem Todesurteil gleich. Sie wurden ihre Memoiren gelöscht, sie viel jünger gemacht und hatte somit ihren Onkel nie gesehen oder gekannt. Nach dem Namen ihrer Mutter wurde sie zu „Tretjakow“ umgewandelt. Doch dann erwies sich ihr Vetter, der große Dramatiker und Futurist, Gründer der Künstlergruppe LEF, Sergei Tretjakow, als Volksfeind und fiel 1937 dem Großen Terror zum Opfer. Da konnte sie auch nicht mehr „Tretjakow“ sein, sondern wurde simpel zu „Chochlowa“ sowjetisch geformt. Sehr einfach, unschuldig, anonym, Proletarierin – nur nicht vom Blut.

Besorgt und etwas müde nimmt Chochlowa den zurückgelassenen Zettel ihres Mannes zur Hand und liest dessen Willen den Anwesenden vor: „Jeder Student hat eine Etüde zu schreiben, ohne Worte, eine Stummfilmgeschichte, um sie später auf der Bühne zu stellen.“ Eine ungesprochene Sache soll es sein, in der alles gesagt ist im Raum, in der Gestik, im Körper. Kein abgedrehter, ausgeschalteter Ton also müsste es werden, auch kein ‚Er hat die Sprache verloren‘ oder ‚ein Taubstummer‘, sondern das Wort ist überflüssig geworden, nicht am Platze, zu viel – hier ist gerade genug gesprochen, weil niemand mehr etwas sagt. – Die Ehefrau, Schauspielerin, Mitarbeiterin kneift ihre Augen zusammen, holt ihre Brille hervor und liest weiter: „Der Stummfilm ist die schwierigste Sache der Welt, der Höhepunkt in der Geschichte des Films. Das Bild muss die Sprache substituieren, ersetzt sie und totalisiert die Gestaltung, verbildlicht die Realität. Der Regisseur ist ein Dichter, sein Wort ist die Spiegelung auf der Leinwand und der Rhythmus ihre Montage. Der Stumm-Film – nicht der taub-stumme Film! – der Nicht-Sprech-Film, der Sprech-Film ohne den Mund aufzureißen, ist das große Geheimnis. Er ist in Bildern geschrieben, und man liest das Bild als Poem.“ – Aleksandra Chochlowa faltet den Zettel ihres Mannes zusammen und steckt ihn sorgfältig in den Briefkuvert wieder zurück. –

Hinter einem Tisch zeichnet ein kranker Mann an seinem Leben. Ein Gesicht erscheint im gefrorenen Fenster, weiß, mit einem Auge, das sticht. Es ist der Freund an dem Guckloch, der, mit dem der Kranke weiland auf der Schule malen gelernt hatte. Hastig haspelt der Leidende auf. „Um das Haus gehen, die Tür!“, weist seine Geste dem Freund. Der hebt eine blutige Hand: „Du musst mich verstecken!“, will sie ihm sagen. – „Um das Gebäude und rechts!“ – Auf der Glasscheibe malt der Atem sich ab, und Finger krallen sich draußen ins Holz. – „Einmal herum!“ Der Kranke setzt sich zurück in seinen Stuhl und zeichnet von neuem am Blatt. – An der Tür klopft der Freund, leise, ängstlich, vergeblich – die Tür ist verschlossen und stumm. – In der Stube indessen radiert der Maler am Kopf, es ist eine Arbeit im Stillen. Dann setzt er die Teekanne auf, nimmt zwei Tassen vom Schrank und prüft das Holz in dem Ofen. Er reibt an den Händen, rückt an dem Stuhl und legt die Decke aufs Knie. Da fällt ihm der Freund wieder ein, und er geht über den Flur zu der Tür. Draußen friert der Winter sich aus, und in dem Schnee sind Spuren in dunklen Flecken gerahmt. Der Mann schüttelt den Kopf und dreht den Schlüssel wieder im Schloss. Ihn fröstelt, und er legt einige Holzscheite nach, nimmt die eine Tasse vom Tisch und stellt sie in den Schrank auf ihren Platz. Dann schlürft er zum Fenster: Zwei Männer führen durch den Schnee seinen Freund. Der Atem des Mannes erblindet das Glas, und er wischt mit dem Ärmel darüber. Ein Gesicht starrt in das Fenster: der Freund. – Der Mann schließt die Augen, geht zu dem Stuhl und nimmt die Zeitung zur Hand. Draußen ist Winter. In der Scheibe blendet blakig die Sonne den Schmutz. –

 

10

Wladimir lockt Sarodnick ins Zimmer und riegelt hinter sich ab. „Setz dich hier an den Tisch“‚ sagt er erregt. „Ich will dir was zeigen.“ Und leise fügt er hinzu: „Aber niemandem davon ein einziges Wort!“

„Gut“, nickt Martin gespannt.

„Nicht ‚gut‘. Schwöre!“

„Ich verspreche es dir.“

„Auf die Ikone!“, verlangt Wowa, und er kramt unter dem Bett ein rechteckiges Brettchen vor mit einer hingedunkelten Farbe. „Es ist Johannes der Täufer.“ – Wladimir bekreuzigt sich und küsst das Gesicht des Propheten. „Leg deinen Zeige- und Mittelfinger darauf“‚ fordert er Sarodnick auf. Der tut, wie es ihm geheißen, setzt sich dann aufs Bett wieder zurück und wartet in Schweigen. Wolodja rückt den Tisch an die Seite, stellt die Stühle darauf, so dass sich ein Freiplatz zwischen den eisernen Schlafstätten bietet. Hiernach legt er Zeitungen auf die Bretter des Bodens und breitet eine große Landkarte aus. Liebevoll streicht er darüber: „Eins zu viertausend.“

„Was ist das?“, fragt ihn der Deutsche.

„Der Plan der entscheidenden Schlacht, der großartigsten, der Großen Schlacht unseres Krieges.“

„Stalingrad?“

„Ach was. Stalingrad war doch nicht das!“, wehrt Wladimir ab, „war die größte Kapitulation vielleicht, war Elend, Kälte und Hunger. Keine Munition, keine Moral und eine Handvoll taktischer Fehler. Stalingrad war kein Kampf, sondern war ein Vernichten, Ausbluten, Tod. Stalingrad war einfach die Hölle.“ – Erregung sprüht in ihm, und er drückt sich dichter an Martin: „Der wahre homerische Schau-Platz ist Prochorowka für mich, ein Borodino des Zweiten Weltkrieges – ein Mann gegen Mann, Held gegen Held, ein Gleiches mit Gleichem.“ – Er zeigt auf die Karte: „Kein Ausweichen, keine Ausreden, kein Ausfall – jeder wollte den Kampf, jeder wollte dasselbe, jeder suchte die Offensive. Ein offener Schlagaustausch war es gewesen mit gleichen, mit ausgewogenen Mitteln: gleiche Waffen, gleiche Truppen, gleicher Plan.“ – Mit einer erhitzten Bewegung öffnet Wowa seinen Koffer, der vollgepackt ist von winzigen Spielzeugen, Figuren, Bleisoldaten, Kanonen. „Ein Panzer von mir steht für hundert“‚ erklärt er und postiert die Fahrzeuge fachgerecht auf die Karte. „Dies hier sind die 500 Panzer und Sturmgeschütze der SS-Panzergrenadierdivision ‚Leibstandarte Adolf Hitler‘, des ‚Totenkopfs‘ und des ‚Reiches‘, da sind die 850 Panzer unserer 5. Gardepanzerarmee.“ – Und im Taumel verteilt er die Miniaturen auf dem Karton: „Auf diesem leicht hügeligen schmalen Geländestreifen von fünf Kilometer Breite zwischen dem Psjol und dem Bahndamm der Strecke Belgorod–Kursk wälzten sich dröhnend und hohe Staubwolken aufwirbelnd die Panzerlawinen aufeinander und gegeneinander“, beginnt Wolodja seinen Bericht und schiebt die kleinen Pappfiguren langsam zur Mitte. „Im Schutze des kleinen Wäldchens dort bewegten sie sich durch die Steppe in Gruppen, und das Geböller der Panzerkanonen flossen zu einem gewaltig anhaltenden Grollen zusammen. Die erste Staffel unserer 5. Gardepanzerarmee drang voller Fahrt in die deutsche Gefechtsordnung ein. Sie hatten enge Berührung, es blieben weder Raum noch Zeit sich vom Gegner zu lösen und die Gefechtsordnung wiederherzustellen. Aus kürzester Entfernung abgefeuerte Granaten durchschlugen die Bugpanzerung der meisten Kampfwagen. Häufig explodierten dabei Munitionen und Treibstofftanks, und die abgeschmetterten Panzertürme wurden Dutzende Meter weitergeschleudert.“ – Wladimir hatte seine Spielsachen auf das Schlachtfeld geschoben und ließ sie abwechselnd von beiden Seiten beschießen, um sie danach mit einem exaltierten Enthusiasmus zu vernichten. Alsdann holt er neues Material aus dem Koffer und ordnet es rasch auf die Ränder der Karte: „Als sich gegen Mittag erwies, dass es nicht möglich war, direkt auf Prochorowka durchzubrechen, entschloss sich das Oberkommando der 4. Panzerarmee, mit der SS-Panzergrenadierdivision ‚Totenkopf‘ und der 11. Panzerdivision über diesen Brückenkopf da im Psjol-Knie linksflankierend in den Rücken der 5. Gardepanzerarmee vorzustoßen. Nach mehreren mit 100 Panzern und Fliegerunterstützung geführten Angriffen erreichte der Vorstoß den Ort Poleschajew am nördlichen Ufer des Psjol, wo er jedoch zum Stehen gebracht wurde, – während die von Westen auf Prochorowka vorgehenden Verbände des II. SS-Panzerkorps in heftige Kämpfe verwickelt wurden, unternahm das III. Panzerkorps Anstrengungen, von Süden auf das Schlachtfeld durchzubrechen, den gegen die SS-Divisionen fechtenden Verbände unserer 5. Armee in den Rücken zu fallen und die zwischen den beiden Quellflüssen des Donez hier stehenden Kräfte einzuschließen. Der Angriff mit 200 Panzern, den die Luftwaffe gut unterstützte, erreichte bereits in den Morgenstunden Rschawez. Es gelang, einen Brückenkopf auf dem rechten Ufer des Donez zu bilden und von dort aus weiter nach Nordwesten zu dringen. Angesichts dieser Flanken und Rückenbedrohung musste die 5. Armee einen erheblichen Teil ihrer Reserven mit 200 Panzern dem deutschen 3.Panzerkorps entgegenwerfen. Diese hielten die Deutschen verlustreich etwa 15 Kilometer südlich Prochorowkas zwar auf, aber trotzdem blieb die Lage für sie äußerst gespannt. Unsere übrigen Armeen, die im Laufe des Nachmittags erst zum Angriff übergehen konnten, erzielten an den Flanken einzelne kleine Einbrüche. Damit verhinderten sie das weitere Vordringen der deutschen Truppen in Richtung Obojan. Entscheidende Resultate erreichten sie aber nicht. Die Offensive der beiden größten Armeen war aufgehalten und heroisch gescheitert. Zu Ende war die größte Panzerschlacht aller Zeiten, unentschieden, remis wie Borodino. Und wie damals war es der Wendepunkt, war es die Grundlage für unseren endgültigen Sieg.“ Feucht glänzt Wladimirs Wange. Er scheint aufgerührt gewallt und von Fieber. Martin nimmt seine Hand, drückt sie anteilig-teilend, und unergründlich unerklärlicherweise bleibt er lange noch auf dem Bett Wolodjas ruhen und starrt auf die Karte mit ihren Haufen von geworfenen, zerstörten und umgekippten Figuren.

11

In den Winterferien reist Sarodnick nach Haus, wählt sich einen Kamerastudenten aus Babelsberg und dreht mit diesem die Fastnacht in seinem sorbischen Heimatort.

Als Kind hatte Martin stets teilgenommen an dem Fest, an diesem Spiel, hatte sich verkleidet und war von Haus zu Haus durch das Dorf Zampern gegangen: „Gebt mir ein bisschen Geld oder Eier, Speck oder Butter!“ – Später zogen die Großen, die Männer, und die Kinder und Frauen blieben erwartungsvoll ängstlich daheim.

Zeitig am Morgen sammeln sie sich auf dem Platz vor dem Gemeindebüro, und der Frost treibt den Korn in den Rachen, treibt der Korn den Frost aus dem Bauch. „Wer ist dort gekommen?“ – Ein Paar mit Wasserköpfen am Hals.

„Sicher Paulick und Jatzwack.“ – „Nein. Paulick ist doch der Schornsteinfeger daneben.“ – „Ach was! Das ist Lehmann.“ –

„Der Bär …dieser Riese ist wer?“ – Brombog reitet auf der Ziege einher, und eine Braut in dem Schleier, ein Zigeuner, ein Bettelstudent, eine Alte mit einem Storch und Kinderwagen promenieren dahinter. In der Karre plärrt wütend der Balg. „Bolke ist das, könnte ich wetten.“ – Ein Teufel mit mistiger Gabel, eine Stadtdame unter einem riesenradigen Hut, ein Advokat auf dem Schimmel, ein Apotheker mit giftgrünen Tabletten treiben einen Leiterwagen mit Marionetten beladen. Pamarz schreitet als trächtige Kuh mit einem Euter wie vier große Schläuche, Wietsent trompetet als Feuerwehrmann und spritzt Wasser aus einem Kübel vorbei. Ein Polizist trillert, und ein Engel fliegt schnell hinter den Busch mit unschuldiger Miene. Aus dem ehemaligen Kaiserreich aber marschieren Soldaten mit Pickelhauben und Bajonetten, drei leichte Mädchen flirten wie Grazien, und ein Fliegenspritzer spritzt auf sie ein. Ein Indianer, zwei Schauspieler, ein Gaukler, ein Mohr, ein Gespenst. Eine Hexe reitet rücklings in einer dreirädrigen Kutsche, die mit lahmen Pferden geschirrt. Auf dem Bock sitzt Krabat verschmitzt und kaut an Gedanken. Nun sind sie alle beisammen, die „Körner“ gesammelt, geschüttelt, die Kleider gezogen, hat man dahinter geblickt und geraten, gewusst, wer wer ist und wer nicht. Noch einmal wird heftig gelacht, am Euter gezupft und Bier in die Gläser gekippt. „Zum Fotografieren bereit!“ – „Die Kleinen nach vorn! Die Braut, die mit den Brüsten, die ohne Löcher, in die Mitte zum Mann! Die Pferde nach hinten! Ruhe! Das Bild wackelt. Steht eine Minute mal still. – Der mit der Leiter! – Der Engel! Der Hut! – Alle mal freundlich!“

„Und die Musik?“ – „Die Kapelle mit Pauken und Posaunen! Und dahinter die Frauen in den sorbischen Trachten.“

„Keine Musik!“

„Haut auf die Pauke!“

„So. Fröhlich das Herz! – Die Hochzeitsbitter links und rechts von dem Ganzen! Nach außen! Die Flasche ist nicht zu sehen! – Klick!“

„Jeder auf seine Plätze!“ —

Vorn marschiert die Musik, alsdann kommen die Bitter, die „Damen“, die Herren, die Kühe, die Pferde, die Engel, die Teufel – zu aller guter Letzt Krabat in seiner alten wackligen Kutsche. „Das den keiner nach hinten überholt! Man wüsste sonst nicht, wer uns fehlt.“ – „Eins, zwei, drei – einen Marsch!“

„Wir fangen beim Bürgermeister an und danach geht’s linksherum weiter.“ Die Blasmusik paukt, das Schifferklavier klirrt, die Teufelsgeige krächzt und die Engel fliegen dreimal über das Dorf. In seinem dicken Strafregister blättert der Advokat: „Herr Bürgermeister schönen Tag!“ – Alle sind aus dem Häuschen, die Trompeten zwitschern ein Ständchen und die Hochzeitsbitter bitten zum Tanz. Den wendischen Frauen wirbeln die roten, grünen oder himmelblauen Röcke, und im Takt drehen die Schleifen die Runde. Schnaps verschenkt sich wie Freude, man schüttelt sich, lacht, wischt an den Lippen. In die Liste tragen die Bitter die Namen: „Wie viel wolltest du gleich geben?“

„20 Mark.“ – Es wird notiert und bedankt und ins nächste Haus eingezogen: „Schönen Gruß!“ – Die anderen besetzen den freigewordenen Platz. Die Kuh spritzt ihr Bier in die Eimer, die Soldaten drohen mit Krieg, der Schornsteinfeger jagt Kinder und verschmiert seinen Ruß an den hübschen weißen Mädchengesichtern: „Man hätte sich auch loskaufen können.“ –

Auf dem Hof demonstriert das Brautpaar die Liebe, und die Beglückte zeigt stolz das Falsche von ihr. Der Engel aber sammelt brav Eier für seine verlorenen ein, und allen hängt eine Büchse am Hals: „In den Schlitz bitte werfen das Geld.“ – Genau um die Hälfte betrügt die Zigeunerin ihre Klienten. Sie hatte es aber ihnen schon vorher geweissagt.

Auf jedem Hof singt die Musik, jauchzen die Stimmen, rollt das Geld in die Büchsen verhext, und der Feuerwehrmann löscht mit dem Wasser die hitzigen Köpfe. Der Polizist indessen schreibt die Strafzettel aus. Der Zug rattert durchs Dorf, und die Kinder verfolgen ihn ängstlich mit Abstand: „Ist das ein Fest!“ – Der Bär tanzt mit der Tschertschick eine Runde für Speck, der Fliegenspritzer schüttet tote Fliegen aufs Haupt, und die Ziegen lecken die Stiefel. Jedem Haus gilt die Offerte, jedes Haus ist zu einem offenen, öffentlichen erklärt, und die Lust biegt sich vor Freude den Buckel. – An dreien der Häuser aber baumelt ein Schloss, und man sagt: „Das sind Zeugen Jehovas. Für die ist das Zampern vom Teufel, wie auch die Wahl, die Gemeindeversammlung, das Erntedankfest im Herbst.“ – Die Hexe macht drei Kreuze ans Tor, und der Feuerwehrmann wirft einen Knallfrosch über den Zaun, dann torkelt man weiter zu den offenen Türen. Die Kutsche aber mit den vier lahmen Pferden in ihrem Geschirre fährt auf, und die Peitsche schlägt gegen das Tor. Erschreckt weicht das Holz, der Wagen rollt auf den Hof, und Krabat, witzig gewitzt, erzählt seine Geschichte. Die Kinder klammern sich vor Schreck an die scheckigen sorbischen Trachtenröcke, die Frauen kichern in ihre Tücher, und die Alten blicken mit zwinkerndem Auge misstrauisch hinter den Schwank: „Das ist doch Sarodnicks Jüngster!“

12

Hinter vorgehaltener Tür hat Tretin dem Ältestenrat des Kurses etwas zu sagen. Inständig lange drängt ihn der Professor, dass er noch einmal auf gut Freund melde, was er unlängst ihm selbst bereits angezeigt hatte: Das Verhalten Sarodnicks ist nicht kursgerecht, wäre sowjetfeindlich gar. Tretin aber hält hinter dem Berg, lauscht bloß dem kurzfliegenden Atmen seines Professors.

 

„Bitte, Jakob, wiederhole, was du mir und dem Rektor mitgeteilt hast.“ Tretin erhebt sich, fühlt plötzlich Schwäche in seiner schmalen Brust, lässt sich jedoch nicht von den rosshaarigen Beinen holen. Mit gesenkten Lidern kaut er genüsslich jedes Wort auf der Zunge:

„Ja. Sowjetfeindlich!“ – Ratlos muckt sich das Kollektiv: „Wir verstehen das nicht.“

„Na schon raus mit der Sprache!“, drückt der Professor kraftvoll auf die Tube, und unehrenvoll tropft es von den auftragenden Lippen Tretins zu Boden:

„Sarodnick macht oft Bemerkungen … zum Beispiel über die Tschechoslowakei, über Dubček, über die Panzer …“ – Jakob sucht die Blicke seines Beschützers: Kuleschow kann ihn doch jetzt nicht alleine hier zappeln lassen!

Zu Hause würde er ihm jetzt einen Fisch braten, bis er blau wär. Zu Hause! Ist nicht Lew schließlich und endlich sein Vater, „wie ein Vater“, „an Vaters statt“ – ein versprochener Vater nun doch?

Kuleschow hatte mit Tretins Vater einst mal Freundschaft geschlossen – hinter verschlossenen Türen – und hatte sich hinter dessen Rücken geschickt versteckt in den Jahren der „Der Großen Zeit“, der wechselnden Ämter, des „Heute-was-und-morgen-Nichts“. Sein Vater war schließlich ein angesehener Maler, „offiziell“, war angesehen, genehmigt, gelobt von der Hohen Stelle im Staat, und daher wohlgesehen von allen, ein liebend gesehener Gast: „Mit dem kann man sich sehen lassen! Der malt nur die festgesessenen Köpfe, solche die nicht wackeln, die keine Miene verraten, die man sich unbedenklich in sein Arbeitszimmer aufhängt.“ – „Der kennt sogar ‚Den‘ persönlich!“, flüsterte man. – „Der ist höher als der!“ – „Das ist eine ‚Persona mit Grata‘!“ – „Wer den kennt, wird nicht mehr verkannt, und dies hieße, sein Süppchen im Sicheren kochen!“

Mit Jakob und dessen Vater hatte Lew Kuleschow häufig an einer Tafel gegessen, aus einem Topfe gegessen, hatte ihm seine Sorgen verborgen und ihm einige Male im Vertrauen gesagt, dass die zwanziger Jahre für ihn endgültig vorüber, über, über Bord wären. Von dem Maler hernach erfuhren die Leute, die mehr waren als Leute, was für ein fortschrittlicher und parteilinienfrommer Mensch Kuleschow geworden ist, dass er keine Projekte mehr hat und nie und nimmermehr davon träume, einen Film fürs Kino zu machen. Sein Freund gab ihm da von hinten und vorne vollkommen recht. Und Recht gab ihm Lew wieder dankend zurück, als der sich von der Ehefrau trennte und sich den gemeinsamen Sohn aneignete wie die öffentliche Meinung Gewalt. Die Mutter wurde nicht für „würdig“ erklärt, musste Moskau mit leeren Händen verlassen und wurde später ins Lager geschickt. Den Sohn hatte der Vater, und er ließ ihn nach seinen eigenen Bildern erziehen.

Als jedoch nachmals eine ganze Epoche ins verwelkende Gras biss und des Malers Gönner ihre Lorbeeren büßten, stürzte der alte Jakob wie eine Laus in eine selbstgezündete Kugel: Er hatte es nicht für möglich gehalten. Wer hätte auch bei ihm noch bestellt? Der Laden war dicht. So aber war er in allen Ehren rechtzeitig verschieden: „Man muss in Würde abtreten mögen!“, bewunderte ihn sein Freund Kuleschow. – Noch kurz bevor Jakobs Vater die Pistole in den staunenden Mund zielte, verfasste er einen Brief an diesen: Er möchte doch um seinen Sohn sehen, kümmern, schützen und fördern. Und der frühe Regisseur schwor es auf dem Staatsbegräbnis des tragischen Mannes. – Die Mutter aber erreichte ihre staatliche Gutmachung erst an ihrer Bahre – Mühlen mahlen nicht wie Maler so schnell.

Die Großmutter nahm sich des Waisen an mit dem Wink von dem Freunde: „Für immer auch mein.“ – Tretin wuchs dem Alten ans Herz – hatte er doch seines – und mit ihm seinen Sohn – im Kriege verloren. Er „bemutterte“ ihn, ließ ihn rufen, prüfte die Arbeiten in der Schule und übergab ihn überdies den alten Erziehern, den alten Lehrern, den alten Genossen: Blieben diese doch ihrem glücklicherweise nicht vorzeitig „entlarvten“ Meister treu bis ans Grab und auch darüber hinaus.

Tretin fiel dadurch die Freude in seinen zu kleinen Schoß: Er bekam bessere Noten, bessere Kleidung, bessere Nahrung – er war ein Kind mit „vorbildlichem“ Vergangenheitsgrad. – „An Vaters-Statt“ nahm Kuleschow ihn ins Filminstitut, anstatt und an Statt – staatlicher Aussteuer-Statt. Und Tretin hielt die Klinke von Lews Wohnung in seiner eigenen Tasche. Das wissen alle im Institut, das nutzen viele, das nützt einigen auch: „Jakob, nimmst du mich zum Professor nach Hause mit?“ – „Was hat der Professor gesagt?“ Tretin lässt es sich auskosten im Munde. Jedoch Martin schmeckt das nicht sehr: „Was geht mich deren Vergangenheit an!“ –

„Was meint die Gruppe dazu?“, fragt Kuleschow. Und der Kurs ist gegruppt und gespalten: „Von wo weht der Wind eigentlich?“ – „Ist es nicht gut Kirschen essen dabei?“ – „Ist es rot?“ – „Eine Ampel?“ – Samwel steht auf:

„Ich bin zehn Jahre in der Partei und fresse mit Sarodnick an einem Tisch. ‚Antisowjetisch‘ – ist doch eine Fatz. Martin ist, wie er ist, und wie die meisten von uns. Der hat es im Kasten, sabbelt, wie er einfach so denkt und ist Kumpel und Kimme. Ich bin sein Freund und lege meine Hand ins Feuer für ihn. ‚Antisowjetisch!‘ – dass ich nicht lache. Tretin soll seine Worte vorsichtig wählen! Ich warne dich Zapp!“, wendet er sich an den Verräter. „Das Kollektiv bist nicht du, das Kollektiv bin ich und die anderen.“ – Tretin ist in seinen Holzsitz geklappt.

„Das, was Samwel sagte, kann ich nur noch bestätigen“, nickt Ljuba, die Lehrerin Ljuba, deren Mann und ihr Kind in Woronesch blieben und mit Ungeduld duldend warten auf sie. Ljuba, die jeden Morgen leise klopft an die Tür, auf die Bettkante zu Wowa sich setzt und ihm zart unter der Decke auf und ab streicht: „Wowotschka, du musst jetzt aufstehen, mein Kater.“ – Diese Ljuba knüpft eine neue Schleife in ihre Bluse, und ohne aufzusehen, sagt sie: „Das ist die Wahrheit!“ – André der Gruppenälteste, dreht sich zwei Meter in die Luft und saugt diplomatisch daran:

„Herr Professor, ich glaube, das ist alles ein großes Missverständnis. Jakob hat, seiner Jahre wegen, einfach nicht den Hintergrund, den eigentlichen Sinn in den Späßen, in den ironischen Äußerungen Martins begriffen.“

„Damit wäre die Sache abgeschlossen“, wischt der Professor die Unannehmlichkeit von dem Katheder, und mit einem Blick zu Tretin fügt er hinzu: „Mit Jakob red’ ich später noch selbst.“ –

„Die hätten dir ganz schön die Eier gebraten!“, meint Sjoma am Abend zu Martin. „Und das mit der Tschechoslowakei – behalte es lieber für dich“‚ ergänzt Wladimir. „Prag liegt zu weit weg, um es von hier richtig sehen zu können.“

„Mein Vater hat persönlich Dubček gekannt“, sagt plötzlich Wasili und drückt sich seine Locken zurecht.

„Dein Vater ist in der Partei?“, fragt Sarodnick neugierig den Bulgaren. „Sein Vater ist die Partei“‚ antwortet Sjoma. „Er hat im Politbüro sein Büro.“

„Sie haben auf der gleichen Schulbank gesessen“, erklärt Wasili‚ „auf der Parteihochschule in Moskau.“

„Die gleiche russische Küche und auf die gleiche russische Bank – für ihre Dienste den Lohn“‚ lacht Sjoma.

„Aber sie haben daraus nicht die gleichen Lehren gezogen“‚ ergänzt Wladimir schlau. „Die eine war kurz, die andere tief.“