Schlimme Nächte

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Die Knaben im Moor

Uns zog es gleich zu Beginn unserer ersten Interrail-Tour nach Connemara. Diese Region ganz im Westen von Irland galt als besonders ursprünglich und wild, mit weiten Moor-Landschaften. Nicht ganz Afrika, in unseren Ohren aber doch immerhin sehr exotisch.

Irland war, neben Skandinavien, das einzige Land in Europa, wo man sein Zelt einfach aufschlagen durfte, wo man wollte. Das erschien uns ebenfalls aufregend. Unterstrichen wurden unsere Fantasien noch von unserem Reiseführer, dem »Velbinger«, damals das unter Backpackern am weitesten verbreitete Standardwerk, das unsere Sympathie schon dadurch erobert hatte, dass es als Symbol für Camping-Hinweise ein comichaft gemaltes Zelt verwendete, aus dem die Füße eines kopulierenden Paares herausragten. Wild zelten! Mehr Freiheit und Abenteuer war ja gar nicht denkbar.

Tatsächliche, reale Gefahren schien es dagegen keine zu geben. Kriminalität galt als unbekannt, die beiden einzigen Warnhinweis waren, einerseits nicht direkt an Klippen zu zelten, damit das Zelt im Falle eines der häufigen Stürme nicht in den Abgrund geweht würde, und nicht auf Kuhweiden zu campieren, denn angeblich, so der »Velbinger«, habe es schon Todesfälle durch Stampeden gegeben. Beide Risiken schienen uns gut überschaubar. Steile Klippen würden wir einfach meiden, und Kühe kannten wir aus Westfalen hinreichend gut, die beunruhigten uns nicht.

Wir reisten mit dem Bus an, stiegen einfach irgendwo aus, wo alles schön grün aussah, wanderten ein wenig ins Moor hinein und schlugen an einer etwas erhöhten, nicht allzu nassen Stelle unser Zelt auf. Dann schmissen wir den Gas-Campingkocher an, um uns Spaghetti zu kochen und damit den kulinarischen Fahrplan für die kommenden vier Wochen vorzugeben, denn wir konnten beide sowieso nichts anderes. Es war herrlich! Gut, es war kühl und regnete, aber das gehört ja nun mal zu Irland dazu, das unterstrich nur den Hauch von Abenteuer. Als es dunkel wurde, zogen wir uns ins Zelt zurück, genossen das Pladdern des Regens auf unserem Zeltdach und unterhielten uns noch lange, ehe wir irgendwann glücklich einschliefen.

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Der Regen war erheblich stärker geworden. Es schüttete. Na ja, so ist halt Irland, dachte ich. Auch wenn sich alles jetzt schon etwas ungemütlich anfühlte, die Sachen klamm, irgendwo tropfte es zudem offenbar, außerdem fröstelte mich etwas. Vor allem aber meinte ich, seltsame Geräusche zu hören. Ich konzentrierte mich, konnte aber nichts Genaueres ausmachen, zumal der auf das Zelt prasselnde Regen eine beachtliche Lautstärke erreicht hatte. Ein bisschen gruselig war es ja schon, das Wildzelten. Wir hatten uns zwar etwas von der Straße entfernt, damit nicht jeder vorbeifahrende Wagen uns gleich sehen konnte, und es gab ja praktisch keine Kriminalität in Irland. Andererseits – Geschichten von Trollen, merkwürdigen Wesen und Dorfwahnsinnigen gab es dann doch reichlich, auch dem Moor an sich haftete ja eine unheimliche Aura an. Tagsüber hätte ich jeden Gedanken daran natürlich lachhaft gefunden, aber jetzt nachts war mir meine Anette von Droste-Hülshoff, die jedes Kind in Münster mit der Muttermilch aufsaugt, doch plötzlich recht präsent.

O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,Wenn es wimmelt vom Haiderauche,Sich wie Phantome die Dünste drehnUnd die Ranke häkelt am Strauche,

Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

Wenn aus der Spalte es zischt und singt –O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Nun gut: Wir gingen ja nicht übers Moor. Wir zelteten auf ihm. Auf einem Hochmoor zudem, das eigentlich nicht sonderlich moorig gewirkt hatte. Am Tag jedenfalls. Da hatte es eigentlich eher wie eine große Wiese gewirkt, mit etwas anderer Vegetation und etwas wackligem Boden, was wir aber ausgelassen hüpfend genossen hatten. Wenn einer kräftig hochsprang und landete, wackelte der Boden im Umkreis von mehreren Metern, das hatten wir lustig gefunden.

Es regnete und regnete. Was aber, wenn der Boden aufweichte? Der ohnehin wacklige Moorboden? Ach, red‘ dir nichts ein, redete ich mir ein. Unsinn. Zelt im Moor versunken – das stand nicht mal im Velbinger. Das gab’s nicht. Es war ein nicht enden wollender Platzregen, ein Land-Platzregen sozusagen. Gut, Überschwemmungen durch zu viel Regen, so was gab es ja sogar im Münsterland. Die Werse trat regelmäßig über die Ufer und flutete die Weiden der Umgebung. Und so viel Regen wie hier hatte ich zu Hause noch nie erlebt. Jedenfalls klang es danach, das mir zunehmend ohrenbetäubend erscheinende Getrommel auf der Plane. Und wenn sehr viel Wasser auf eine ohnehin ja irgendwie matschige, wacklige, offenkundig also nicht wirklich stabile Oberfläche traf und diese weiter durchweichte ... – könnten wir womöglich einfach untergehen? Wie funktioniert das überhaupt mit diesen Moorleichen? Waren nicht schon ganze Mammutherden, Steinzeitmenschen und Saurier unter ähnlichen Umständen zu Tode gekommen? Die hatten bestimmt auch zuvor gedacht, sie seien sicher. Man weiß ja überhaupt sehr wenig über Moore.

Fest hält die Fibel das zitternde Kind

Und rennt, als ob man es jage;

Hohl über die Fläche sauset der Wind –

Was raschelt drüben am Hage?

Das ist der gespenstige Gräberknecht,

Der dem Meister die besten Torfe verzecht;

Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!

Hinducket das Knäblein zage.

Meine Gedanken jagten sich im Kreis. Und bildete ich mir das nur ein, oder wackelte es tatsächlich ein bisschen? Ja, Ralf hatte sich umgedreht. Und gleich bebte der ganze Boden. Das war am Abend aber noch nicht so ausgeprägt gewesen. Da musste man schon mit aller Kraft auftreten oder eben springen, um den Effekt zu erzielen. Ich verlor die Nerven. »Ralf, wach auf, wir gehen unter!«, rief ich, während der Regen weiter prasselte. Ralf fuhr hoch, sofort wackelte wieder alles. »Was ist los?«, fragte er verwirrt, »du spinnst. Auf der Fähre waren wir gestern, hier sind wir an Land, hier kann man nicht untergehen.« Jetzt schien er den Lärm des Regens erst richtig zu registrieren und schob ein etwas unsicherer klingendes » ... glaub ich jedenfalls« hinterher. »Guck mal, was passiert, wenn ich auf den Boden haue«, sagte ich. Es war, als zelteten wir auf einem großen Wackelpudding. Oder einem Wasserbett. Jede Bewegung führte sofort zu spürbaren Vibrationen und Gewackel. »Das war doch die ganze Zeit schon«, murmelte Ralf, aber richtig überzeugt wirkte er nicht. »Es hat die ganze Nacht geregnet«, gab ich zu bedenken, »das ganze Wasser muss ja hier ins Moor eingezogen sein. Vielleicht weicht jetzt der ganze Boden auf, und wir gehen unter?« »Quatsch«, sagte Ralf, aber er betonte es eher wie »schon möglich«. In dem Moment vibrierte der gesamte Boden wie toll. Wir sahen uns entsetzt an. Wieder eine Welle, wieder bebte der ganze Boden. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich wollte nach Hause. Aber das konnte ich natürlich auf keinen Fall sagen. Es war schließlich, nach der Nacht auf der Fähre, unsere erste richtige Feriennacht, das Abenteuer war gerade erst losgegangen. Und war uns schon erheblich zu abenteuerlich, denn jetzt bebte der Boden zwar nur recht fein, aber doch sehr anhaltend. Von uns, das war damit endgültig geklärt, gingen die Wellen also auf keinen Fall aus. »Ist da draußen nicht auch irgendwas?«, fragte ich unsicher. Allerdings hörte man kaum etwas, wegen dem Regen. Ralf schaute plötzlich wild entschlossen und knurrte: »Wir gehen da jetzt raus und gucken nach!«

Da birst das Moor, ein Seufzer geht

Hervor aus der klaffenden Höhle;

Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:

»Ho, ho, meine arme Seele!«

Der Knabe springt wie ein wundes Reh,

Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’,

Seine bleichenden Knöchelchen fände spät

Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Ich schluckte. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht mitten in der Nacht bei Starkregen in ein bebendes Moor hinaus. Hier lagen wir wenigstens. Ich hatte in den Abenteuerbüchern meiner Kindheit gelesen, dass man sich hinlegen muss, wenn man in Mooren oder Treibsand oder auf Eis einzusinken oder einzubrechen droht. Wer weiß – wenn wir einen Schritt vor die Tür setzen, dann schnappt sich uns das Moor. Und zieht uns in die Tiefe.

Aber Ralf hatte sich schon vorgebeugt, die Taschenlampe angemacht und den Reißverschluss des Eingangs aufgezogen. Er lugte kurz nach draußen, dann stieg er aus dem Zelt. Ich wartete ängstlich, ob ein auffälliges Schmatzgeräusch davon kündetete, dass er vom Untergrund verschlungen worden war. Aber nichts. Nur der Boden wackelte erkennbar, als er offenbar ums Zelt stapfte. »Komm mal raus«, brüllte er mir zu. Also gut. Der Gefahr ins Auge sehen. Vielleicht wirkte ja alles auch ganz harmlos, wenn man erst mal die Perspektive wechselte. Ich schnappte mir meine Taschenlampe, quälte mich in die eklig feuchten Schuhe und stieg ebenfalls nach draußen. Ralf stand direkt neben dem Eingang und ließ den Schein der Taschenlampe um das Zelt wandern. Und im Lichtkegel tauchten sie dann auf, eine nach der anderen: Kühe. Eine ganze Herde. Sie waren gekommen, uns zu holen. Beziehungsweise: uns zu zermalmen. Noch standen sie rings um unser Zelt und käuten gelassen vor sich hin. Immerhin, das erklärte das Beben. So eine Kuh wiegt ja ordentlich was, wenn die einen Schritt geht, kann der Moorboden schon mal wackeln. Aber wenn die Kühe nachts einfach über unser Zelt stampfen würden, dann wäre es um uns geschehen. »Ach du scheiße«, murmelte ich also, »was machen wir jetzt?« Ralf schaute mich erstaunt an: »Was sollen wir denn machen?« Er hatten den »Velbinger« nicht gelesen. Er wusste nichts von der Gefahr, in der wir schwebten. »Wenn die jetzt eine Stampede machen? Über unser Zelt?« Ralf sah zu mir, als habe ich den Verstand verloren. »Die stehen hier in aller Seelenruhe herum und machen überhaupt nichts. Außer eine Menge Kuhfladen, was morgen beim Frühstück unschön sein könnte. Sonst sehe ich hier keine Gefahr. Und so lange der Boden hier eine ganze Kuh-Herde trägt, wird wohl kaum unser Zelt darin versinken, egal wie viel es noch regnet. Ich leg mich jetzt wieder hin. Ich bin schon völlig durchnässt.« »Aber ... wenn die ... und außerdem: Wenn es morgen hell wird, unser Zelt ist rot!« »Na und? Das sind Kühe, keine Stiere. Außerdem ist das doch sowieso nur ein Mythos mit dem Rot. Jetzt komm schon rein. Die einzige Gefahr hier ist, dass du dir den Tod holst bei dem Dreckswetter.«

 

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,

Unheimlich nicket die Föhre,

Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,

Durch Riesenhalme wie Speere;

Und wie es rieselt und knittert darin!

Das ist die unselige Spinnerin,

Das ist die gebannte Spinnlenor’,

Die den Haspel dreht im Geröhre!

Ich resignierte. Einschlafen konnte ich nicht mehr in dieser Nacht, ich fiel in einen unruhigen Dämmerzustand. Bei jedem Beben des Bodens, wenn eine Kuh ihre Position veränderte, fuhr ich hoch und schaute ängstlich zum Zeltdach, in der Erwartung, gleich von mehreren Tonnen Hamburger-Rohmasse zertreten zu werden. Oder doch noch im Moor abzusaufen.

Mit der ersten Morgendämmerung schälte ich mich aus dem Schlafsack. Der Regen hatte jetzt aufgehört, gebebt hatte es auch eine Weile nicht mehr. Ich kroch nach draußen im ersten Morgenlicht, die Kühe waren längst weg. Ich zog meine Iso-Matte nach draußen, schmiss den Kocher an und machte mir einen heißen Tee. Aus dem Boden stiegen Schwaden auf. Ich saß vor unserem Zelt, schlürfte meinen Tee und spürte, wie ein leichtes Glücksgefühl langsam in mir hochkroch, im selben Maße, wie das Frösteln nachließ. Wir hatten es überlebt. Und wir saßen hier, mitten in der Wildnis, am äußersten Rand von Europa. Wir hatten wild gezeltet. Wir konnten hingehen, wohin wir wollten. Wir hatten unser erstes Abenteuer erlebt. Endlich war es wirklich so weit: Wir machten Interrail.

Letzte Worte

Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt. Das habe ich in meiner Zivildienstzeit am meisten gehasst. Ich kam mir dabei vor wie der Assistent des Henkers, der den Delinquenten zum elektrischen Stuhl führt, nur dass der Vollstrecker bei uns in aller Regel Krebs hieß und sich weigerte, den Hebel auf Kommando zu drücken, das Überraschungsmoment gab er nie aus der Hand. Dennoch, wenn es wirklich zu Ende ging, veranlasste Schwester Eugenia die Verlegung aus dem Dreibett- in ein Einzelzimmer, wann immer das möglich war. Sie wollte die anderen Patienten nicht zu stark belasten, bei uns waren Sterbende immer Einzelfälle, wir hatten keine praktischen Sammelräume für sie wie die drüben auf der Internistischen, die meisten unserer Kunden gingen nach kurzem Aufenthalt auf der Station und noch kürzerem auf dem OP-Tisch wieder frohgemut nach Hause.

Nur hin und wieder entpuppte sich die vermeintliche Zyste am Anus – von Schwester Eugenia wurden solche Patienten bei der Übergabe immer etwas respektlos als »wieder einer mit ‘nem Säuferpickel am Hintern« vorgestellt – als Botschafterin eines weit fortgeschrittenen Tumors, und dann wurde es sehr hektisch und ungemütlich. »Auf- und wieder zugemacht«, lautete der interne Kodex für hoffnungslos, wenn die Chirurgen nichts mehr ausrichten konnten, und wir versuchten dann, die Patienten möglichst schnell wieder loszuwerden. Wir waren eine chirurgische Station, und da gab es dann in so einem Fall ja nun einmal nichts mehr zu tun. Aber manchmal scheiterte die Abschiebung, dann mussten wir die Sache eben zu Ende bringen, und irgendwann wurde das Einbettzimmer fällig, damit die anderen Patienten nicht beunruhigt wurden und damit sich der Priester seinem fluchtunfähigen Opfer in Ruhe allein widmen konnte. Schließlich waren wir ein katholisches, klösterlich geführtes Krankenhaus.

Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin also dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt, weil Herr Böttger von Anfang an in einem Einzelzimmer lag, denn er war Erste-Klasse-Patient. Als solcher genoss er das Privileg, von Schwester Eugenia, unserer Stationsnonne, persönlich für die Operation rasiert zu werden ebenso wie von ihr die Wundversorgung am Anus zu bekommen. Ich weiß nicht, wie sehr er das zu schätzen wusste, als er eingangs auf allen Vieren auf seinem Bett knien und der Nonne den Hintern entgegenstrecken musste, damit diese ihm dann mit ihren gummibehandschuhten Fingern seine Backen so weit wie möglich auseinander schieben konnte.

Eigentlich also sollte nur der Säuferpickel wegoperiert werden. Herr Böttger war ein sehr vital wirkender 60-jähriger, ein Geschäftsmann, sichtlich wohlhabend, gebildet und humorvoll, ein echter Traumpatient, einer von denen, die für üppige Trinkgelder und wenig Ärger sorgen. »Wieso Säuferpickel?«, hatte ich Schwester Eugenia gefragt, denn wie ein Alkoholiker wirkte der vornehme Herr Böttger wirklich nicht, und der Zusammenhang zwischen Anuszyste und Alkohol war mir auch nicht ersichtlich, aber Eugenia klärte mich darüber auf, dass bei überzogenem Biergenuss der Stuhlgang häufig sehr flüssig würde, was auf Dauer eben verstärkt zu solchen Zysten führe, daran erkenne man es dann immer.

Dann war Herr Böttger auf- und wieder zugemacht worden, und jetzt wurden wir ihn nicht mehr los. »Es ist seltsam«, meinte Schwester Eugenia, »die Leute merken überhaupt nichts, kommen wegen irgendeiner Lappalie zu uns, dann finden wir den Krebs und in ein paar Tagen ist plötzlich alles vorbei, die kommen nicht mal mehr wieder raus. Als würde sich der Krebs, wenn seine Heimlichtuerei einmal aufgeflogen ist, provoziert fühlen. Oder als ob die frische Luft bei der Operation ihn erst richtig munter gemacht hätte.« Der Krebs von Herrn Böttger war jedenfalls richtig munter geworden, hat vermutlich einen Sauerstoffschock erlitten oder sich erschrocken, als die Scheinwerfer im Operationssaal ihn plötzlich geblendet haben, und jetzt machte er Ernst.

Herr Böttger wirkte merkwürdig gefasst, nachdem er das niederschmetternde Resultat erfahren hatte, seiner Frau fiel es schwerer. Sie war eine Hausfrau, die alles sehr gut im Griff hatte, als sie ihren Mann abgab. Die bei jedem Besuch an Blumen für die Schwestern oder Kuchen für uns Pflegepersonal dachte. Die anschließend immer zu irgendeinem Termin musste, zur Dauerwelle oder zum Tennis, oder der Gärtner kam, um einen Baum zu stutzen. Und jetzt lief plötzlich nichts mehr nach Plan, jedenfalls nicht nach ihrem, das CA, wie es auf unserer Station hemmungslos angekumpelt wurde, das Carcinom also hatte die Planung übernommen und scherte sich nicht um die Gartensaison und das Turnier am Wochenende. Frau Böttger gelang es nicht, sich auf die neue Situation einzustellen, sie wurde zerrieben bei dem Versuch, draußen alles reibungslos aufrechtzuerhalten und drinnen ihrem Mann angemessen beizustehen. Wir waren verblüfft, ihrem täglich rasant fortschreitenden Zerfall zuzusehen. Erst als die Ärzte ihr sagten, dass es jetzt wohl jeden Moment so weit sein könnte, gab sie ihr Doppelleben auf und stellte sich ganz dem bevorstehenden Ende ihres Mannes, dessen Wunsch nach einer Erweiterung des Steingartens inzwischen ja irgendwie auch irrelevant geworden war. Trotzdem verschob sie den Termin mit dem Gärtner nur auf nächste Woche.

Ich schob ihr ein zweites Bett ins Zimmer, »es ist ja nicht für lange«, wie Schwester Eugenia meinte, »und ihr Mann isst ja auch nichts mehr, das kann sie ruhig haben. Ist ja schließlich bezahlt.«

Es war dann aber doch für überraschend lange. Herr Böttger starb und starb einfach nicht. Seit vier Tagen schon war er nicht mehr ansprechbar, atmete nur noch ganz flach, eigentlich war man sich nie ganz sicher, ob er überhaupt noch lebte. Seine Frau war der Verzweiflung nahe, aber sie weigerte sich, Eugenias Rat zu befolgen und nach Hause zu gehen. »Wir rufen Sie doch sofort an, wenn irgendwas ist«, versuchte sie, sie wegzulocken, als wäre nicht klar, was nur noch sein könnte. Aber Frau Böttger blieb standhaft, sie wollte auf jeden Fall dabei sein, Rhododendronpflanzung hin oder her.

Der Zustand von Herrn Böttger stabilisierte sich knapp über Null. Am achten Tag schließlich meinte seine Frau am Nachmittag, sie müsse jetzt doch wenigstens einmal eine Nacht wieder zu Hause schlafen, noch mal könne sie den Gärtner auch nicht verschieben, der käme gleich. Schwester Eugenia bekräftigte sie in ihrem Vorhaben und versprach flüsternd erneut, dass wir uns sofort melden, wenn »etwas ist«. Alle flüstern immer, wenn Sie vor Sterbenden stehen. Ob man dadurch ruhiger entschläft? Ich glaube, mich wird es eher einmal sehr beunruhigen, wenn es so weit ist und ich als Letztes mitbekomme, dass alle nur noch wispern.

Ich hatte Nachtdienst. Gegen vier Uhr morgens war nichts mehr los auf der Station, ich ging zu Herrn Böttcher und legte mich in das Bett neben ihm. Ich hoffte, der blöde Pieper würde den Schnabel halten bis zum Morgen.

Ich wachte kurz vor sechs wieder auf. Der Schichtwechsel nahte, ich musste ins Schwesternzimmer. Ich sah kurz zu Herrn Böttger rüber. Der lag mit wachen Augen da und lächelte mir entspannt zu. Mir schnürte sich die Kehle zu. Hatte ich nicht mal so was gehört, dass Sterbende noch einmal, kurz bevor es dann wirklich vorbei ist, einen klaren Moment haben? Verdammt, dachte ich, bloß das jetzt nicht. Halt durch! Deine Frau ist in einer halben Stunde wieder hier! Bloß jetzt nicht ...

»Was guckst du denn so erschrocken? Hast du gedacht, ich wär‘ schon tot?«, fragte Herr Böttger lächelnd.

»Äh, nein, es ist nur ... Ihre Frau kommt gleich zurück, die müsste jeden Moment hier sein.« Ich rang mit mir, ob ich jetzt einfach wild auf ihn einreden sollte, sozusagen um ihn am Einschlafen zu hindern, es konnten nur noch Minuten sein, bis sie zurückkäme, andererseits schien es mir auch unpassend, ihn am Ende nicht mehr zu Wort kommen lassen, zu jenen womöglich letzten Worten. Wer weiß, vielleicht hatte er ja noch etwas Wichtiges zu sagen, oder etwas Schönes, und wäre aber zu schwach, sich gegen meinen aufgeregten Wortschwall durchzusetzen, vielleicht hatte er sich etwas wirklich Großes zurechtgelegt, und ich plapperte ihn mit den Saufgelagen in der Zivi-Küche voll – war das wirklich das, war er als Letztes hören wollte? Ich hielt den Mund.

Er sah mich an und wirkte sehr entspannt dabei: »Meine Frau ist nicht da?«

Mein Mund, mein Rachen waren schlagartig ausgetrocknet, mühsam brachte ich ein leises »Nein, aber sie kommt wirklich gleich wieder« heraus, verdammt, wo blieb sie denn, sie war doch sonst immer pünktlich, um halb sieben, hatte sie gesagt, um halb sieben ist sie zurück. Er lächelte.

»Und ich hatte schon befürchet, die bleibt die ganze Zeit hier sitzen, die kann wirklich zäh sein«, sagte er kichernd. Dann griff er plötzlich nach meiner Hand, drückte sie fest – und das war es dann. Irgendwie sieht man sofort, wenn jemand tot ist. Einen kurzen Moment spürte ich Panik in mir aufsteigen und wollte den Alarmknopf drücken – aber wozu? Und schließlich musste seine Frau jeden Moment wieder reinkommen. Ich betrachtete noch einmal seinen zufriedenen, fast glücklichen Gesichtsausdruck. Seine Hand ruhe fest in meiner. Ich entschied mich, gar nichts zu machen. Fünf Minuten später kam seine Frau herein. Noch ehe sie etwas sagen konnte, flüsterte ich ihr zu: »Ich glaube, es ist so weit«, sie stürzte heran, ich ließ los und ging.

Als ich gerade nach Hause gehen wollte, kam sie zu uns ins Schwesternzimmer. »Ich habe Brötchen für Sie alle mitgebracht«, flüsterte sie zu den Schwestern und stellte uns die Papiertüte auf den Tisch. Dann wandte sie sich mir zu: »Ist denn noch irgendwas gewesen? Hat er noch irgendwas gesagt?«

Ich sah sie kurz an. »Nein«, antwortete ich, »es ist nichts gewesen. Er hat nichts mehr gesagt.«

You have finished the free preview. Would you like to read more?