Schlimme Nächte

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Der Soundtrack meiner Jugend

Ahne war genervt. »Was für eine Scheiß-Musik«, schimpfte er.

Ich lauschte eine Weile: da war in der Alten Kantine der Kulturbrauerei wohl von der letzten Achtzigerjahre-Party noch eine CD liegen geblieben, die ein argloser Techniker jetzt vor dem Kantinenlesen eingelegt hatte. Ein Hit nach dem anderen, und irgendwie überkam mich eine angenehm sentimentale Stimmung. Ich ermahnte den zornigen Kollegen: »Sei doch nicht so herzlos. Scheiß-Musik hin oder her – das wurde früher bei uns immer gespielt! Da wird einem doch ganz warm ums Herz!«

Ahne schaute mich ungläubig an: »Dabei wird dir warm ums Herz? Das ist doch furchtbar.«

»Natürlich ist es furchtbar. Aber damals ...«

»Damals war das auch schon furchtbar«, zeigte Ahne sich unerbittlich.

»Ja, schon«, gab ich zu, »aber trotzdem ... Das war er eben, der Soundtrack einer Jugend in den Achtzigern in Westdeutschland. Es geht doch um Erinnerungen. Um Gefühle. Bei Musik geht’s doch immer zuerst um Gefühle!«

»Ich fühle mich aber schlecht, wenn ich solchen Dreck höre«, sagte Ahne. Ach, was wusste der schon. Die hatten im Osten ja schließlich gar keine Musik damals.

Für mich aber sind so viele schöne Erinnerungen mit diesen Hits verbunden. Scheiß drauf, ob die Songs gut sind! Es ist halt unsere Musik! Ich höre ja praktisch nie Radio und auch nie englischsprachige Musik, aber diese Lieder, die kannte ich alle. Weil sie eben damals liefen. Auf den ersten – huch, jetzt kommt ein Wort, bei dem ich sogar ein bisschen zusammenzucke – auf den ersten Feten. Eine Fete, das hieß: ein dunkler Raum. Und: Mädchen.

Ich fand das schrecklich. Die Musik sowieso. Aber die musste halt laufen, wenn man modern war. I am hai-ai-ai-ai-ai on Emotion. Ich dagegen hörte, wenn ich überhaupt was hörte, Reinhard Mey. Eigentlich hörte ich aber gar nichts, Musik interessierte mich überhaupt nicht. Das war mir – ich weiß auch nicht – zu modern. Genau wie die Sache mit den Mädchen. Das war mir auch zu modern.

Also, nicht, dass ich nicht durchaus Sehnsucht nach Annäherungen verspürte, das schon. Aber dass es für die Befriedigung dieses drängenden Bedürfnisses allen Ernstes nötig sein sollte, in einem dunklen Raum herumzuhoppsen und die Arme und Beine seltsam und unkontrolliert zu bewegen, das fand ich inakzeptabel.

Nun wollte ich mich sozial allerdings auch nicht völlig isolieren, also ging ich halt hin zu den Feten. Und suchte mir zielgerichtet die dunkelste Ecke im abgedunkelten Gemeindesaal, setzte mich dort hin und betrachtete missmutig das Geschehen. Wie die anderen zu dieser furchtbaren Musik tanzten. Und dabei rätselhafterweise irgendwie mit den Mädchen in Kontakt kamen. Und, das wusste ich aus den Erzählungen der anderen, dieser Kontakt wurde dann manchmal, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, auf eine Art und Weise fortgesetzt, die mich durchaus interessiert hätte. Aber deswegen wirklich jede Würde aufgeben? Und zu Big in Japan wild mit den Armen in der Mitte des Saals herumschlenkern? Nein! So groß war meine Verzweiflung nun doch wieder nicht. Das würde sich schon auch irgendwie anders ergeben.

Ich saß also in meiner Ecke und nippte Apfelsaft. Wenn sich versehentlich oder aus Mitleid mal einer der Klassenkameraden kurzzeitig dazu gesellte, versuchte ich, meine soziale Inkompatibilität mit ein paar sarkastischen Bemerkungen zu übertünchen. So galt ich bald schon als intellektuell, was mir einen gewissen Respekt in der Hackordnung sicherte. Später entdeckten wir dann den Alkohol für uns, und die Lage entspannte sich etwas. Jetzt musste ich nicht nur einfach so in der Ecke sitzen, sondern konnte dabei trinken. Damals galt es als cool, Bier zu trinken. Und als sehr cool, sehr viel Bier zu trinken. Eine Technik, die ich rasch erlernte und perfektionierte. Zwar konterkarierte ich den Eindruck der Coolness empfindlich mit meiner Kleidung, die nach wie vor ausschließlich meine Mutter für mich aussuchte, und zwar nach den Geschmackskriterien, die bürgerliche Mittfünfziger-Hausfrauen einer gut situierten westdeutschen Vorortsiedlung an die Begriffe »schick« und »jugendlich« anlegten, was ziemlich genau das Gegenteil von dem war, was unter den Jugendlichen derselben Vorortsiedlung als schick und jugendlich galt. In meinem Fall bedeutete das: Cordhose und bunt gestreifter Nicki. Was meine selbstverständlich Jeans tragenden Mitschüler erstaunlicherweise wiederum als Ausdruck meines Intellektuellentums missinterpretierten, erst recht in Kombination mit meiner Verweigerung, beim Tanzvergnügen mitzumachen, was ich wiederum mit immer zynischeren Kommentaren auszugleichen versuchte. Wenn ich heute manchmal gefragt werde, wie man eigentlich dazu kommt, Satiriker zu werden: so geht’s. In der Ecke sitzen, zugucken, trinken – dann läuft es eigentlich ganz von allein.

Andererseits: Sie machten es einem ja auch wirklich nicht schwer. Wenn eine Horde Fünfzehnjähriger mit von tiefem Empfinden gezeichneter Miene und nach oben gereckter Faust über die Tanzfläche hoppelt und dazu grölt: Verdamp lang her, verdamp lang, verdamp lang her. Oder wenn eine Gruppe von Arztsöhnchen und Anwaltstöchtern mit adretten Scheiteln und steifkragigen weißen Hemden unter den V-Ausschnitt-Strick-Pullovern wie in Extase brüllt: Born to be wild. Oder wenn sich am Ende einer Fete alle umfassen, um gleichgeschaltet und mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen zu singen: Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt. Bevor dann um neun Uhr abends das Licht angeht und Mutti vor der Tür im Wagen wartet, um den Nachwuchs nach Hause und ins Bett zu bringen. Was könnte man dazu groß sagen, ohne zum Zyniker zu werden?

Wirklich nachvollziehbar wirkte die Begeisterung nur, wenn Herbert Grönemeyer erklang: Kinder an die Macht! Ich war damals schon dankbar, dass kein auch nur halbwegs bei Sinnen stehender Erwachsener diesen Quatsch in die Tat umzusetzen gedachte. Auch bei Männer aus gleichem Hause wirkte das Mitsingen glaubwürdig: Wann ist ein Mann ein Mann? – das dürfte unterm Strich die vielleicht entscheidende Frage für die meisten Jungs gewesen sein, wenn sie morgens vor dem Spiegel ihre Haut, auf der sie so etwas wie die flaumige Ahnung von Bartkeimung ausfindig gemacht zu haben glaubten, wie besessen abschabten, weil irgendwer ihnen erzählt hatte, dass so die Entstehung von nachweisbaren Stoppeln beschleunigt werden könnte. Und Wann ist ein Mann ein Mann? haben sich fraglos auch alle gefragt, die misstrauisch allabendlich den Baufortschritt ihrer Schambehaarung und der Geschlechtsteile beäugten.

Vielleicht deswegen legte sich die allgemeine Grönemeyer-Begeisterung recht bald wieder. Dafür kam Marius Müller-Westernhagen. Während Herbert unter dem Verdacht stand, eher von uncoolen Typen gut gefunden zu werden, galt Marius als total wild und authentisch. Der Mann wurde rasch ein weiterer Grund, warum ich Feten hasste. Denn ganz und gar nicht lächerlich wirkte es, wenn fünfzig Teenager wie im Wahn herumsprangen und -hantierten, dabei wie die Schweine schwitzten und mit vor Verachtung bebender Stimme brüllten: Dicke schwitzen wie die Schweine / Fressen, stopfen in sich rin. / Dicke, Dicke, Dicke, Dicke – na du fette Sau?

Das war für mich als jemand, der dem Sujet des Liedes unangenehm nahekam, ohne jede Frage eine unangenehme Situation. Natürlich war das irgendwie anders gemeint, das war mir damals schon klar, irgendwas mit Vorurteilen vorführen und so – aber so oder so rückte der Song unweigerlich meine Statur ins Rampenlicht, und das gefiel mir schon mal gar nicht. Und erst recht gefiel mir nicht, dass die Situation mich zwang, mich aus meiner Ecke begeben und mithopsen zu müssen. Denn es war ja ohnehin klar, dass alle bei dem Lied an mich denken würden, und wenn ich dann sauertöpfisch in der Ecke sitzen bleiben würde, könnte ich Bier trinken und intellektuelle Sprüche klopfen, so viel ich wollte, es würde meinen sozialen Status nicht mehr retten. Sie hätten mir meine Souveränität nicht abgekauft, intellektuelle Textexegese hin, Vorurteile vorführen her. In dem Moment war ich einfach der Dicke. Was blieb mir also übrig? Also Angriff.

Ungelenk, unrhythmisch und übellaunig sprang ich also in die Menge hinein und kam mir dabei vor wie eines dieser Barbapapa-Männchen, nur dass ich hier nicht süßlich-klebrig von heiler Welt säuselte, sondern mit der Menge schrie: Dicke müssen ständig fasten / damit sie nicht noch dicker werden / und ham sie endlich zehn Pfund abgenommen / ja dann kann man es noch nicht mal sehn, und wie einer dieser furchtbaren Hüpfbälle, auf denen wir immer durch die Turnhalle hopsen mussten, schlug ich eine Schneise durch meine zunehmend etwas verängstigten Mitschüler, die auch nicht so recht wussten, was sie von der Situation nun halten sollten. Aber ich sprang enthemmt durch den Saal und brüllte jedem, der sich nicht schnell genug wegducken konnte, hysterisch ins Ohr: Und darum bin ich froh, dass ich kein Dicker bin! Denn Dicksein ist ne Quälerei! Ich fühlte mich unwohl, aber ich wusste, ich musste es durchziehen. Ich bin froh, dass ich so’n dünner Hering bin / denn dünn bedeutet frei zu sein, schrie ich den verunsicherten Mitschülern ins Gesicht und bewegte mich dazu so energisch wie im Sportunterricht der gesamten Mittelstufe nicht, Dicke ham’s so schrecklich schwer mit Frauen / Denn Dicke sind nicht angesagt / drum müssen Dicke auch Karriere machen / Mit Kohle ist man auch als Dicker gefragt, blaffte ich den Mädchen ins Gesicht, mein Gesichtsausdruck bekam etwas Wahnhaftes, ich donnerte weiter wie eine Abrissbirne von einer Seite des Gemeindesaals zur nächsten, meine Mitschüler brachten sich zunehmend in Sicherheit. Als der beschissene Song endlich zu Ende war, sahen mich alle ein wenig furchtsam, aber auch erkennbar respektvoll an.

Außer Peter. Der war immer schon etwas schlicht gestrickt, halt einer von denen, die im Sport gut waren. Seine ganze Reputation zog er aus diesem Umstand, ansonsten hatte er wegen erwiesener Vollpfostigkeit keinen allzu guten Stand. Er guckte mich nur verwundert an: »Aber du bist doch selber dick?« »Das ist Ironie, du Vollidiot, der Song ist ironisch!«, fuhr ich ihn an. Er schaute nur verständnislos, und dann sagte er es: »Was ist denn daran bitte schön ironisch? Das stimmt doch alles!«

 

Ich sah ihn kurz fassungslos an, dann schlug ich zu. Er war so überrascht, dass er, vermutlich eher vor Schreck als durch meinen wenig professionellen geführten Kinnhaken, zu Boden ging. Mitschüler quiekten und giggelten, sofort stürzten sich einige auf uns und zogen uns auseinander, und jetzt ging auch gleich das nächste Lied los: The Final Countdown. Na also. Ich tanzte weiter. Mein Ruf als Intellektueller hatte womöglich etwas gelitten, aber in der Klassenhierarchie war ich eindeutig ein paar Stufen aufgestiegen. Zum Glück war Peter nicht nachtragend. Trotzdem ließ ich nach diesem Vorfall die nächsten zwei oder drei Feten ungenutzt verstreichen.

Aber irgendwann musste ich ja doch wieder hin, es half ja nichts. Also saß ich wieder in meiner Ecke und lästerte. Tobias mochte mich wegen meiner Kommentare und respektierte mich wegen meines Trinkvermögens, er erkannte aber, dass die Sache mit den Mädchen noch suboptimal lief und redete auf mich ein. Ich müsse halt auch mal wieder mittanzen. Aber vielleicht anders als beim letzten Mal. Am besten – huch, noch so ein Wort, bei dem ich heute ein bisschen zucken muss – am besten sollte ich einfach mal schwofen.

»Los jetzt«, zischte er mir ins Ohr, als Forever young ertönte. »Frag Jana, ob sie mit dir schwoft!«

Ich wollte lieber in meiner Ecke sitzen bleiben. Einerseits. Andererseits: Mit ausgerechnet Jana sprach er aber auch wirklich mal was an. Mit der hätte ich ja sehr, sehr gerne mal was zusammen gemacht. Also: nicht schwofen, natürlich, aber die Erfahrung der letzten Monate hatte mir gezeigt, dass von alleine ansonsten auch nicht so recht was begann.

Andererseits: Und wenn sie nein sagt? Ich fühlte mich ebenso hilflos wie zunehmend panisch, nachdem Tobias mir erneut in die Seite boxte. »Und wenn sie nein sagt?«, fragte ich ihn also. »Ach was, die sagt nicht nein.«

»Und was soll ich dann machen? Ich kann das nicht!«

»Meine Güte, ist doch nur Schwofen. Da muss man nichts machen. Das geht ganz von allein. Hör einfach auf die Musik, beweg dich ein bisschen, und vor allem: halte sie in deinen Armen. Die führt dich schon irgendwie. Das ist alles. Das kann jeder. Das kann sogar Hannes, Mensch!« Das saß. Hannes war modisch auf einem ähnlichen Level wie ich, in Sachen Mädchen wohl auch, aber er hatte ein paar wichtige andere Aspekte vernachlässigt. Er trank weiterhin nur Apfelsaft und sagte nie etwas Lästerliches über seine Mitschüler, sondern versuchte einfach, dazuzugehören. Weshalb er eben nicht dazugehörte, sondern einfach als doofer Außenseiter galt. Und selbst der, das stimmte allerdings, selbst der schaffte es immer mal wieder, mit einem Mädchen zu schwofen, wenn dieses sich danach auch meist albern kichernd davonmachte. Aber immerhin.

»Na los, frag sie. Mach schon, jetzt, das ist das richtige Lied.« Gut, also, was soll’s. Schwofen wir halt. Die Flying Pickets. O Gott, das ist ja noch furchtbarer. Da-da-da-da, da-da-da-da – jetzt oder nie, also hin zu ihr – Da-da-da-da, da-da-da-da – »wollen wir zusammen tanzen?« Da war es raus. Guck mal, ist ja gar nichts bei passiert. Vorher war ich mir nicht sicher gewesen, ob in dem Moment die Musik aus- und das Licht angehen und irgendwer laut rufen würde: »Ha! Heiko hat Jana gefragt, ob sie zusammen tanzen wollen. Zu den Flying Pickets. Ha-ha!« Aber nichts: Die Musik ging einfach weiter, die anderen torkelten eng umschlungen über die Tanzfläche, und Jana lächelte mich freundlich an und sagte: »Klar, gerne.« Ich war verblüfft. Das war ja einfach.

Und dann schwoften wir also. Am Anfang war ich noch sehr unsicher. Ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich machen sollte, ich hatte kein Gefühl für Takt und keines für Bewegungen. Aber Tobias hatte Recht. Es ging irgendwie. Sie führte mich. Und wir bewegten uns tatsächlich. Irgendwie. Wir hatten sogar Körperkontakt! Ich war völlig benommen, aber ganz klar: Wir berührten uns. Einfach so! Da-da-da-da, da-da-da-da. Zunehmend fühlte ich mich sicherer, na also, das ging doch ganz gut, vielleicht war ich ja sogar ein begabter Tänzer, ein Naturtalent, wer weiß das schon, ich hatte es ja noch nie probiert. Ich wurde mutiger und traute mich sogar noch näher an sie heran. Natürlich nicht zu nah, das war ja klar. Und dabei einfach versuchen, irgendwie mitzuhalten, dabei möglichst gefühlig in ihren Armen die Richtung zu erahnen, in die es mit den nächsten Takten gehen sollte. Da-da-da-da, da-da-da-da. Am Ende des Liedes lächelte ich ihr schüchtern zu und flüchtete rasch zurück in meine Ecke. Wir wollen’s ja nicht gleich übertreiben. Tobias saß da und erwartete mich. »Und?«, fragte ich ihn stolz. Ich war sehr zufrieden mit meiner Premiere.

»Na ja«, antwortete er etwas zögerlich, »fürs erste Mal vielleicht ganz okay ...« Oha. Das klang aber nicht nach überschäumender Begeisterung. Hatte ich mein Naturtalent doch etwas überschätzt?

»Äh, wieso fürs erste Mal?«, fragte ich.

»Na ja«, antwortete Tobias, »es ist ... also ... zum einen: Es ist schon richtig, dass sie dich führt, aber es wäre trotzdem besser, wenn du dich zusätzlich auch noch selbstständig bewegen würdest.« Ich war irritiert. Was meinte er bloß? »Also: Der Sinn beim Schwofen ist eher nicht, dass sie dich durch den Raum trägt, verstehste? Und außerdem«, fügte er an, »wäre es auch besser, wenn du dabei nicht steif wie ein Brett bliebest, du kannst theoretisch sogar auch deinen Oberkörper bewegen, verstehste?« Ich nickte sicherheitshalber vorsichtig. »Na ja, und schließlich ...«, Tobias zögerte, , »also: Vom Schwofen kann man nicht schwanger werden.« Ich schaute ihn verständnislos an. »Hä?« »Na ja, es ist irgendwie uncool, wenn du deinen Hintern so weit nach hinten rausstreckst, dass da noch bequem jemand zwischen passen würde, verstehste? Es ist schon so gedacht, dass sich auch die Hosen mal berühren dürfen, da passiert nichts. Das ist, äh, irgendwie sogar der Sinn beim Engtanz. Bei dir sah’s aber eher so aus, als hättest du lange Nadeln vorne an der Hose und würdest sie für einen Luftballon halten, den du nicht zum Platzen bringen wolltest, verstehste?«

Vorsichtig schaute ich zu Jana rüber, die mit einigen Freundinnen zusammenstand. Gemeinsam gackerten und kicherten sie ausgelassen über irgendwas. Beziehungsweise wohl eher: über irgendwen. Oh, verdammt.

»Na, ist nicht so schlimm, fürs erste Mal, wie gesagt, schon ganz okay«, versuchte Tobias mich zu beruhigen.

Ich aber holte mir ein neues Bier und blieb den Rest des Abends unbeweglich in meiner Ecke. Und hielt es bei den nächsten Feten auch so, es galt, diese Schmach vergessen zu machen. Immerhin: Es gelang mir in den folgenden Monaten, meinen Ruf als zynischer Intellektueller deutlich zu festigen. Von Jana hielt ich aber lieber einen ordentlichen Sicherheitsabstand.

Da-da-da-da, da-da-da-da.

»Boah, das ist ja echt nicht zum Aushalten!«, schimpfte Ahne.

»Mann, da hängen doch so viele Erinnerungen dran. An die Jugend! Wie schön das damals alles war! Bei Musik geht’s doch immer zuerst um Gefühle!«, redete ich auf ihn ein.

Ahne sah mich misstrauisch an. Er glaubte mir nicht.

Aber die hatten ja sicher auch gar keine Musik damals, die da drüben im Osten.

Interrail machen

Wir konnten es kaum abwarten bis zu den Sommerferien. Ralf und ich waren gerade sechzehn geworden, und das bedeutete: Wir waren alt genug, Interrail zu machen.

Interrail machte man. »Machst du Interrail in den Sommerferien?« – »Natürlich mache ich wieder Interrail, ich habe ja letztes Jahr auch schon Interrail gemacht.« Interrail machen – das war die Chiffre für Abenteuerurlaub, Freiheit, Erwachsensein. Autofahren durften wir noch nicht, Fliegen war generell viel zu teuer, Bahnfahren eigentlich auch, aber Interrail, das ging. Ein Bahnticket, das es einem erlaubte, vier Wochen lang sämtliche Züge in fast ganz (West-)Europa kostenlos zu benutzen, ohne jegliche Einschränkung. Und das zu einem erstaunlich günstigen Preis. Interrail war für fast jeden finanzierbar. Wer sehr wenig Geld hatte, lebte halt ganz in den Zügen. Und galt damit zudem als ausgesprochen cool. Wir hatten mit leuchtenden Augen die Geschichten gehört davon, wie sie einfach abends zum Bahnhof gegangen und in den nächsten Nachtzug gestiegen sind, ganz egal, wo der hinfuhr, Hauptsache: Er fuhr durch bis zum nächsten Morgen. Wir hörten von Travellern, die in den Gepäckablagen in den Abteilen schliefen, wir hörten von Geschlechtsverkehr auf Zugtoiletten und davon, wie in Großraumwaggons Freundschaften in alle Teile Europas geschlossen wurden.

Unsere Eltern waren weniger angetan. Sie mochten es generell nicht, dass wir herumreisen wollten, sie hätten es lieber gesehen, wir wären einfach wieder auf einen Zeltplatz in Holland gefahren, so wie letztes Jahr. Herumreisen, das war ihnen suspekt. Trampen war uns kategorisch verboten, man sah ja bei Aktenzeichen XY ungelöst allmonatlich, was dabei herauskommt. Der Bahn, die damals ja noch Bundesbahn hieß und auch ein wenig die Aura einer rollenden Behörde hatte, war da ein gerade noch akzeptabler Kompromiss. Dabei, und das war für uns das Verlockendste, galt Interrail sogar in Marokko. Das war unser Plan. In Münster in den Zug steigen, und dann direkt durch Frankreich und Spanien bis nach Marokko. Wir waren zwar außer in Holland noch nie zuvor in Europa unterwegs gewesen, so gesehen wäre alles neu gewesen, aber Marokko, das klang halt doch noch mal ganz anders, das war Afrika! Exotisch, eine fremde Welt, da gab es eine richtige Wüste und wirkliche wilde Tiere, Dromedare etwa oder Dornschwanzagamen, und eine andere Kultur, Basare und Beduinen. Da wollten wir hin.

»Auf keinen Fall!« Da waren unsere Eltern sich ungewohnt einig. Marokko, das war Afrika. Dritte Welt. Elend. Kriminalität. Bürgerkrieg. Die würden einen nur ausrauben und schließlich gegen Maultiere in irgendein Arbeitslager verkaufen. »Aber Papa, warum sollten die uns in ein Arbeitslager verkaufen, wir können doch gar nichts, das sagst du doch selbst immer.«

»Außerdem hassen die uns, wegen dem Krieg. Wegen dem Rommel, dem Wüstenfuchs. Das ist nämlich einer der Guten gewesen, der konnte richtig Krieg führen, der verstand was davon!«

»Aber Papa, wir haben den Krieg doch verloren.«

»Ja, aber in Nordafrika hätten wir ihn gewinnen können. Weil der Rommel so gut war, und deshalb hassen die uns. Und außerdem: Da ist es sehr schmutzig. Da wird man krank vom Essen.« Es hatte keinen Zweck.

»Dann fahren wir halt nach Spanien.« »Auf keinen Fall!« Da waren unsere Eltern sich ungewohnt einig. Die Argumentation verlief ungefähr analog, ebenso bei Italien und Griechenland. Insgesamt, das war klar, war der kriminelle und unhygienische Süden einfach zu gefährlich für uns.

Wir einigten uns schließlich auf Irland und England. Vor allem angesichts des Arguments vom Essen, das einen krank mache, war das natürlich eine eher bizarre Wahl, aber gut. Leichte Vorbehalte gab es zwar auch, wegen dem Krieg, aber mein Vater war in englischer Gefangenschaft gewesen und hatte die Tommys, wie er sie zu nennen pflegte, als einigermaßen faire Gefangenschaftsgastgeber empfunden. Außerdem waren sie in Münster unsere persönlichen Besatzer, unser Wohngebiet war direkt eingekeilt zwischen der Kaserne und ihren Reihenhäusern, da hatte man über die Jahre Zeit gehabt, sich aneinander zu gewöhnen. Über Irland wusste ohnehin niemand etwas, das galt gemeinhin als abgeschieden, ruhig und unproblematisch. Und mein Vater mochte den Whiskey von dort.

So machten wir also Interrail auf die britischen Inseln. In Sachen Exotik und Wetter zwar eine herbe Schlappe für unsere Urlaubsplanung, verheißungsvoll war es aber trotzdem. Dass wir dafür durch Frankreich mussten, um mit der Fähre von Le Havre nach Cork überzusetzen, behielten wir lieber für uns.

Es wurde eine aufregende und schöne Reise. Zurück ging es über London, wo wir in einem internationalen Jugend-Zeltlager unterkamen. Im Prinzip wie eine Jugendherberge, nur in Form großer Zelte, mit Feldbetten. Abends gab es Grillfeste und Lagerfeuer. Ralf und ich feierten unsere letzte Nacht. Am nächsten Tag würde es über Dover zurück aufs Festland und dann direkt nach Münster gehen, unser Interrail-Ticket lief ab.

 

Wir saßen an einem der großen Tische, die überall aufgestellt waren, und kamen ins Gespräch mit den anderen Jugendlichen. Eine vielleicht zehnköpfige Gruppe junger Männer aus Marokko. Die auch Interrail machten. Wir erzählten ihnen, dass wir zuerst überlegt hatten, nach Marokko zu fahren. Die Gründe, warum wir uns dann doch anders entschieden, unterschlugen wir lieber. Sofort hatten die Jungs, die vielleicht so um die zwanzig waren, uns freundlich in ihre Mitte aufgenommen. Sie boten uns von ihren Getränken und ihrem Essen an, alles war sehr fremd für uns, wir waren begeistert. So gab es zum Abschluss unserer Reise doch noch einen Hauch der ursprünglich erhofften Kontakte mit aufregenderen Ländern und Kulturen.

Es gab auch Bier, und bald schon stießen wir auf unsere Völkerfreundschaft an, tauschten Adressen aus, und wir versprachen, dass wir im nächsten Jahr dann aber wirklich Interrail nach Marokko machen würden. Ob das denn auch wirklich ungefährlich für uns sei, fragte ich behutsam. Ja, ganz bestimmt, beruhigten unsere neuen Freunde uns. Marokko sei ein friedliches, gastfreundliches Land. Da habe niemand etwas zu befürchten. Und wir ganz bestimmt nicht, denn schließlich seien wir doch Deutsche! Da würden wir überall in Marokko mit offenen Armen empfangen.

Ralf und ich sahen uns erstaunt an. Da hatten wir ja nun schon ganz anderes gehört. Warum werden wir als Deutsche mit offenen Armen empfangen, fragte ich also vorsichtig. Wegen dem Fußball, rief sofort einer. Die Deutschen sind die Besten im Fußball! Wir lachten und empfahlen, diese Einschätzung hier in England vielleicht lieber nicht so laut zu vertreten. Und wegen Hitler natürlich, riefen unsere neuen Freunde fröhlich. Ralf und ich sahen uns irritiert an. Was war das denn jetzt? Haben sie uns nur in Sicherheit gewogen, um jetzt doch mit uns abzurechnen? Würden sie uns verantwortlich machen für die Verbrechen, die in Nordafrika wahrscheinlich ja auch passiert waren? Und für den ganzen verdammten Krieg? Wir hatten ja im Grunde gar keine Ahnung davon, was dort damals passiert war.

Wir versuchten uns sofort in Verteidigung. Das sei doch schon so lange her, gaben wir zu bedenken, Deutschland heute sei doch ganz anders. Natürlich gebe es ein paar Unverbesserliche, aber die meisten Deutschen seien anderen Völkern gegenüber sehr aufgeschlossen. Ja, natürlich, rief einer der Marokkaner, mit dem Krieg hätten wir natürlich nichts zu tun. Darauf stießen wir erleichtert mit ihnen an. Aber, spann der Wortführer die Unterhaltung weiter, aber wenigstens hätte Hitler mal was gegen die Juden gemacht. Ralf und ich starrten ihn sprachlos an. War das eine Falle? Wir hatten ausgiebig im Unterricht die Gräuel des Holocaust durchgenommen, wir hatten Filme gesehen und Anne Franks Tagebuch gelesen, wir hatten leidenschaftlich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren dürfe und man den Anfängen wehren müsse, wir hatten gegen die Wahlerfolge der Republikaner protestiert, und nun das. Jetzt wollten sie uns dafür verantwortlich machen? Überschwänglich prostete unser Gegenüber uns zu, dann rief er: Deutsche und Araber, wir sind Freunde und werden immer Freunde sein! Weil wir gemeinsam gegen die Juden kämpfen! Die anderen aus der Gruppe fielen jubelnd ein, die Bierdosen tockten zusammen. Und mir wurde allmählich klar: Die wollten uns überhaupt keine Vorwürfe wegen der Vergangenheit unseres Landes machen. Die mochten uns wegen der Vergangenheit unseres Landes.

Auf eine solche Situation hatte uns in der Schule niemand vorbereitet. Judenhass – das kannten wir ausschließlich als deutsches Phänomen aus der dunklen Geschichte. Uns wurde sehr unwohl zumute. Aber, so versuchten wir noch ein letztes Argument, die Deutschen hätten doch im Krieg auch gegen sie, die Nordafrikaner, gekämpft? Ja, schon, aber das sei doch so lange her, das könnten sie uns heute doch nicht mehr vorwerfen. Was zählt, ist das Heute! Und da verbinde uns eben die Abneigung gegen die Juden! Prost! Auf die arabisch-deutsche Völkerfreundschaft!

Wir hätten widersprechen müssen. Wir hätten gehen müssen. Wir hätten irgendwas tun müssen.

Wir sagten nichts. Wir gingen nicht. Wir taten nichts. Wir saßen da, versuchten uns nichts anmerken zu lassen, wir ließen uns sogar, als wir dann doch ins Bett gehen wollten, noch zu einem weiteren Bier überreden, auf die deutsch-arabische Freundschaft. Trotz allem: Wir genossen die Herzlichkeit und Freundlichkeit unserer neuen Bekannten, wir waren auch ein wenig stolz, dass wir dieses exotische Abenteuer bestanden hatten. Das leidige Juden-Thema war längst vergessen. Wir bleiben in Kontakt! Wir schreiben Euch mal! Wir besuchen Euch!

Der Kater am nächsten Morgen fühlte sich stärker an als üblich. Wir packten unsere Rucksäcke und zogen los, Richtung Bahnhof. Wir hatten Interrail gemacht. Morgen würden wir wieder im übersichtlichen, ruhigen Münster sein.

Wir haben uns nie geschrieben. Im nächsten Jahr haben wir tatsächlich wieder Interrail gemacht. Diesmal nach Skandinavien.