SchriftZüge 14 eBook

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SchriftZüge 14 eBook

1  Schriftzüge Cover

2  Schriftzüge

3  Brandenburgische Literaturpreise 2021

4  Heidi Ramlow - Wo der Hund begraben liegt

5  Elisabeth Richter - Triff mich

6  Andreas Gößling - Barhoff & Umsetz

7  Ruth-Maria Thomas - Abgrund

8  Eva Strasser - Das Krokodil

9  Wolfgang Malischewski - Muttertag

10  Potsdamer Publikumspreise Nacht der Poesie 2019

11  Elke Hübener-Lipkau

12  Manfred Richter - Die Birke

13  Sonja Puras - Ganz in der Nähe

14  Potsdamer Publikumspreise Nacht der Poesie 2020

15  Tini Anlauf - Potsdamer lächeln nicht

16  Heidi Ramlow - 16. August 1946

17  Heinrich von der Haar - Mein Himmel brennt*

18  Potsdamer Publikumspreise Nacht der Poesie 2021

19  Thomas Frick - Hinter der Maske

20  Maik Altenburg

21  Iris Zimpel

22  Beiträge

23  Maik Altenburg 2

24  Ute Apitz - Rindviecher im Havelland

25  Jana Franke - carpe diem

26  Thomas Frick - Peter Penks Reise nach Potsdam - aus „LUNA 15“

27  Jens Grandt - Einmal die Eisberge sehen

28  Bettina Hampl - Goldkrone

29  Elke Hübener-Lipkau 2

30  Henry-Martin Klemt

31  Ursula Kramm-Konowalow

32  Rita Mahlendorf

33  Hans Markert

34  Christa Müller

35  Manfred Richter - Frenzels Rache

36  Susanne Rüster - Tschüs, Arbeitsagentur!

37  Heinrich von der Haar - Räppelchen

38  Essay

39  Bernd Kebelmann - Buchenwälder

40  Lesezeichen

41  Thorsten Purps - Editorial (E.T.A. Hoffmann) - Kultur schadet keinem Juristen*

42  Rezension

43  Jens Grandt - Neuerscheinung - Himmel und Hölle des Tangokönigs

44  SchriftZüge 13

45  Impressum


SchriftZüge 14

SchriftZüge

Brandenburgische Blätter für Kunst und Literatur

Herausgeber: Dr. Heinrich von der Haar

Im Auftrag des Literatur-Kollegiums Brandenburg e.V.

Potsdam 2021

Verehrte Leserinnen und Leser der SchriftZüge,

die Ausgabe 14 der Brandenburgischen Blätter für Kunst und Literatur erscheint nach der schweren Corona-Zeit, in der Autorinnen und Autoren nur eingeschränkt ihre literarischen Werke präsentieren konnten. Umso mehr dankt der Herausgeber allen Mitgliedern unseres Literatur-Kollegiums Brandenburg e. V. für ihre kontinuierliche Mitarbeit bei der Verbreitung der Literatur, dem Fördern der Leselust und der Pflege der Sprache. Wir danken auch den ­Bibliotheken, Buchhandlungen, Vereinen, Verbänden und Persönlichkeiten, die uns unterstützen. Nicht zuletzt dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburgs für die Förderung in dieser Zeit.

Das Literatur-Kollegium Brandenburg e. V. verlieh im Juli erneut den Brandenburgischen Literaturpreis, dotiert mit 500 Euro. Thema des diesjährigen Wettbewerbs war „Auf der Suche“. Aus fast hundert Einsendungen wählten die Jurorinnen und Juroren Hans Peter Roentgen, Andrea Schneider, Lena Schneider, Dr. Stephan Diller und Tini Anlauf sechs Texte aus. Die Autorinnen und Autoren wurden im Juni 2021 bei einer festlichen Preisverleihung geehrt. Im ersten Teil dieser Zeitschrift veröffentlichen wir unter Brandenburgische Literaturpreise 2021 die sechs Erstplatzierten des Wettbewerbs sowie eine Laudatio von Hans Peter Roentgen zum Gewinnertext von Heidi Ramlow.

Wir freuen uns, dass wir in der alljährlich in der Alexandrowka stattfindenden Nacht der Poesie jeweils drei Potsdamer Publikumspreise vergeben können. Wir dokumentieren hier die drei Preisträger jeweils vom ersten bis zum dritten Platz für die Jahre 2019, 2020 und 2021.

Anlässlich unseres 30jährigen Jubiläums, das wir im Jahr 2020 mit dreißig Lesungen unter der Überschrift Neue Perspektiven in dreißig Brandenburgischen Orten gefeiert haben, versammeln wir in der Rubrik Beiträge Geschichten und Gedichte unserer Mitglieder.

Ergänzt werden die SchriftZüge diesmal durch einen Essay von Bernd Kebelmann, ein Lesezeichen von Thorsten Purps und eine Rezension von Jens Grandt.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Dr. Heinrich von der Haar

Vorsitzender des Literatur-Kollegiums Brandenburg e. V.

Brandenburgische Literaturpreise 2021


Heidi Ramlow - Wo der Hund begraben liegt

Berlin, 1946.

„Hast du schon mal einen getötet?“, fragt Emil.

„Ick? Nee. Aber mein Vater. An der Ostfront. Viele. Tausend bestimmt. Und du?“

„Auch nich. Aber ich werde welche töten. Russen. Mindestens fünf, verstehst du?“

„Dit gloobste selbst nich. Russen sind stark.“

Paul nimmt einen Schluck Muckefuck aus der Feldflasche von Emil. „Schmeckt echt jut, wirklich“, lobt er ihn. „Und dit mit den Russen umbringen, dit is Quatsch. Wir haben doch Frieden. Ick hab richtig nette Russen kennenjelernt. Die waren ziemlich knülle und wollten, dass ick Wodka trinke.“

Sie schweigen eine Weile.

„Wollen wir schwimmen jehen?“, fragt Paul.

„Keine Lust“, sagt Emil. „Hab zu tun, verstehste? Ich muss innen Ostsektor.“

„Wat willste denn im Osten? Da liegt doch der Hund begraben.“

„Wat denkste? Russen umbringen, natürlich!“

„Du spinnst“, sagt Paul. „Aber – du hast Ahnung von Pflanzen, dit ist praktisch. Wie heißt das Unkraut, aus dem du Muckefuck jemacht hast? Wegwarte?“

Emil nickt.

„Und aus den Wurzeln haste dit jemacht, was ich eben jetrunken hab, echt?“

„Ja. Zichorien heißen die. Erst trocknen, dann rösten, dann mahlen, dann heißes Wasser druff.“

Sie liegen am Lietzensee und schauen in eine Trauerweide, deren Ruten dicht über dem Wasser sanft im Wind schaukeln. Emil verschränkt die Arme unter seinem Kopf und schließt die Augen. Unter den Armen ist sein Hemd zerrissen, gut belüftet, trotzdem stinkt er. Er weiß es. Ein Bad wäre dringend nötig.

Emil hat keine Freunde. Ist besser so. Seine dunkelblonden Haare schneidet er selbst. Er beißt sich durch. Andere hatten eine Mutter, die sich kümmerte. Emil musste sich selber kümmern, dabei ist er erst zehn.

Paul schlurft zum See runter. „Nun komm schon.“ Er spritzt mit Wasser und versucht Emil zu treffen, der sitzengeblieben ist und die Feldflasche in der Hand hält.

 

„Ich kann nich schwimmen.“

„Du hast es aber nötig. Du stinkst.“

„Selber nötig“, ruft Emil. „Ich geh nich in diese Brühe.“

„Brühe? Dit Wasser is klar. Brühe wird dit erst, wenn du drin bist.“

Paul lacht und hängt seine Schuhe an einen dicken Zweig, der in den See hineinragt, zieht sein Hemd und die Hose aus und hängt sie daneben.

Er hangelt sich an dem Ast entlang, baumelt an ihm und lässt sich in den See gleiten.

Emil hockt sich ans Wasser. „Das ist Leichenwasser“, sagt er auf einmal.

„Ick fühl mia ziemlich lebendig!“, grinst Paul und planscht. „Hier kannste stehen. Herrlich! Los, komm rein!“

„Oben auf der Wiese haben die Russen ihre toten Soldaten eingebuddelt. Weißt du?“, ruft Emil. „Mit Holzbohlen um jedes Grab. Ich hab´s genau gesehen.“

„Ja, und meen Nachbar hat die Bohlen jeklaut. Dit hab ick jesehen. Wer Bretter klaut und Gott vertraut, eine gute Laube baut.“

Paul kommt zurück ans Ufer und setzt sich triefend neben Emil.

Er erzählt ihm, dass letzten Sommer die Russen die Leichen wieder ausgegraben haben.

„Und ab damit nach Treptow, sagte mein Nachbar. Gloob mir.“

„Und wennse eine vergessen haben?“

Emil schüttelt sich.

„Jenau“, sagt Paul, „und nachts erschrecken sie kleene Jungen wie dich und deshalb willste sie alle umbringen.“

„Du schnallst ooch jarnüscht“, sagt Emil. „Als sie über meine Mutter her sind, verstehst du? In der Ruine. Und ich mich verstecken musste, hab ich sie beobachtet und mir die Fratzen gemerkt. Jede Nacht grinsen sie mich an. Die erkenne ich im Schlaf.“

Emil tigert durch die Stadt, in den Ostsektor, zu Fuß an Trümmer-

bergen vorbei und auf dem Trittbrett der Straßenbahn. Voll Entschlossenheit und Wut. Fünf sollen es sein. Fünf Soldaten, die er totmachen will, mit Muckefuck. Sein Entschluss steht fest. Er hat genug Eibennadeln getrocknet, zerstoßen und in den Rest vom Muckefuck geschüttet. Sein „Zichorienkaffee spezial“.

Ob er die Russen findet? Es gibt so verdammt viele von denen. Vielleicht sollte er sich am Brandenburger Tor rübermachen?

„Wenn ich zehn bin, räche ich dich!“, hatte er seiner Mutter geschworen. Letzten Monat war sein Geburtstag gewesen. Und Versprechen muss man halten.

Das Bild seiner Mutter quält ihn jede Nacht. Sie kam taumelnd in den Keller, in dem sie in den Ruinen Unterschlupf gefunden hatten. Blut lief an den Beinen runter. Sie weinte die ganze Nacht, wimmerte vor Schmerzen. Am nächsten Morgen wollte sie nicht in die russische Kommandantur und auch nicht in die Nehringschule, wo die Soldaten wohnten. Seine Mutter musste für sie putzen und die Pferde in der Turnhalle versorgen.

Über zwei Monate waren die Russen schon in Berlin. Einige in der Straße hatten weiße Bettlaken rausgehängt, als sie kamen. Viele Leute jubelten, andere fürchteten sich.

„Sie tanzen Krakowiak, trinken neunzigprozentigen Wodka und dann vergewaltigen sie unsere Frauen und Mädchen“, hörte er die alten Männer tuscheln.

Emil und seine Mutter verkrochen sich im Keller einer Ruine. Sogar eine Matratze hatte er besorgt. Er tauchte seine Hände in kalte Asche, nahm Wasser aus einem Eimer dazu und verschmierte das Gesicht seiner Mutter und ihre Haare. Grau und dreckig sollte sie aussehen, unappetitlich. Aber am nächsten Tag fanden die Soldaten sie, seine Mutter und ihn. Emil zählte fünf. Er versteckte sich hinter einer Mauer, während sie seine Mutter ...

Jedes Gesicht merkte er sich. Jedes dieser russischen Gesichter. Seine Mutter konnte sich nicht wehren, weinte nur noch leise. Das war jetzt über ein Jahr her. Mutter redete nicht mehr, sang keine Lieder mehr, streifte nicht mehr mit ihm durch die Natur, um ihm alles über Wildkräuter und Sträucher zu zeigen. Sie lag nur noch da.

Emil beobachtet den Übergang am Brandenburger Tor. Da beginnt der russische Sektor. Eine Soldatin regelt den Verkehr. Streng sieht sie aus. Mit einem Dutt. Emil muss sich unsichtbar machen. Auf der anderen Straßenseite stehen einige Iwans, acht oder neun. Sie lachen laut. Als eine Frau mit zwei Kindern die Straße überquert, schließt er sich ihr an. Er bleibt bei den Russen stehen, sie beachten ihn nicht. Er bietet ihnen seine Feldflasche an, aber sie jagen ihn weg.

Dann eben nicht. Es ist sowieso keiner von seinen Russen dabei.

Er geht die Linden entlang, weiter in den Osten rein, auf der Suche nach passenden Soldaten. „Nein, den lass ich leben“, überlegt er. „Den Übernächsten aber spreche ich an, ganz bestimmt.“

Doch auch ihn lässt Emil am Leben. „Hier sind zu viele Zivilisten“, denkt er. Sein Herz klopft. Er setzt sich auf einen Trümmerhaufen, beobachtet die Vorbeigehenden und die Fahrzeuge. Die Straßen sind jetzt frei geschippt, die Bombentrichter auf den Fahrdämmen zugeschüttet und geebnet. Löwenzahn treibt seine Blätter durch Schutt und Ritzen. Wie schön die gelben Blütenköpfe in der Abendsonne leuchten. Nein, er pflückt sie nicht. Nein. Auch wenn er Hunger hat. Aber einige junge Blätter entfernt Emil, wischt den Staub darauf an seiner dreckigen Hose ab und kaut sie genüsslich. Die Blätter schmecken herb und bitter. Jemand zeigt auf ihn. Keine Ahnung, was der will. Emil steht auf und geht in eine Seitenstraße. Hier war er noch nie, kennt sich nicht aus. Sieht sich um, keiner ist ihm gefolgt. Er ist bereit, bei jedem verdächtigen Verfolger in das schützende Dunkel der Ruinen zu springen.

Dämmerung legt sich über den Osten. Grau in Grau versinkt die Stadt. Emil überlegt, was er tun soll. Er muss zurück in den Westen zu seiner Mutter. „Aber ich habe es geschworen!“, sagt er zu sich selbst und drückt die Feldflasche an sich. In einigen Fenstern der zertrümmerten Häuser sieht er Petroleumlampen flackern. In der Ferne spielt ein Akkordeon. Zivilisten sind kaum auf der Straße. Emil kommt an einer Reihe Fenster vorbei, schwach beleuchtet sieht er im Innern Soldaten mit Frauen tanzen, Russenliebchen, wie die Leute sie nennen. Eng umschlungen kommt ein Pärchen aus dem Tanzlokal. Sie wiegen sich in den Hüften. Das Akkordeon wird schneller. Emil drückt die Nase an die Fensterscheibe und sieht zwei Russen, die aus der Hocke die Beine vor und zurückwerfen, dann geht der nächste in die Hocke. Wie geschickt sie tanzen! Schweiß tropft von der Stirn des Akkordeonspielers. Jemand packt Emil von hinten und schleppt ihn ins Lokal.

„Mal’chik! Mal’chik!“, brüllen alle und klatschten in die Hände.

Die Musik spielt. Emil grinst schief, einer nimmt ihm die Feldflasche ab, riecht am Muckefuck, probiert, reicht die Flasche weiter, spuckt aus, ein anderer geht in die Hocke und fordert Emil zum Tanz heraus.

Emil macht mit. Die Russen klatschen im Takt und feuern ihn an. Er kippt auf den Boden, lacht, wird hochgehoben und auf den Tisch gestellt. Seine Feldflasche macht weiter die Runde. Dann sieht er in der Ecke, wie drei oder vier von ihnen, sich über eines der Russenliebchen hermachen. Sie versucht, sich zu wehren. Keiner hilft ihr. Emil denkt an seine Mutter. Springt vom Tisch, reißt einem der Russen seine Feldflasche aus der Hand, als der gerade daraus trinken will und rennt hinaus. Rennt, rennt, rennt.

Außer Atem steht er irgendwo zwischen den Ruinen. Er schüttelt die Flasche. Fast leer. Wie viele waren es, die getrunken haben? Genug?

Er schüttet den Rest des Muckefucks auf den Boden. Eine Pfütze bildet sich. Emil wischt sich Tränen aus dem Gesicht, als ihn etwas Feuchtes anstupst. Es ist ein dürrer, klappriger, verlauster, hungriger Hund. Emil streichelt ihn, fühlt den warmen Körper. Gemeinsam schlafen sie in den Trümmern ein.

Drei Tage hat Emil den Paul nicht gesehen. Sie treffen sich wieder am Lietzensee.

„Und?“, fragt Paul. „Warste drüben? Haste ein paar Russen kaltjemacht?“

Emil zuckt mit den Schultern und legt sich in die Sonne.

„Erzähl doch mal, wie war´s im Ostsektor?“

„Da liegt der Hund begraben“, sagt Emil und denkt an den Streuner, der am Morgen tot in seinem Arm lag. Er hatte wohl die Reste aus der Pfütze aufgeschleckt.

„Hier. Lies mal.“ Paul reicht Emil die Abend-Zeitung.

„Die suchen nach ’m Mörder drüben, steht da. Der soll acht Russen mit Muckefuck vajiftet haben, nur eener hat überlebt. Da war wohl jemand schneller wie du. Sei nich traurig, dit nächste Mal schaffste dit ooch. Kommste mit zu mir? Ick hab echten Nescafé vom Ami. Schmeckt aber nich so jut wie dein Muckefuck.“

Heidi Ramlow arbeitete drei Jahrzehnte lang als Drehbuchautorin und Regisseurin für Erfolgsserien in ARD und ZDF (“Ehen vor Gericht”, “Verkehrsgericht“). 2015 gründete sie mit schwedischen und polnischen Autoren das Netzwerk »Grenzenlose Autoren«. 2019 wurde ihr Krimistück „Blutroter Waschgang“ im Berliner Kriminaltheater uraufgeführt.

Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bei den Mörderischen Schwestern, beim Syndikat und im LKB.

Aus der Laudatio von H. P. Röntgen, Juryvorsitzender, zum Gewinnertext von Heidi Ramlow

Die Erzählung ist ein Krimi, eine Jugendgeschichte, eine Nachkriegserzählung, wunderbar geschrieben, über einen Jungen, der in einer harten Zeit erwachsen werden will, über Rache und die Suche nach Gerechtigkeit.

Elisabeth Richter - Triff mich

Es gibt kein Foto von ihm, vielleicht ist dies der Grund, lange hinzuschauen und die mageren Auskünfte zu entschlüsseln, vielleicht ist es der Stallgeruch, den ich zu erkennen glaube. Er spricht Englisch und Französisch, er wird aus dem Westen sein, was zunächst nichts in mir auslöst, und doch bringen seine Sprachkenntnisse etwas in mir zum Klingen, und mir fallen die vielen falsch gesetzten Akzente in unserer Zeitung ein, die mich ärgern, und die Aufschrift auf dem Schirm einer Crêpes-Bude in der Stadt: „Crepés“ steht da zu lesen, und ich denke jedes Mal an das Wort „krepiert“ und verzweifle.

Der Mann bezeichnet sich sehr allgemein als selbstständig, verschweigt Beruf und Kinderzahl, gibt aber seine Religionszugehörigkeit preis, evangelisch, und sein Sternzeichen, Zwillinge. Immerhin ist zu erfahren, dass er 50 Jahre alt ist und groß, über 180 Zentimeter, und dass er braune Augen hat, wie schön, und dunkle Haare. Ich mag Haare, ich bin abhängig von Haaren auf Männerköpfen, damit sich in mir der Wunsch regen kann, hineinzufassen und weiter zu tasten, Stirn und Lippen und Hals.

Mich in dieser Partnerbörse anzumelden, war ein Impuls, der nach monatelangem Alleinsein wie eine Luftblase an die Wasseroberfläche trieb und zerplatzte. Ich füllte voller Eifer alle Fragen aus, als würde diese Gewissenhaftigkeit belohnt – gehen Sie gern ins Kino, welches sind Ihre Lieblingsbücher, welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen – und stellte ein Porträtfoto von mir ein, ein Foto, das mein letzter Freund vor einem Jahr von mir gemacht hatte, am Ufer der Elbe, ich stehe barfuß im Sand, aber das sieht man auf dem Foto nicht, man sieht auch nicht, dass ich mich mit dem Freund langweile, man sieht nur, dass ich gegen die Sonne blinzle und lache. Mein Gesicht auf diesem Foto ähnelt sehr wenig der Vorstellung, die ich von mir selbst habe, und darum finde ich es erträglich.

Nun stehe ich auf dieser Internet-Bühne, sichtbar für jeden:

Hier bin ich, Sonatine, 43 Jahre alt, Klavierlehrerin, 170 cm groß, braunäugig und dunkelblond, ich gehe gern ins Kino, der Film, der mir zuletzt am besten gefallen hat, heißt: Boxhagener Platz.

Er nennt sich Second-Chance, woraus ich schließe, dass er nicht nur ein Scheitern hinter sich hat, sondern auch über einen gewissen Witz verfügt.

Währenddessen laufen kleine Botschaften ein: Wir haben einiges gemeinsam, oder: Dein Foto gefällt mir, gefolgt von der Aufforderung: Triff mich im Chat. Die Männer geben sich erstaunliche Namen: ichwillnurdaseine und masterbohrer und schlingel, einer nennt sich robertredford, es gibt den klausi63 und den zausel und den knuddel. Ein seitensprungxxl schreibt mir, dass er gern erotische Erfahrungen mit mir austauschen möchte. Rechts auf der Seite tummeln sich all die altersmäßig passenden Männer, die gerade online sind, mit ihrem Pseudonym. Es ist ein wuselnder Haufen von Namen, dauernd tauchen neue auf, andere verschwinden, es sieht aus wie ein Mückenschwarm an einem heißen Sommerabend.

Guten Abend, schreibe ich, a second für Mr Second-Chance.

Er antwortet sofort. Klavierlehrerin sind Sie, schreibt er, ich wollte, ich könnte Klavier spielen.

 

Er ist Zahnarzt, ich verstehe, dass er nicht von seinen Patienten identifiziert werden will, er lebt getrennt, seine Frau ist vor zwei Jahren mit dem Nachbarn durchgebrannt, den sie immer morgens beim Einkaufen traf, ein Hausmann wie sie eine Hausfrau, da gab es Berührungspunkte. Er hat drei Kinder, die bei ihm leben, ich auch. Er arbeitet zu viel, das bringt sein Job mit sich. Wo ist seine Frau jetzt, ist er traurig, nein, erleichtert, und ich, wie es bei mir aussieht nach der Trennung.

Es geht wie von selbst, wir tanzen.

– Warum treibt sich eine Frau wie Sie in einer solchen Partnerbörse rum? – Das Gleiche frage ich Sie. – Mir fiel die Decke auf den Kopf, Job plus Kinder, da komme ich nie raus, ich geh auch nicht allein abends ein Bier trinken. – Ich auch nicht, ähnliche Lage bei mir. –

Ich sehe von meinem Fenster aus auf das Rathaus, er wohnt am anderen Ende der Stadt.

– Wo kommen Sie her? – Aus Göttingen. – Da hatte ich mal eine Freundin, ist lange her, die wohnte in der Roten Straße. – Ich um die Ecke, in der Burgstraße. Gab es damals noch das Geschäft vom Kiffer-Klaus in der Roten Straße? – Nein, sagt mir nichts. Aber Cron & Lanz in der Weender. – Mmmmh, der Baumkuchen. Nichts für arme Studenten. - Ich sehe den Mond oben über den Dächern. – Ich auch, antworte ich, es ist sogar derselbe Mond. – Seltsame Vorstellung, wir gucken jetzt beide den Mond an. – Das ist ein bisschen, wie wenn man einen gemeinsamen Freund hat, obwohl man nichts voneinander weiß. –

Mich macht das Alleinsein fertig, schreibt er, ich möchte wieder eine Frau spüren ... War ich jetzt zu direkt? Habe ich Sie verschreckt? Hallo, sind Sie noch da? – Nein, nicht verschreckt, ich höre nur die Sehnsucht heraus. – Haben Sie auch Sehnsucht, Sonatine?

Mein Herz klopft und ich zögere einen Augenblick.

Ja, tippe ich und halte die Luft an. – Wie schön, dass Sie das sagen. Geistreiche Leidenschaft, das wünsche ich mir. – Ja, schreibe ich, ich auch.

Wir tanzen, er gibt den Impuls zu einem Schritt, ich habe die Distanz verringert, wir liegen Brust an Brust wie bei einem Tango, ich fühle seine Wange an meiner, es ist spät, meine Stirn sinkt auf seine Schulter. Mein Herz klopft. Ich glaube, diesen Mann zu kennen, schon ganz lange zu kennen, so vertraut sind wir miteinander, es sind erst zwei Stunden vergangen, seit ich ihm die ersten Worte geschickt habe, es ist zwölf Uhr nachts, ich muss morgen früh wegen der Kinder um sechs Uhr aufstehen.

Wollen wir lieber Schluss machen für heute? – Ja, ist besser. Reden wir morgen weiter? – Ja. – Also, gute Nacht. – Gute Nacht. – Sind Sie morgen wieder da? – Ja, ich freu mich schon. – Ich mich auch, es war schön mit Ihnen. – Das finde ich auch. – Wir haben uns ziemlich weit aus dem Fenster gehängt, nicht? Bedauern Sie es, Sonatine? – Nein. – Ich auch nicht. Ich freu mich, wenn wir weiterreden morgen.

Es geht noch eine Stunde lang, dann noch eine halbe. Wir können uns nicht trennen. Wir wollen nicht wieder zur Erde zurück, wir schweben losgelöst im Weltraum. Um Ade sagen zu können, muss ich seinen Namen wissen, damit ich mich daran festhalten kann. Michael, schreibt er, und Sie? – Christina.

Danach sitze ich vor dem erloschenen Bildschirm des Computers wie vor einer erkalteten Feuerstelle. Ich weiß, dass ich nicht werde einschlafen können, ich habe einen Jetlag, denn gerade erst bin ich von einem Ausflug zur Milchstraße zurückgekommen, die Erde hat sich unter mir weitergedreht, aber nur wenig, messbar in drei oder vier Stunden nach unserer Uhr, während ich eine unendliche Weile ihrer Schwerkraft entwichen war. Ich habe dort einen fremden Stern gestreift und trage noch seinen Staub an mir, den ich einatme. Wir sind miteinander geflogen ohne Raum und Zeit, aber nun spüre ich meine eigene Schwere, als sei mein Körper mit Gewichten beladen.

Bist du da, Christina, fragt er am nächsten Abend.

Den Tag habe ich überlebt wie jeden anderen, die Kinder geweckt, Schulbrote geschmiert und heute dabei an die vergangene Nacht gedacht wie an einen heimlichen Liebhaber, ich habe zum ich weiß nicht wievielten Male den Fingersatz einer Goldberg-Variation verändert und mir danach Schuberts Impromptu in Ges-Dur vorgespielt, um meine Nerven ruhig zu halten. Erst die Klavierschüler am Nachmittag brachten mich mit ihren gewöhnlichen kleinen Aufregungen wieder ins Fahrwasser der Zeit.

Hallo, antworte ich. – Wie war dein Tag?, fragt er.

Er duzt mich, gestern haben wir uns gesiezt.

Ich habe Schubert gespielt und Klavierschüler gehabt. –

Ich habe schlecht geschlafen. – Ich auch, mir ging unser Gespräch im Kopf rum, ich konnte nicht abschalten. – Du hast mir eine schlaflose Nacht beschert, Christina. Bist du noch da? Bin ich wieder frech? - Ich will, dass er frech ist. Aber auf einmal muss ich wissen, wie er aussieht, damit es weitergehen kann.

Ich warte auf das Foto, er wartet auf meinen Kommentar. – Na jaaaa, schreibt er kokett.

Er ist ein schöner Mensch, seine Haare sind voll, sein Gesicht ist schmal und er schaut aus klugen Augen. Ich falle in diese Augen hinein und weiß nicht weiter. – Und?, fragt er. Ich möchte schreiben: Du bist schön. Stattdessen schreibe ich: Das Foto gefällt mir, du siehst jung aus. – Du aber auch, wie alt ist das Foto? – Vom letzten Jahr. – Meins auch.

Ich stelle mir vor, wie der Mann, der dieses Gesicht trägt, in seiner Wohnung sitzt. Er ist allein in seinem Zimmer, seine Augen, die ich jetzt kenne, schauen aufmerksam auf den Bildschirm, auf mich, er ist bei mir, wir sind zusammen unterwegs, Nachtschwärmer. Über uns steht der Mond.

Magst du mal mit mir ins Kino gehen?, fragt er.

Ein freudiger Schreck fährt mir ins Herz: Wir werden uns sehen! Aber schon wird die Angst laut vor all der Schwere, die uns bevorsteht, dem Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken, den größeren und kleineren Schritten, und wie der Andere dabei mithalten kann. So wie wir einander Namen und Gesicht gezeigt haben, werden wir uns selbst preisgeben, wir haben angesetzt zum Landeanflug. Ich werde nicht von ihm enttäuscht sein, aber ich weiß, dass wir von vorn beginnen und unsere Vorstellungen wegwerfen müssen. Meine Sehnsucht, papierne Hülle um ein Nichts, wird zerreißen, und mein Bild von ihm als einem fernen nächtlich schimmernden Planeten, der ruft und lockt, wird im Licht verschwinden wie ein Traum. Vielleicht tauge ich nicht mehr für das richtige Leben, und vielleicht hat er sich an die Grenzenlosigkeit der Begegnungen gewöhnt, daran, zu einer Fremden von der Sehnsucht zu sprechen, einer Fremden, an der er am nächsten Tag auf der Straße unerkannt vorbeigehen wird.

Bist du noch da, fragt er, wie wär’s mit Kino?

Ich möchte mit ihm ausgehen, Nacht für Nacht, mit ihm Hand in Hand am Himmel unterwegs sein und das Leben träumen. Aber wir sinken bereits hinab.

Ja gern, bald, schreibe ich und spüre mein Herz wie einen schmerzenden Klumpen.

Elisabeth Richter lebt in der Prignitz.

Studium der Pädagogik und Soziologie. Berufsjahre als Buchhändlerin, Internatslehrerin, Journalistin, Paartherapeutin. Autorin von Kurzgeschichten, Veröffentlichungen u.a. im MAGAZIN.