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Inhalt

Hedwig Richter Wild wählen Zur Geschichte konkurrierender Deutungen von Wahlen in den USA

Die Autorin

Impressum

Hedwig Richter

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Zur Geschichte konkurrierender Deutungen von Wahlen in den USA

Die Frage, ob eine Wahl »falsch« sei, hängt wesentlich davon ab, mit welcher Funktion die Stimmabgabe verbunden wird. Zu den gerne übersehenen Funktionen gehört neben der Partizipation und Selbstbestimmung auch die Disziplinierung der Bevölkerung. Tatsächlich lässt sich die schillernde Doppeldeutigkeit von Freiheit und Disziplinierung finden, seit es Wahlen mit einem Anspruch auf »Allgemeinheit« gibt, also etwa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Denn das Recht auf Selbstherrschaft dient nicht zuletzt der für den modernen Staat immer wichtiger werdenden Inklusion der Bevölkerung in das Staatsgeschehen und in die Politik. So wirkt etwa die Erfassung der Wahlberechtigten (zunächst in aller Regel der besitzenden weißen Männer), ihre Zählung, aber auch der Akt des Wählens wie eine Einübung moderner Herrschaftstechniken. Doch allein das Recht auf Partizipation und die Idee der Selbstherrschaft trugen wesentlich zur Inklusion der Bevölkerung in den Staat bei. »Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen«, schrieb der französische Aufklärer Joseph Michel Antoine Servan im Jahr 1767. Dieses Band sei umso stärker, als die Menschen es für ihr »eigenes Werk« hielten.1 Hier wird ein gewichtiger Teil des Nationsbildungsprozesses und der Entstehung moderner Herrschaftslegitimation deutlich. Der disziplinierende Effekt zeigte sich nicht zuletzt an der eher skeptischen Haltung der Bevölkerung, an der niedrigen Wahlbeteiligung von häufig unter 50 oder gar 30 Prozent in vielen Ländern – und an der Wahlpflicht, die einige Regierungen installierten.

Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts dehnte sich das Stimmrecht im nordatlantischen Raum weiter aus und seine »Allgemeinheit« oder »Universalität« umfasste immer mehr Männer. Diese schrieben den Wahlen neue Funktionen zu. Mit ihnen gewann die Idee von Wahlen als Ausdruck des eigenen politischen Willens zunehmend an Bedeutung. Die Abstimmungen wurden kompetitiver – bei aller nationalen und regionalen Vielfalt. Dass beispielsweise einflussreiche Familien innerhalb des Klans Wahlämter regelrecht vererbten, ein Phänomen, das sich von Neuengland bis nach Hamburg zog, wurde seltener.2 Weitere Funktionen traten in den Vordergrund. Der Stimmenkauf spielte in einigen Ländern eine wachsende Rolle. Er war kein unbekanntes Phänomen, doch nun blühte die Korruption in einem ganz neuen Umfang auf und signalisierte ebenso wie eine steigende Wahlbeteiligung das wachsende Interesse der Akteure am Wahlgeschehen. Die Frage, wer »richtig« und wer »falsch« wählte, wurde intensiv ausgefochten. Doch die disziplinierende Funktion von Wahlen blieb bestehen.

Dabei ging es auch um eine der zentralen Fragen moderner Herrschaft: Gelingt es der Zentralmacht, ihren Anspruch gegen regionale und lokale Kräfte durchzusetzen? Wahlen als Ausdruck von nationaler Einheit – diese Funktion, die sich in der Französischen Revolution und dann in anderen europäischen Ländern etwa während der revolutionären Wahlen von 1848 zeigte, wurde immer wichtiger, blieb aber umstritten. Beispielhaft und in besonderer Schärfe zeigte sich dieser Konflikt in den USA. Dort lag die juristische Kompetenz in Fragen des Wahlrechts eigentlich bei den Einzelstaaten. Doch einige Jahre nach dem Bürgerkrieg (1861–1865) versuchte die föderale Regierung in Washington, nicht zuletzt über Verfassungszusätze, die rechtsstaatlichen Garantien für alle Bürger von oben durchzusetzen. Die Durchsetzung der modernen Zentralmacht ging in Amerika häufig mit der Durchsetzung rechtsstaatlicher Standards einher – oder misslang.

Das amerikanische weiße Wahlvolk ließ sich nicht disziplinieren, und die regionalen und lokalen Gewalten wehrten erfolgreich die zentralstaatlichen Bemühungen ab. Die Unterdrückung rechtsstaatlicher Normen wurde dadurch in gewisser Weise Bestandteil der amerikanischen Demokratie. Das ist auch aus heutiger Sicht interessant: Die aktuellen Bestrebungen der Republican Party, auf Ebene der Einzelstaaten Wahlregulierungen durchzusetzen, die ziemlich ungeniert der Unterdrückung von black votes dienen, können damit in die höchst ambivalente Demokratiegeschichte der USA eingeordnet und besser analysiert werden. Die dunklen Seiten der Demokratie werden deutlich, die Fragwürdigkeit von Demokratisierungsprozessen und auch die Fragilität von Demokratie.

In diesem Essay sollen zunächst die US-Wahlen in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Bürgerkrieg dargestellt werden, um den Kontext und die partizipativen Traditionen zu analysieren. In einem zweiten Teil werden die Versuche der nationalen Zentralgewalt dargestellt, nach dem Bürgerkrieg rechtsstaatliche und inklusive Funktionen von Wahlen durchzusetzen.

Wahlen als Spektakel des Männervolkes

Der Historiker Richard Bensel beschreibt das Wahllokal in der Mitte des 19. Jahrhunderts als »the least democratic site in all of American politics«.3 Korruption, Gewalt und extrem maskuline, rassistische Imaginationen von Demokratie beherrschten die Szenerie. Wer wahlberechtigt war, wurde oft vor Ort ausgehandelt, denn in vielen US-Staaten war die Bürokratie nicht in der Lage, eine korrekte Wahlregistratur aufzustellen. Die Stimmabgabe wurde in den USA zum Spektakel und dauerte oft zwei bis drei Tage. Als Wahllokal dienten das Rathaus, die Kirche, das Feuerwehrhaus, ein Kaufladen und immer häufiger eine Kneipe. Vor dem Wahllokal drängten Parteimitglieder den Wählern die von den Parteien gedruckten Stimmzettel auf. Es herrschte ein wildes Treiben. Die wählenden Männer blieben vor dem Wahllokal und übergaben durch das »Wahlfenster« hindurch dem im Haus stehenden Wahlleiter den Stimmzettel, der ihn in die Urne warf. Das Arrangement mit einem Fenster oder einer Barriere war nötig, um die Wahlurne vor den andrängenden Männern zu schützen. Oft gelang das nicht und die Wahlurne wurde »hijacked«, wie es in den Quellen heißt. Wer sich in der Menge vor dem Wahllokal durchsetzen konnte, wer selbst seine Stimme abgeben oder andere am Wählen hindern konnte, hing wesentlich davon ab, welche Partei die physisch stärkeren Männer am Wahlort stellte.

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