Braunes Eck

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From the series: Leon Walters ermittelt #3
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Morgens in der Koblenzer Redaktion

„Vanessa, sei bitte nicht sauer. Ich hatte dir vorhergesagt, ich bin noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Das hat nicht das Geringste mit dir zu tun. Ich mag dich, ganz ehrlich. Gestern Abend war es sehr schön. Erfolgreich bei der gemeinsamen Arbeit waren wir auch noch. Paffrath wird sicher mit dir zufrieden sein“, versuchte er zu beschwichtigen und endlich wieder Arbeitsbereitschaft herzustellen.

„Ich fühle mich wie ein alter abgestellter Besen. Abgestellt in deiner Besenkammer im Turm“, sagte sie mit verheulten Augen.

„Vanessa, zunächst einmal sind wir richtig gute Kollegen. Was darüber hinaus werden wird, bringt ganz einfach die Zeit. Du bist sehr attraktiv und verführerisch obendrein. Bitte sei nicht so ungeduldig. Es war eine reine Verstandesentscheidung, dass gestern nichts passieren sollte, schon aus Respekt vor dir und meiner jüngeren Vergangenheit. Ich bitte dich inständig, mir einfach noch etwas Zeit zu geben. Du bist bildhübsch und ein ganz wertvoller Mensch. Das werden dir sicher schon viele Männer gesagt haben. Du weißt es bestimmt auch selbst“, sagte er. „Lass es mal so stehen, wie es wirklich gewesen ist. Es war ein sehr schöner Abend, für mich jedenfalls“, fügte er an. „Zu schön, um durch einen Quickie zerstört zu werden.“

„Ja, für mich war der Abend auch sehr schön. Danke Leon, sei bitte nicht sauer. Bitte, bitte“, sagte sie und schaute ihn mit großen flehenden Augen an und klappte flehend die Handflächen aufeinander.

„Alles gut. Wollen wir jetzt mal so langsam an die Arbeit gehen, wir haben gar nicht mehr so lange?“, leitete er den Arbeitstag ein und beendete das Drama. „Hast du einen Verdacht nach deinem Gespräch mit Milena?“, fragte er.

„Zum Täter meinst du?“

„Ja, genau. Gab es irgendeinen Anhaltspunkt oder einen dezenten Hinweis, wo wir vielleicht weitersuchen könnten?“, fragte er.

„Sollte das nicht besser die Polizei machen? Wir sind schließlich Journalisten und sollten eigentlich nur Bericht erstatten“, stellte sie fest.

„Investigativer Journalismus ist megaspannend. Wir von der Presse haben häufig einen ganz anderen Status und werden von vielen nicht so wie die Polizei als pure Gefahr wahrgenommen. Außerdem haben wir ein ganz anderes Informationsnetzwerk als die Polizei“, erklärte Leon.

„Okay. Das ist im Sport tatsächlich ganz anders. Dort gibt es nur selten spektakuläre Erkenntnisse, die durch die Presse an die Oberfläche gebracht werden“, seufzte sie.

„Höre jetzt einmal ganz auf deine weibliche Intuition. Wo führt sie dich gerade hin? Wo könnten wir weiter recherchieren?“, fragte Leon.

„Hm, Tobi war in der Sporthalle seines Sportvereins, als er starb. Ich finde, wir sollten zuerst die Kameraden seines Sportvereins befragen. Vielleicht haben die ja eine Erklärung dafür, warum Tobi genau dort hing“, sagte sie nach kurzer Überlegung.

„Klingt sinnvoll. Gut, dann machen wir das genau so. Auch wenn noch nicht bewiesen ist, an welchem Ort er tatsächlich gestorben ist. Glaube mir, es geht nichts über ein gesundes Bauchgefühl. Vor der Pressekonferenz wird es etwas knapp. Heute ist aber Freitag. Die meisten dürften sicher früher Feierabend haben. Wir versuchen nachher den einen oder anderen ausfindig zu machen und zu interviewen“, erklärte Leon seinen Plan.

„Ich suche schon mal im Internet, auf der Vereinsseite, in den sozialen Netzwerken und nach Freunden“, kündigte sie an.

„Gut, dann rufe ich in der Zeit bei einigen Vereinsfunktionären an und frage nach Hinweisen über Vereinskameraden von Tobi. Vielleicht können wir mit Adressen und Namen bewaffnet nach der Pressekonferenz gleich durchstarten. Viel Neues erwarte ich dort ohnehin nicht.“

Gesagt, getan. Jeder machte konzentriert seinen Teil der Arbeit, bevor sie dann mit flottem Reifen und Vanessa am Steuer zur Pressekonferenz im Polizeipräsidium fuhren. Leon stellte Vanessa einige Kollegen anderer Blätter und diverser regionaler Radio- und Fernsehsender vor. Dann wurde es langsam spannend: Kriminaloberrat Unterbeck, der Polizeipräsident, die Pressesprecherin und zwei weitere unbekannte Personen betraten das Podium und nahmen dort Platz. Die ersten Minuten berichteten sie nur über die Fakten, die Vanessa und Leon bereits kannten.

„Gleich wird es spannend. Der Rechtsmediziner aus Mainz ist auch dabei. Mal sehen, ob der Obduktionsbefund etwas Neues hergibt“, flüsterte Leon Vanessa ins Ohr.

„Herr Professor Menk vom rechtsmedizinischen Institut der Universität Mainz wird uns nun die wichtigsten Erkenntnisse aus der Obduktion zusammenfassen“, kündigte die Pressesprecherin an und übergab das Wort an einen hochgewachsenen schlanken dunkelhaarigen Herrn mit Mittelscheitel.

„Ja, danke. Meine Damen und Herren, auf einige Details kann ich aus ermittlungstaktischen Gründen und nach Absprache mit der Mordkommission hier leider nicht eingehen. Zweifelsfrei handelt es sich nicht um einen Suizid, wie man aufgrund der Situation beim Auffinden vielleicht glauben könnte. Der junge Mann wurde ohne jeglichen Zweifel ermordet.“ Ein Raunen ging durch den Saal. „Der Tod trat zwar schlussendlich durch das Ersticken im Rahmen des Erhängens ein, zuvor wurde der durchtrainierte muskulöse Mann aber betäubt und dann erst durch Fremdeinwirkung erhängt. Wie die Betäubung genau durchgeführt wurde, soll hier nicht dargestellt werden, ist uns aber prinzipiell bekannt. Der Todeszeitpunkt muss etwa vier bis fünf Stunden vor dem Auffinden eingetreten sein.“ Der Professor legte seine Papiere vor sich auf das Pult und nickte der Pressesprecherin zu.

„Danke Herr Professor Menk für die Ausführungen. Gibt es bis hierhin Fragen?“ Sie schaute in die Runde. Aus wenigen Wortmeldungen wurden zunehmend mehr. „Frau Bündgen, Radio Koblenz“, sagte sie und zeigte auf eine dynamisch wirkende Dame in der ersten Reihe.

„Gibt es schon irgendeinen Verdacht zum Täter“, fragte die junge langhaarige Blondine.

„Eigentlich meinte ich Fragen zum Obduktionsbefund. Aber trotzdem kurz zu Ihrer Frage: Nein, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht. Die Obduktion konnte erst heute Vormittag abgeschlossen werden. Bis dahin war ein Suizid noch nicht ausgeschlossen. Sie haben gerade ganz frisch und fast zeitgleich mit uns die neuesten Erkenntnisse erfahren. Viel mehr haben auch wir noch nicht – leider. In den nächsten Stunden und Tagen werden nun konzentriert die weiteren breit angelegten Ermittlungen durchgeführt werden, nachdem jetzt eindeutig die Fremdeinwirkung bewiesen werden konnte“, führte die Pressesprecherin nichtssagend aus. „Wir werden mit Hochdruck daran arbeiten den oder die Täter zu finden“, soviel kann ich versprechen.

„Herr Walters, Koblenzer Tageskurier“, erhielt er mit einem Fingerzeig das Wort.

„Gibt es bisher Erkenntnisse, ob der Tod des jungen Mannes im weitesten Sinne etwas mit dem bekannten wohlhabenden Vater des Opfers zu tun hat?“, fragte Leon.

„Gut, wie ich sehe, sind wir bereits in der allgemeinen Fragerunde. Herr Professor Haberkorn ist ein hoch geachtetes Mitglied unserer Stadt. Natürlich hat die Familie auf die Todesnachricht sehr betroffen reagiert und war mit Rücksicht hierauf in den ersten Stunden nicht direkt vernehmungsfähig. Wir ermitteln wie immer in alle Richtungen. Es gibt aber bislang keine Erkenntnisse darüber, ob der Tod von Tobias Haberkorn irgendetwas mit der Funktion des Vaters zu tun hat, wie beispielsweise ein Racheakt oder ähnliches. Ich nehme an, ihre Frage zielte in diese Richtung, Herr Walters, da der Vater seit vielen Jahren als Arzt praktiziert“, führte Kriminaloberrat Unterbeck aus.

„Ja, genau. Danke. Führten denn die Tatsachen weiter, dass sich das Opfer sehr unter Leistungsdruck zu befinden schien und auch offensichtlich bei Gleichaltrigen nicht sehr beliebt war?“, schob er als Fragen nach.

„Bitte jeder erst einmal nur eine Frage, damit alle eine Chance haben und wir zügig durchkommen, Herr Walters. Nein, um die Frage dennoch zu beantworten. So weit sind wir noch nicht. Wir sind erst ganz am Anfang“, antwortete der Kriminaloberrat trotzdem.

Der Rest der Pressekonferenz brachte wie erwartet keine wirklich neuen Informationen. Sie führten noch ein wenig Smalltalk mit einigen Kollegen und gingen dann zügig zu ihrem Wagen.

„Wohin fahren wir jetzt?“, fragte Vanessa und schaute Leon mit großen fragenden Augen an.

„Wir sind noch recht früh dran. Viele werden jetzt sicher noch auf der Arbeit, an der Uni oder unterwegs nach Hause sein. Ich habe heute früh im Büro einen Termin mit Tobis Trainer vereinbart. Er ist Sportlehrer an der Schule, zu der die Turnhalle gehört. Lass uns dorthin fahren. Er hat mir versprochen, wir können jederzeit bis Schulschluss vorbeikommen“, führte er aus, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.

„Alle Mann anschnallen. Wir starten“, witzelte Vanessa.

Nach wenigen Minuten parkten sie vor der Turnhalle und begaben sich zum Eingang.

Tobis Trainer ließ die Klasse Volleyball spielen. Es dürfte von Alter und Größe her eine der Abschlussklassen der Realschule gewesen sein.

„Herr Stadtmüller?“, fragte Leon.

„Ja? Leute, ihr kommt jetzt mal einen Moment ohne mich klar. Sven, du übernimmst die Schiedsrichterfunktion bis ich zurück bin.“ Er übergab eine Trillerpfeife, indem er sie einem jungen Mann salopp zuwarf und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und ging auf Leon und Vanessa zu.

„Darf ich vorstellen, meine Kollegin Vanessa Herzsprung, eigentlich hauptamtlich in der Sportredaktion. Sie werden sicher früher oder später noch miteinander zu tun bekommen“, erklärte Leon und deutete mit der rechten Hand auf Vanessa.

 

„Ah, das freut mich besonders. Was kann ich für Sie tun?“, fragte er, nachdem er beiden die Hand geschüttelt hatte.

„Wir berichten über Tobi Haberkorn und suchen nach weiteren Hinweisen. Alles kann wichtig sein. Was war er für ein Mensch? Hatte er Feinde? Gab es enge Freunde?“, fragte Leon für den Anfang.

Bernhard Stadtmüller warf einen kurzen Blick auf den Basketballkorb, an dem Tobi gefunden wurde. „Schlimm, schlimm. Ausgerechnet hier in der Halle am Basketballkorb. Und das Leben hier geht einfach so weiter, als wäre nie etwas passiert. Nicht einmal ein Bild vom Toten mit schwarzem Balken war hier im Sportbereich erwünscht. Er liebte Basketball, warf hier oft seine Bälle, spielte seit fast zwei Jahren in unserer 1. Mannschaft. Tobi hatte wirklich Talent. Er war obendrein noch sehr ehrgeizig, im Sport jedenfalls. Schade, so jung, viel zu jung. Er war häufiger alleine hier in der Halle, hatte mich um einen eigenen Schlüssel gebeten, weil er oft bei Hallenleerstand noch alleine übte. Jetzt mache ich mir natürlich Vorwürfe“, führte der Lehrer aus.

„Tobi wurde ermordet. Es war kein Selbstmord. Das haben wir gerade eben in der Pressekonferenz erfahren. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn er den Schlüssel von Ihnen hatte“, ging Vanessa auf ihn ein und erntete dafür ein kurzes Nicken.

„Haben Sie Konflikte, Ärger, Feindschaften mitbekommen?“, fragte Vanessa als Erinnerung.

„Tobias war wirklich gut, sah auch noch gut aus und war immerhin der Sohn von Professor Haberkorn. Mehr muss ich doch nicht sagen, oder? Da hat man natürlich auch Neider. Aber Feindschaft wäre sicher zu viel gesagt. Ich habe jedenfalls nichts Außergewöhnliches in dieser Richtung mitbekommen“, erklärte er.

„Kennen Sie Milena, seine Freundin?“, fragte Leon.

„Ja, klar. Sie ist auch aktiv in unserem Verein. Kommt in letzter Zeit jedoch kaum noch, seit sich die beiden getrennt haben und ich glaube, sie studiert inzwischen irgendwo Medizin. Sie hat häufiger zugeschaut bei den echten Spielen. Von den Haberkorns sah man hingegen nie jemand hier. Tobi hat so sehr gehofft, sein Vater würde sich irgendwann einmal wenigstens eins seiner Spiele anschauen. Er hat mir mal auf einer Trainingsfreizeit erzählt, wie sehr der Vater seinen Sportspleen, wie er es nannte verabscheute. Schade, und so etwas bei dem Talent. Deshalb war Milena ganz wichtig für ihn und seine Leistung. Lob, Bestätigung und Erfolg waren sehr wichtig für Tobi. Er vergötterte Milena regelrecht. Ein schönes Paar waren die beiden außerdem. Wenn die mal Kinder bekommen hätten...“

„Wenn Lob, Bestätigung und Erfolg so wichtig für ihn waren, was passierte, wenn er Fehler machte, den Korb nicht traf, Kritik einstecken musste?“, fragte Vanessa.

„Man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen. Das war aber zugegebenermaßen nicht seine Welt. Er war ein Siegertyp. Bei schlechten Leistungen zog er sich sofort nach dem Spiel zurück, wollte nicht angesprochen werden. Wer es dennoch versuchte, musste mit allem rechnen“, erklärte er.

„Was soll das genau heißen, mit allem?“, hakte Leon nach.

„Mindestens Streit, im schlimmeren Fall Androhung von Prügeln. Mehr als einmal habe ich ihm erklärt, dass es auch für den Verein nicht gut aussieht oder sogar eine Strafe vom Verband geben kann, wenn er so ausflippt. Er hatte sich manchmal nicht unter Kontrolle, wenn man ihn angriff. Sebastian Zengler hat das sogar einmal ein gebrochenes Nasenbein gekostet. Die Mannschaft verlor, weil Tobi in der letzten Minute den entscheidenden Korb nicht warf. Unter Sportkameraden macht man nicht mehr draus, sonst hätte es für Tobi übel ausgehen können. Ich habe damals sogar noch vermittelt, damit es Ruhe gab unter den jungen Hitzköpfen“, sagte er und lachte.

„Sebastian Zengler? Wo finden wir ihn?“, fragte Leon.

„Zengler ist Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Sie glauben doch nicht, er hat etwas damit zu tun. Die alte Sache ist längst abgehakt, glauben Sie mir“, spielte er die Sache schnell herunter und winkte mit der Hand ab.

„Keine Sorge. Wir versuchen nur ein besseres Bild von Tobi zu bekommen. Und Sebastian hat ihn ja offensichtlich mindestens einmal deutlicher zu spüren bekommen“, beruhigte Leon.

„Verzeihen Sie, ich kann meine Schüler nicht so lange alleine lassen. War es das?“, würgte Bernhard Stadtmüller das Gespräch ab.

„Vielen Dank Herr Stadtmüller. Wir sollten zusammen mal über etwas Angenehmeres berichten. Es wäre schön, wir sehen uns bald wieder“, bahnte Vanessa ihren neuen Sportkontakt.

„Das würde mich wirklich freuen. Bis dann also. Tschüss, ich muss jetzt auch, wie Sie sehen“, sagte er und winkte zum Abschied und lief wieder zu seiner Schulklasse.

„Hm, was meinst du?“, fragte Vanessa im Rausgehen. „Sebastian Zengler? Er steht ohnehin auf meiner Liste“, sagte sie und wanderte mit dem Finger einen Zettel aus ihrer Jackentasche ab. „Koblenz-Arzheim. Fahren wir mal kurz auf die scheel Seit (andere Rheinseite)“.

Uff der scheel Seit

Sie wollten gerade aufbrechen, als Leon auf seinem Smartphone eine Textnachricht erhielt. Sie stammte von einem Kontaktmann im Polizeiumfeld. Leon rief ihn direkt zurück. Die Information schien wirklich Gold wert zu sein. Ein Förster meldete am frühen Morgen völlig aufgelöst einen Vorfall bei der Polizei. Bei der Auswertung seiner ausgelösten Wildkamera in der Nähe von Gintgens Galgen, an der Dreispitz in Koblenz-Arenberg, musste er eine Hinrichtung als bewegungsgesteuerten Kurzfilm mitverfolgen. Eigentlich war die Kamera an einem Zufahrtsweg zum Wald aufgehängt, um Zeitgenossen dingfest zu machen, die eher üble Dinge im Schilde führten, wie z. B. illegal ihren Müll im Wald zu entsorgen, wenn sie nicht gerade zu anderen Zwecken mit ihrer Süßen in den Waldweg abgebogen sind. Sie reagierte sowohl bei Tag als auch bei Nacht per Bewegungssensor, machte dabei einzelne besser auflösende Fotos und etwas schlechtere Kurzfilmchen von ein bis zwei Minuten Dauer. Die Kamera hing, für die meisten Passanten unbemerkt, in einem Haselnussstrauch. Bisher erhielt der Förster damit eigentlich nur wunderschöne Tieraufnahmen, kleine Sexfilmchen, nichts ahnende Spaziergänger und andere langweiligere Inhalte.

Dieses Ereignis fand bereits vor Sonnenaufgang statt und wurde somit automatisch im Infrarotmodus der Kamera aufgezeichnet. Entsprechend gewöhnungsbedürftig war die Ansicht in schwarz-weiß. Drei vermummte Personen hängten mit Hilfe einer Trittleiter eine bewegungslose Person an einem Baum mit diversen starken Seitenästen auf. Es folgte ein seltsames Ritual. Später wurde der Körper wieder vom Baum entfernt und in einem VW-Bus verstaut. Der Bus stand leider seitlich zur Kamera. Die Autokennzeichen waren im gesamten Film nicht erkennbar.

Es fand sich somit natürlich keine Leiche vor Ort, wie auch, sie war ja mit diesem Bus hingebracht und wieder abgefahren worden. Er meldete den Vorfall der Polizei, ging aber eher von einer Challenge, einem satanistischen Ritual oder einem üblen Scherz aus. Es sah vom Gewicht und der Beweglichkeit her schon wie ein echter menschlicher Körper aus, nicht wie eine Schaufensterpuppe. Die Chipkarte aus der Kamera war sofort von der Polizei beschlagnahmt worden.

Leon teilte Vanessa die Umstände mit und sie beratschlagten das weitere Vorgehen.

„Was heißt denn Gintgens Galgen an der Dreispitz?“, fragte sie. „Das habe ich noch niemals zuvor gehört.“

„Es ist einer der alten Hinrichtungsplätze aus der Zeit der Hexenverfolgung im Mittelalter. Er liegt außerhalb von Koblenz-Arenberg. Dort steht auch eine Schautafel für Besucher zur Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit des Ortes. Ich war schon einmal dort“, erläuterte er.

„Wir wollten doch sowieso gleich nach Arzheim. Der alte Richtplatz liegt also hinter Arenberg in Richtung Montabaur, wenn ich das auf meinem Tablet richtig sehe. Lass uns einmal dort hinfahren. Wir könnten schauen, was vor Ort abläuft und zumindest einige neue Fotos machen. Zengler sollten wir meiner Meinung nach trotzdem hinterher interviewen“, sagte Vanessa.

„Klingt so, als könnte es mein Plan sein. Ich versuche später über meine Kontakte mehr über diesen Film des Försters herauszufinden. Vielleicht kommen wir ja irgendwie sogar da dran. Das klingt mir doch alles sehr nach Tobis Hinrichtung“, antwortete Leon. „Zeitlich könnte es von den Tatabläufen her genau passen, jedenfalls nach allem, was wir bisher wissen. Mehrere junge Männer werden wohl kaum in so kurzer Zeit in Koblenz erhängt worden sein. Wir müssen der Sache dringend weiter nachgehen.“

„Hm, was heißt eigentlich müssen? Du klingst wirklich, als wärst du bei der Polizei in Lohn und Brot“, gab Vanessa zu bedenken. „Werden die von der Polizei hier eigentlich nie sauer, wenn wir denen ständig ins Handwerk pfuschen?“, gab sie zu Bedenken.

„Es gibt einfach nichts Spannenderes, für die Leser und letztendlich auch für uns, als der Polizei einen oder mehrere Schritte voraus zu sein, glaube mir. Der Alte wird uns dafür ganz sicher lieben“, mutmaßte er und sah Paffraths Gesicht schon freudestrahlend vor sich. „Ja, gut, ein wenig hast du damit vielleicht schon Recht: Unterbeck wird sicher nicht amüsiert sein, wenn er die neuesten Erkenntnisse aus der Zeitung erfährt. Aber lass das mal meine Sorge sein. Außerdem hat er zu jedem Zeitpunkt mindestens die gleiche Chance, das Wettrennen zu gewinnen und uns dann über seine neuen Erkenntnisse zu informieren. Wir können immer noch entscheiden, ihn teilhaben zu lassen, wenn wir etwas Spannendes finden oder falls es für uns zu gefährlich werden sollte.“

„Eine Hand wäscht die andere“, ergänzte Vanessa.

„Genau. Du lernst schnell. Unterbeck wird uns dafür beim nächsten Fall sicher auch wieder Informationen geben, auch wenn er es genau genommen eigentlich nicht darf. So funktioniert nun mal die Welt“, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. „Wer sagt außerdem, dass die uns nicht längst einige Schritte voraus sind. Sie haben schließlich den Film und ermitteln mit einem ganzen Team.“

Am Richtplatz war erwartungsgemäß nicht mehr viel zu sehen. Die Spurensicherung war mit ihrer Arbeit schon durch, hatte den Ort weiträumig abgesperrt. Außer ein paar Fotos von der Anlage war heute nicht viel zu holen.

„Mist, ohne den Film führt uns das alles hier nicht weiter“, sagte Leon. Fahren wir jetzt erst zu Zengler oder versuchen wir unser Glück mit dem Film? Pass mal auf Vanessa, ich glaube du hast bei Zengler vielleicht als Frau sogar bessere Karten. Was hältst du davon, wenn ich dich an seiner Haustüre rauswerfe. In der Zwischenzeit versuche ich mal über Förster und Polizei einen Blick auf den Film zu werfen“, schlug er vor.

„Wenn du meinst. Ich bin zwar unsicher, ob ein Zeitsoldat lieber mit Frauen redet, wir kommen aber sicher schneller voran, wenn wir uns aufteilen“. Vanessa korrigierte im Spiegel ihr Makeup noch einmal kurz und stimmte mit dem Kopf nickend zu.

Leon telefonierte während der Fahrt mit dem zuständigen Förster für den Bezirk, aus dem der Film stammte, als würden sie sich schon Jahre kennen. Sie verabredeten sich sofort für ein Interview. „Wie du siehst, kann ich gleich durchstarten. Ruf mich bitte an, wenn du hier fertig bist, Vanessa.“

„Okay, dann bis gleich. Warte noch kurz, ob auch wirklich jemand aufmacht, damit ich hier nicht fest stecke ohne Wagen.“ Vanessa sprang mit sportlichen Schritten aus dem Auto und klingelte. Ein junger Mann in Bundeswehruniform öffnete und Vanessa gab Leon ein Zeichen, er könne losfahren.

Vanessa stellte sich vor, nannte ihr Anliegen und wurde glücklicherweise hereingebeten. Sebastian Zengler war gerade vom Dienst nach Hause gekommen, weshalb er noch seinen Tarnfleckenanzug trug. „Sie sind Stabsunteroffizier, nicht wahr?“, fragte Vanessa und deutete auf die Dienstgradabzeichen.

„Ja, genau. Ich besuche gerade den Feldwebel-Lehrgang, bin aber noch Stabsunteroffizier“, erklärte er.

„Sind sie Berufssoldat und was machen sie denn bei der Bundeswehr genauer?“, versuchte sie einen ersten Vorstoß.

„Nein, ich bin Zeitsoldat. Ich wurde gerade erst weiter auf 12 Jahre verpflichtet, weil ich eine Ausbildung als Rettungsassistent bekommen werde. Dafür werde ich zur Ausbildung in einer Rettungsleitstelle an einem Bundeswehrkrankenhaus eingesetzt und besuche weitere Lehrgänge. Rettungssanitäter bin ich ja schon eine Weile.“

 

„Sie sind hier in Koblenz am Lazarett?“

„Ja, genau. Die Lehrgänge sind teilweise in München an der Sanitätsakademie, teilweise auch im zivilen Bereich. Die Ausbildung ist sehr gut und allgemein anerkannt.“

„Sie müssen bestimmt auch in Einsätze, oder?“, fragte Vanessa.

Sebastian Zengler reagierte unangenehm berührt. „Ja, ich war schon dreimal in Afghanistan und es werden sicher nicht die letzten Einsätze gewesen sein. Mit spezialisierter Ausbildung ist man in der Regel häufiger dran. Sanitäter sind überall mit vor Ort“, führte er aus.

„Was sagt Ihre Familie dazu?“, fragte sie.

„Ach, die kennen das schon. Gut, wirklich begeistert sind sie natürlich nicht. Meine letzte Freundin hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sie sagte, sie könne nicht ständig in dieser Sorge leben und wolle auch nicht ewig hier warten. Wenn wir ein Kind bekommen würden, dann würde das vielleicht irgendwann Onkel zu mir sagen, meinte sie. Vor allem aber war wohl Schluss, weil sie meinte, die Einsätze hätten mich verändert. Sie wolle den alten Sebastian wieder zurückhaben. Der war aber vor längerer Zeit mit Überfliegen des Hindukusch Geschichte geworden“, berichtete der Soldat fast emotionslos. „So ganz kommt keiner als der Alte zurück. Im Einsatz komme ich sogar besser klar als hier bei diesen verhätschelten über alles herum jammernden deutschen Weicheiern.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Ein Leben als Soldat ist sicher kein Zuckerschlecken. Man lernt dabei mit Entbehrungen umzugehen. Meine Hochachtung für Menschen, die solche Strapazen auf sich nehmen, damit wir anderen es uns hier gemütlich machen können. „Aber mal ein ganz anderes Thema: Sie kennen doch Tobias Haberkorn. Ich habe gehört, sie hatten sogar eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm vor einiger Zeit. Was war denn da genau los?“, fragte sie vorsichtig.

„Der kleine Haberkorn ist genau so ein arrogantes Arschloch, wie sein alter Herr. Tut mir leid, wenn ich das so hart ausdrücken muss“, platzte es aus ihm heraus. „Ich bin wirklich kein Schlägertyp, im Gegenteil. Da können Sie alle fragen, die mich kennen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Tobias Haberkorn hat sich für was Besseres gehalten und es alle spüren lassen. Als er in einem Relegationsspiel den entscheidenden eigentlich todsicheren Ball vergeigt hatte und wir alle deshalb ein wenig angepisst waren, hat er mir wegen einer kleinen Bemerkung mit dem Ellbogen das Nasenbein zertrümmert“, erklärte er mit Wut in den Augen.

„Heißt das, Sie haben ihm danach eine Abreibung verpasst?“, fragte Vanessa hellwach.

„Er brauchte mal einen dezenten Hinweis, dass er nicht alles machen kann“, kam prompt die Antwort mit einem leicht süffisanten Grinsen auf dem Gesicht.

„Was heißt das genau, Herr Zengler? Was haben Sie gemacht?“

„Wir haben das unter uns Sportlern geregelt. Er hat keine Anzeige bekommen und auch keine erstattet. Das können Sie gerne überprüfen. Der Rest unterliegt dem Ehrenkodex und der besagt: Schnauze halten über die Details. Genau das werde ich ab jetzt tun. Das Gespräch ist für mich beendet.“ Sebastian Zengler war sauer. „Abgesehen davon habe ich ohnehin schon viel zu viel erzählt. Sie wissen sicher, dass Soldaten nicht aus dem Nähkästchen plaudern sollen. Dafür gibt es Presseoffiziere. An den wenden Sie sich auch besser, wenn Sie weitere Fragen haben.“

„Wir wollen Ihnen wirklich nichts anhängen, Herr Zengler. Wir haben mitbekommen, dass Herr Haberkorn insgesamt nicht sehr beliebt war und das wird ja auch seine Gründe haben. Wir versuchen nur die Hintergründe besser zu verstehen. Vielen Dank für Ihr bisheriges Vertrauen. Dürften wir noch einmal auf Sie zukommen, falls wir noch Fragen haben? Ich habe das Gefühl, sie haben mir noch nicht die ganze Geschichte erzählt“, versuchte sie noch einmal ihr Glück.

„Erst einmal nicht. Ich habe Ihnen bereits viel zu viel gesagt. Zum Rest habe ich Ihnen doch erklärt, warum ich nicht darüber reden werde.“

„Hier ist meine Karte, falls Ihnen doch noch etwas einfällt. Sie können jederzeit Kontakt aufnehmen. Oder wenn Sie es sich doch noch anders überlegen sollten.“ Vanessa übergab ihr Visitenkärtchen.

Sebastian Zengler warf einen Blick darauf. „Bestimmt nicht, Frau … Sportreporterin?“, sagte er und schüttelte mit dem Kopf.

Sie verabschiedeten sich und Vanessa rief Leon an. Sie berichtete vom überraschenden Verlauf und setzte sich nach einem kurzen Weg auf eine Bank für Spaziergänger.