Glaube und Zweifel

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Hans-Georg Gradl, Mirijam Schaeidt, Johannes Schelhas, Werner Schüßler

Glaube und Zweifel

Das Dilemma des Menschseins

Hans-Georg Gradl, Mirijam Schaeidt, Johannes Schelhas, Werner Schüßler

Glaube und Zweifel

Das Dilemma des Menschseins

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Hain-Team (www.hain-team.de)

Umschlagabbildung: shutterstock

ISBN

978-3-429-03969-1

978-3-429-04874-7 (PDF)

978-3-429-06293-4 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

WERNER SCHÜSSLER

Glaube und existentieller Zweifel als Pole des Menschseins

HANS-GEORG GRADL

Glaubwürdiger Zweifel Neutestamentliche Portraits

JOHANNES SCHELHAS

Zweifel(n) – um Gottes willen?

MIRIJAM SCHAEIDT

„Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land“ (Ps 137,2)

Macht und Nacht des Glaubens

Personenregister

Sachregister

Vorwort

„Mir mißfallen Propheten und gleichermaßen blinde Fanatiker, die niemals an ihrem Glauben und an ihrer Mission gezweifelt haben.“

Cioran

Glaube und Zweifel wurden theologisch lange Zeit als sich ausschließende Gegensätze betrachtet. Dahinter steht die Auffassung des Glaubens im Sinne eines Für-wahr-Haltens. Glaube ist aber ein existentieller Akt, der zum Menschen als solchen immer schon dazu gehört. Damit gewinnt der Zweifel aber auch eine positive Bedeutung, bewahrt er den Menschen doch letztlich davor, fundamentalistisch und fanatisch zu werden. Es gilt somit, dieses „Dilemma des Menschseins“ (J. Ratzinger) auszuhalten. Das macht Werner Schüßler in seinem Beitrag anhand des Glaubensverständnisses von Karl Jaspers, Peter Wust und Paul Tillich deutlicht.

Obwohl der Zweifel in keinem guten Ruf steht und auf dem Ackerfeld des Glaubens wie Unkraut erscheint, ist er auch im Neuen Testament präsent. Die Jünger Jesu zweifeln bis in die Schlussszene des Matthäusevangeliums hinein. Auch Petrus zweifelt. Ohne handfesten Beweis will Thomas – der notorische Zweifler – nicht glauben. Sie alle portraitieren eindrucksvoll einen viel versprechenden, zukunftsbahnenden und konstruktiven Zweifel. Dieser ist geboten, damit der Glaube vorwärts kommt. Zweifel ist kein Unkraut, wie Hans-Georg Gradl in seinem Beitrag deutlich macht, sondern viel eher ein Düngemittel, damit der Glaube reif und reflektiert, standfest und authentisch werden kann. Der Glaube braucht den Zweifel, damit er suchend bleibt und nicht zur Ideologie verkommt.

Wo uns Bilder der Gewalt im Namen Gottes abstumpfen lassen und Flüchtlinge mit anderem Glauben irritieren, hat es der christliche Glaube schwer. Das Schweigen Gottes, die Nichterfahrung seines Wirkens und die Macht des Bösen bewirken von jeher das Zweifeln des Menschen an Gottes Existenz. Als Mensch wird auch Jesus von solchen Zweifeln tief infrage gestellt. Der Zweifel des gläubigen Menschen an Gott ist weder ein Mangel noch eine Krankheit. Er wirkt wie eine offene Wunde, die der Mensch versorgen muss. Diese Wunde lässt Sehnsucht nach Gott aufkommen. Wo Menschen sich anderen und ihm öffnen, wird die „Zwei-teilung“, die das „Zwei-feln“ hervorbringt, auf „Ein-heit“ hin überwunden. Johannes Schelhas kann in seinem Beitrag aufzeigen, dass ein Mensch um der Zuwendung Gottes zum Menschen willen zweifelt. Die Mutter Jesu gibt dies modellhaft zu erkennen.

Um die Rolle des Zweifels im spirituellen Leben geht in dem Beitrag der Benediktinerin Mirijam Schaeidt. Dabei zeichnet sie zunächst grob den Weg eines intensiveren spirituellen Lebens nach, mit möglichen Fallen und Momenten der Verunsicherung darin, die das weitere Wachstum aber erst ermöglichen. In weiteren Schritt wird sodann der Zweifel in Bezug auf die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe näher beleuchtet und auf das Entwicklungspotenzial hingewiesen, das nicht nur für den Einzelnen, sondern schließlich auch für den Weg der Kirche als ganze verborgen ist in der Erfahrung der Verunsicherung und des vorübergehenden Verlustes von Beheimatung im Glauben.

Die Beiträge werfen so von philosophischer, theologischer und spiritueller Perspektive her spannende Schlaglichter auf die dem Menschen notwendig innewohnende Polarität von Glaube und Zweifel, die es auszuhalten gilt. Denn was wäre die Alternative, führt doch die Unterdrückung des Zweifels letztlich zu Fundamentalismus und Fanatismus?


Trier, im Juli 2016Hans-Georg Gradl, Mirijam Schaeidt, Johannes Schelhas, Werner Schüßler

WERNER SCHÜSSLER

Glaube und existentieller Zweifel als Pole des Menschseins

„Der Gläubige wird häufiger von Zweifeln geplagt als der hartnäckige Skeptiker.“

Sri Aurobindo1

1. Hinführung

In seinem Buch „Der Ohrenzeuge“ greift der bulgarische Literaturnobelpreisträger Elias Canetti auf eine schon in der Antike von Theophrast begründete Methode zurück, wenn er hier holzschnittartig „fünfzig Charaktere“ auf eine Art und Weise beschreibt, dass diese durch ihre Überzeichnung beim Leser unvergesslich im Gedächtnis zurückbleiben. Für unsere Überlegungen sind seine diesbezüglichen Ausführungen über den „Gottprotz“ unübertrefflich, wenn es hier u.a. heißt: „Der Gottprotz muß sich nie fragen, was richtig ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott unterschreibt es. – Er findet die Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlafe. Um Widersprüche braucht er sich nicht zu bekümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm nicht von Nutzen ist und bleibt an einem unbestreitbaren Satz hängen. Den nimmt er für ewige Zeiten in sich auf, bis er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann wenn das Leben weitergeht, findet er einen anderen. – Der Gottprotz traut der Vorvergangenheit und holt sie zu Hilfe. Die Finessen der Neuzeit sind überflüssig, man kommt viel besser ohne sie aus, sie machen nur alles komplizierter. Der Mensch will eine klare Antwort wissen, und eine, die sich gleichbleibt. Eine schwankende Antwort ist nicht zu gebrauchen. Für verschiedene Fragen gibt es verschiedene Sätze. Es soll ihm einer eine Frage sagen, auf die er keine passende Antwort fände. – Der Gottprotz führt ein geregeltes Leben und verliert keine Zeit. Wenn die Welt um ihn einstürzt, er hat keine Zweifel.“2

In seinen Gesprächen mit Juan Arias, die in dem Buch „Bekenntnisse eines Suchenden“ festgehalten sind, äußert sich der brasilianische Bestseller-Autor Paulo Coelho demgegenüber zum Glauben wie folgt: „Wir, die wir uns für Gläubige halten, müssen […] zugeben, daß unser Glaube immer wackelig und gefährdet ist. Heute glaube ich zum Beispiel, daß mein Glaube unerschütterlich ist, doch schon heute Nacht mag diese Gewißheit zerronnen sein. Der Glaube ist nichts Gradliniges.“ Juan Arias verweist in diesem Zusammenhang auf den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia, der einmal gesagt haben soll, „daß er manchmal am Straßenrand stehenblieb und glaubte und beim Überqueren des Zebrastreifens schon nicht mehr glaubte.“3

Beide hier geschilderten Positionen, wie sie im „Gottprotz“ Canettis auf der einen Seite und in den Worten von Coelho und Sciascia auf der anderen zum Ausdruck kommen, sind extrem. Das Leben aber spielt sich zumeist in der Mitte ab. Und doch gibt es auch diese extremen Positionen: Fundamentalisten und Fanatiker stehen für die erste Richtung, Zweifler und Skeptiker für die zweite. In diesem Zusammenhang stellt sich mir auch immer wieder die Frage, weshalb anscheinend glaubensgewisse Menschen nicht selten einen gewissen Hang zum Fanatismus aufweisen und warum Menschen, die mehr zum Zweifel neigen, nicht selten wesentlich toleranter zu sein scheinen, aber sich selbst auch schnell für nicht religiös genug halten und darum „schlecht“ fühlen.

Glaube und Zweifel wurden theologisch lange Zeit als sich ausschließende Gegensätze betrachtet. Dahinter steht die Auffassung des Glaubens als eines Für-wahr-Haltens.4 Und so ist es nur konsequent, wenn der Zweifel schon als Sünde gedeutet wird. Von daher ist das Wort Nietzsches: „Das Christentum hat das Äußerste getan, um den Zirkel zu schließen, und schon den Zweifel für Sünde erklärt“, nicht ganz aus der Luft gegriffen.5

Selbst im „Katechismus der Katholischen Kirche“ ist diese Sicht nicht ganz aufgegeben, wenn es hier u.a. heißt: „Man kann auf verschiedene Weise gegen den Glauben sündigen: Freiwilliger Glaubenszweifel besteht in der Vernachlässigung oder Weigerung, für wahr zu halten, was Gott geoffenbart hat und die Kirche zu glauben vorlegt. Unfreiwilliger Zweifel besteht im Zögern, zu glauben, in der Mühe, über Einwände gegen den Glauben hinwegzukommen […]. Unglaube besteht in der Missachtung der geoffenbarten Wahrheit oder in der willentlichen Weigerung, ihr zuzustimmen.“6 Es ist natürlich keine Frage, dass mit einem voluntaristischen Glaubensbegriff die Ächtung des Zweifels einhergeht.

 

Ein solches Verständnis findet auch einen gewissen Anhalt am Neuen Testament. So heißt es im Hebräerbrief 11,1-6: „Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft; Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht. […] Ohne Glauben aber ist es unmöglich, (Gott) zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird.“

Aber es finden sich auch Bibelstellen, wo das anders gesehen wird: Denken wir nur an Mk 15,34, wo Jesus am Kreuz aufschreit: „Mein Gott, mein Gott, warum (wozu) hast Du mich verlassen?“ Hier scheint ihm die Glaubens gewissheit abhanden gekommen zu sein. Doch gerade in der Klage hält Jesus immer noch an Gott fest, und er hofft darauf, dass es Gott doch noch recht machen wird. Oder denken wir an das bekannte Urbild des Zweiflers in Joh 20, 24-29, wo die Geschichte vom ungläubigen Thomas erzählt wird.

Das Verhältnis von Glaube und Zweifel scheint also doch wesentlich komplizierter zu sein, als es auf den ersten Blick aussehen mag. So wissen wir selbst von der Hl. Mutter Teresa, dass sie im Alter von furchtbaren Glaubenszweifeln geplagt wurde, was an die „dunkle Nacht“ mystischer Erfahrung erinnert.7 Und wirkliche Atheisten, von denen es nicht sehr viele gibt – ich denke hier an Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder den rumänischen Dichter-Philosophen und Skeptiker Emil Cioran –, haben sich ihr Leben lang mit der Gottesfrage beschäftigt. Das kann auch nicht anders sein, denn wirkliche Atheisten quält ja bekanntlich die Frage, ob es Gott nicht vielleicht doch gibt. Ganz in diesem Sinne kommentiert der Schriftsteller Martin Walser in seiner Schrift „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ das Wort des amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“, wie folgt: „Das ist eine Nachricht, die mich natürlich froh macht. Eine Nachricht gegen die Selbstgenügsamkeit des sogenannten Atheisten. In der Welt des Atheisten hat doch die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt.“8

In seiner bekannten Schrift „Dynamics of Faith“ (1957), der deutsche Text trägt den Titel „Wesen und Wandel des Glaubens“, schreibt der bekannte deutschamerikanische evangelische Theologe und Philosoph Paul Tillich in seiner „Vorbemerkung“ zu Recht: „Es gibt kaum ein Wort der religiösen Sprache – weder der gelehrten noch der volkstümlichen –, das mehr Missverständnissen, Entstellungen und fragwürdigen Begriffsbestimmungen ausgesetzt ist als das Wort ‚Glaube‘. Es gehört zu jenen Begriffen, die selbst erst geheilt werden müssen, ehe sie zur Heilung des Menschen gebraucht werden können. Heute erzeugt das Wort ‚Glaube‘ mehr Leiden als Gesundheit. Es verwirrt, führt in die Irre und erzeugt bald Skepsis, bald Fanatismus, Widerstand auf Seiten des Verstandes und gefühlsmäßige Hingabe, Abwendung von echter Religion und Unterwerfung unter Ersatzmittel. Manchmal möchte man fast dazu raten, das Wort ‚Glaube‘ gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Aber wie wünschenswert das auch sein mag, so ist es doch kaum möglich. Eine mächtige Überlieferung schützt dieses Wort. Und außerdem besitzen wir bisher keinen Ersatzbegriff, der der Wirklichkeit gerecht wird, auf die das Wort ‚Glaube‘ hinweist.“9 Tillich geht es im weiteren Verlauf dieser Schrift, auf die ich noch einmal zurückkommen werde, darum, dieses Wort neu auszudeuten und die irreführenden und verzerrenden Bedeutungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte hier eingestellt haben, auszuschalten.

Glaube, das soll in den folgenden Ausführungen deutlich werden, ist ein existentieller Akt, und er darf weder auf Glaubensgehorsam noch auf Für-wahr-Halten reduziert werden.10 Damit wird auch schon deutlich, dass der Zweifel nicht nur negativ zu sehen ist, sondern zum Glauben als solchen immer schon dazu gehört. Eine solche Sichtweise erschließt sich aber nur, wenn das Problem von Glaube und Zweifel von einer tieferen Schicht her angegangen wird, nämlich von der anthropologischen und existentiellen Dimension her. Dies soll im Folgenden anhand des Glaubensverständnisses von Karl Jaspers, Peter Wust und Paul Tillich verdeutlicht werden.

2. Karl Jaspers: Die Polarität von Glaube und Unglaube

Karl Jaspers (1883-1969) ist neben Martin Heidegger zweifellos der bedeutendste Vertreter der sog. Existenzphilosophie.11 Von der Medizin und Psychiatrie herkommend, hatte er in Heidelberg zuerst eine Professur für Psychologie inne, bevor er dann in die Philosophie überwechselte. Im ersten Band seiner dreibändigen „Philosophie“ von 1932, der den Titel trägt „Philosophische Weltorientierung“, findet sich ein aufschlussreicher Abschnitt mit der Überschrift „Glaube und Unglaube“.12 Doch bevor ich mich diesem näher zuwende, müssen noch kurz zwei wichtige Aspekte seines Denkens angesprochen werden: der Begriff des „philosophischen Glaubens“ sowie derjenige der „existentiellen Wahrheit“.

Zum ersten Aspekt: Jaspers vertritt die Position eines „philosophischen Glaubens“. Religion, die er als Offenbarungsglauben deutet, lehnt er mit der Begründung ab, diese verendliche Gott und zerstöre die menschliche Freiheit. Dazu wäre viel zu sagen, was aber an dieser Stelle vom Thema zu weit wegführte.13 Trotz dieser scharfen Kritik an der Religion ist aber für Jaspers der innerste Personkern des Menschen, den er mit dem Begriff der „Existenz“ bezeichnet und der für ihn wesentlich durch Freiheit charakterisiert ist, immer schon per se auf „Transzendenz“ bezogen. Existenz und Transzendenz sind für ihn auch, nicht anders als für Augustinus, die eigentlichen „Gegenstände“ der Philosophie, die selbst „ungegenständlich“ sind.

Zum zweiten Aspekt: Für Jaspers ist philosophische Wahrheit wesentlich durch ihren existentiellen Charakter ausgezeichnet, und hierdurch unterscheidet sie sich grundlegend von der einzelwissenschaftlichen Wahrheit. „Die radikale Verschiedenheit des Wahrheitssinns“, schreibt er in seinem monumentalen Werk „Von der Wahrheit“ aus dem Jahr 1947, „zeigt sich eindringlich an dem Unterschied der Wahrheit, deren Bestand mein Wesen nicht betrifft, die ich zwar mit meinem Verstande anerkenne, die aber zu bekennen sinnwidrig wäre, und der Wahrheit, die nur ist, wenn ich ihr durch mein Leben entspreche, die ich ‚bekenne‘, wenn sie meine Wahrheit ist, und die mit dem Ausbleiben des Bekennens selber verschwindet.“14 Jaspers verdeutlicht dies an einem Vergleich zwischen Galileo Galilei auf der einen und Sokrates und Giordano Bruno auf der anderen Seite: „Galilei stellte nicht die Richtigkeit seiner astronomischen Einsicht in Frage, wenn er unter Zwang sie verleugnete, wie er umgekehrt durch ein Bekenntnis sie nicht wahrer gemacht hätte. Sokrates und Bruno starben für ihre philosophische Wahrheit, weil sie mit ihnen identisch war: durch ihren Tod ist eine Wahrheit vollendet worden.“15 Das Leben wird so für das philosophische Denken zur spezifischen Verifikation.

Was Jaspers damit sagen will, ist Folgendes: Nicht das wissenschaftliche Wissen trägt das Leben, sondern der Glaube, der existentieller Natur ist. Ganz in diesem Sinne schreibt er in dem oben genannten Abschnitt aus dem zweiten Band seiner „Philosophie“: „Der Kern der Weltanschauung ist Glaube. Unfähig, Gegenstand eines ihm angemessenen Wissens zu werden, ist er der Ursprung, der an der Grenze des Wißbaren als das Bewußtsein unbedingter Wahrheit spürbar ist.“16

Beim Glauben geht es also um eine unbedingte Wahrheit, für die ich leben und sterben kann – und nicht um eine Wahrheit, die allgemeingültig ist und hypothetisch zwingenden Charakter besitzt, wie das bei der einzelwissenschaftlichen Wahrheit der Fall ist. Wenn Jaspers sagt: „Glaube ist weder durch Argumente zu erzwingen noch durch Faktizität zu beweisen“17, so will er genau das zum Ausdruck bringen. Auch der späte Ludwig Wittgenstein sieht das ähnlich, wenn er schreibt: „Das Christentum gründet sich nicht auf eine historische Wahrheit, sondern es gibt uns eine (historische) Nachricht und sagt: jetzt glaube! Aber nicht, glaube diese Nachricht mit dem Glauben, der zu einer geschichtlichen Nachricht gehört, – sondern: glaube, durch dick und dünn und das kannst Du nur als Resultat eines Lebens. Hier hast Du eine Nachricht, – verhalte Dich zu ihr nicht, wie zu einer anderen historischen Nachricht! Laß sie eine ganz andere Stelle in Deinem Leben einnehmen. – Daran ist nichts Paradoxes!“18

Wenn auch Jaspers ein Vertreter des philosophischen und nicht des religiösen Glaubens ist, so sind seine diesbezüglichen Darlegungen für den letzteren doch sehr erhellend und aufschlussreich. Glaube ist für Jaspers notwendig gebunden an den Zweifel: „Durch den Zweifel wird der zunächst selbstverständliche Glaube in Frage gestellt; erst der darin sich behauptende Glaube ist eigentlich Glaube.“19 Und er gibt dazu die folgende Erklärung: „Hört im Glauben der Unglaube auf, so verschwindet der Stachel; Glaube, der sich nicht mehr bewähren muß, schlummert ein; nur der Glaube, der es vermag, den Unglauben zu sehen, so daß dieser für ihn selbst Möglichkeit bleibt, ist wirklich. Ebenso sinkt der Unglaube, der keinen Glauben mehr bekämpft, in die Dumpfheit des Bewußtseins zurück, wo die fraglosen Daseinsselbstverständlichkeiten herrschen, die Spannung von Glaube und Unglaube aufhört. Glaube und Unglaube sind die Pole des Selbstseins.“20

Dahinter steht die Überzeugung: „Das menschliche Bewußtsein kann nicht umhin, etwas absolut zu setzen, auch wenn es nicht will. Es gibt sozusagen einen unausweichlichen Ort des Absoluten für mich. Streiche ich etwas als absolut für mich, so tritt automatisch ein anderes an seine Stelle.“21 Wir werden sehen, dass Tillich das genauso sieht, wenn er Religion definiert als „das, was uns unbedingt angeht“.

Jaspers unterscheidet näherhin zwischen einem „unbewußten haltlosen Unglauben“ und einem „formulier ten Unglauben“.22 Formulierter Unglaube kommt dort vor, wo Menschen systematisch denken: Dafür gibt es nach Jaspers nicht nur Beispiele in der modernen Welt, sondern auch schon im alten Indien, im alten Judentum sowie in der griechischen Antike.23

Während sich der unbewusste haltlose Unglaube an „chaotisch wechselnde Inhalte“ haftet, spricht der formulierte Unglaube nach Jaspers „mit voller Klarheit […] bestimmte bis zur äußersten Dürftigkeit reduzierte Absolutheiten aus“. Mit Blick auf den Unglauben in der griechischen Antike, wie er sich im Skeptizismus, im Materialismus (Atomismus) und im Hedonismus (Epikureismus) darstellt, schreibt Jaspers: „Die Haltung der Ataraxie [sc. der Unerschütterlichkeit] ist die unpersönliche Ruhe als punktuell und gehaltlos gewordene Unabhängigkeit. Materie ist die dogmatische Behauptung des Sinnlichen oder des dem Sinnlichen zugrunde Liegenden als eines absoluten Objekts. Lust ist die bloße Form positiven Gefühls unabhängig von jedem Inhalt oder reduziert auf sinnliche Lust.“24 Bezeichnend ist, dass es sich bei allen drei genannten Formen um ein Absolutes handelt, das es so in der Wirklichkeit nirgends geben kann, weil es sich hierbei um die „Abstraktion eines Formalen “ handelt: „Die Ataraxie ist die Formalisierung und damit die Erstarrung der Freiheit, die Materie ist die Entwicklung des aller Fülle der Tatsächlichkeit beraubten Daseins, die Lust als rein sinnliche vermag ein menschliches Wesen niemals ganz zu vollziehen.“ In diesem Sinne wird der formulierte Unglaube „zu einem Minimum von Glauben “ mit dogmatischer Natur.25

Gegen den Materialismus kann nach Jaspers eingewendet werden, dass Bewusstsein und Seele nicht aus der Materie begriffen werden können; gegen den Hedonismus, dass es „Lust überhaupt“ nicht gibt; gegen den Skeptizismus, dass er selbst-widersprüchlich ist, da er für seine Grundannahme das in Anspruch nimmt, was er leugnet, nämlich Wahrheit. Damit sind die Schwierigkeiten aufgedeckt, die bei Behauptung des Unglaubens bestehen. Als solche sind diese Widerlegungen aber selbst nur negativ, das heißt, „sie erfüllen nicht, sondern sie befreien nur von dem Druck, den jene Behauptungen schaffen könnten, wenn man sie für unausweichlich richtig hält“.26

 

Es wurde deutlich, dass selbst im Unglauben noch ein Rest von Glauben ist. Aber nach Jaspers gilt auch das Umgekehrte: Im Glauben gibt es einen Unglauben. Er führt dazu aus: „Der Glaube ist nur echt, der den Unglauben kennt, erfährt und erträgt. Da nur der Glaube, der es sich durch Unglauben schwer macht, wahrhaftig bleibt, drängt der Glaube zu den Erscheinungen des Unglaubens, um seiner gewiß zu werden im Überwinden des Unglaubens. Darum hat der Glaube den Unglauben als Möglichkeit in sich.“27 Das heißt, Glaube und Unglaube sind letztlich polar aufeinander bezogen. Es besteht somit nur die Alternative, entweder die Spannung von Glauben und Unglauben auszuhalten oder „unklar in Glaubenslosigkeit“ dahinzuleben,28 womit aber Jaspers zufolge dem Menschsein nicht Genüge getan wird.

3. Peter Wust: Der Mensch – zwischen Ungewissheit und Wagnis

Der „Philosoph von Münster“, wie der christliche Existenzphilosoph Peter Wust (1884-1940) auch gerne genannt wird, wollte ursprünglich katholischer Priester werden.29 Aber eine schwere Glaubenskrise, die dazu führte, dass er etwa von 1905 ab dem christlichen Glauben ziemlich passiv gegenübergestanden hat, ließ ihn den Beruf des Gymnasiallehrers ergreifen, bevor er dann 1930 aufgrund seiner regen philosophischen Publikationstätigkeit zum Philosophieprofessor an der Universität Münster ernannt wurde, wo er vornehmlich für die Ausbildung der angehenden Priesteramtskandidaten zuständig war. Schon im Jahr 1918 hatte eine Begegnung mit dem Philosophen und evangelischen Theologen Ernst Troeltsch, wie Wust selbst bekennt, eine „Bresche“ in seine Skepsis geschlagen und ihn „wenigstens wieder zum Glauben an so etwas wie einen persönlichen Gott zurückgeführt“.30

Im Mittelpunkt von Wusts Denken, das u.a. von Karl Jaspers beeinflusst ist, steht die Frage nach dem Menschen; zum einen: „Was ist der Mensch?“ – die Frage der Philosophischen Anthropologie, sodann: „Wie wird man Mensch?“ – die Frage der Existenzphilosophie. Und zentral ist hier seine Aussage, dass der Mensch das „animal insecurum“ ist, das ungesicherte Lebewesen – im Gegensatz zum Tier, das das „gesicherte Lebewesen“ ist. Und diese „Insecuritas“, die Ungesichertheit, die für Wust das entscheidende Existential des Menschen ist, ist seinem Geistbesitz geschuldet, näherhin seiner Freiheit, mit der immer auch der Wagnischarakter des menschlichen Lebens verbunden ist. Der Titel seines bekannten Hauptwerkes von 1937 bringt das auch zum Ausdruck: „Ungewißheit und Wagnis“.

Diese Entscheidungs- und Wagnissituation wird nach Wust um so tiefer und offensichtlicher, je weiter wir vordringen zum eigentlich Menschlichen, d.h. in den Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Welt und in den Fragen nach unserem Heil, also: in Philosophie und Religion. Die Situation der Ungesichertheit spielt somit nicht nur im vitalen Bereich eine entscheidende Rolle, sondern sie verschärft sich geradezu in den Bereichen der geistigen und übernatürlichen Existenz des Menschen. In keinem dieser Bereiche kommt der Mensch Wust zufolge zu einer letzten Gewissheit.

Wusts Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ setzt mit der neutestamentlichen Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) ein. Hiernach verlässt ja bekanntlich der jüngere der beiden ungleichen Brüder, allen Warnungen des weise vorsorgenden Vaters zum Trotz, die Gesichertheit des väterlichen Hauses und stürzt sich in das Wagnis einer unbekannten Welt. Wust deutet diese Parabel als ein Bild des Menschseins als solchen. Hiernach verlangt das Leben in seiner Sinnganzheit die unaufhebbare Dialektik von Geborgenheit und Ungeborgenheit. Es ist nicht so, als gäbe es nur die beiden Seiten der Geborgenheit oder der Ungeborgenheit, sondern diese beiden Seiten sind dialektisch ineinander verschlungen: Es gibt eine Ungeborgenheit in der Geborgenheit, und es gibt eine Geborgenheit in der Ungeborgenheit. Wust führt dazu aus: „Wohl hat zunächst die Gesichertheit des Lebens ihr Recht und ihren ganz tiefen Sinn. Und man wird es selbstverständlich finden, daß der Mensch auf sie hinstrebt und sich gegen die Ungesichertheit des Lebens zu schützen sucht. Das Leben selbst aber, wenn man es auf sein Wesen hin näher untersucht, scheint viel eher mit der Ungesichertheit insgeheim im Bunde zu sein als mit der Gesichertheit, und zwar nicht etwa, wie der Mensch aus seiner Alltagssicht so leicht anzunehmen geneigt ist, weil es ihm aus einer ihm eingeborenen Feindseligkeit heraus sein Glück mißgönnen würde, sondern vielleicht gerade deshalb, weil erst die Ungesichertheit zu jener besonderen Art von Gesichertheit führt, die den Menschen als Menschen über sich selbst hinausdrängt und ihn damit erst ganz zu sich emporhebt.“31

Die Ungesichertheit hat somit für Wust immer auch einen positiven Sinn. Dabei geht es ihm aber in keiner Weise darum, jeglicher Tradition und allem Ordnungsstreben des Menschen den Kampf anzusagen, aber nach Wust steht „das Sekuritätsstreben der Menschen […] so sehr im Vordergrunde aller Lebenserfahrung, daß es geradezu einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, um die positive Bedeutung der Ungesichertheit als ein ernstes metaphysisches Problem des Lebens in den Blickpunkt der Alltagsmenschen zu bringen“.32 Wust will die „Totalität des Lebens“ sichtbar machen. Das ist ihm zufolge aber nur möglich, wenn die ganze Dialektik des Lebens nach seinem Wechselverhältnis von Gesichertheit und Ungesichertheit im Auge behalten wird.

Die Daseinssituation des Menschen unterscheidet sich nach Wust – wie schon angedeutet – nicht nur gradhaft von der Daseinssituation des Tieres, sondern wesenhaft. Es liegt hier ein „seinsmäßiger ‚hiatus‘“ vor. Was meint er damit? „Das Tier ist von Natur ein ‚animal securum‘, ein Wesen der Seinsbehütetheit. Demgegenüber ist der Mensch ebenso naturhaft das ‚animal insecurum‘ schlechthin, das Wesen, dem die Ungesichertheit von Hause aus in seine ganze Struktur mithineingegeben ist.“33 Diese Insecuritas humana kann man von zwei Seiten aus betrachten, sowohl von der objektiven als auch von der subjektiven Seite her. „Objektiv betrachtet, ist der Mensch ein Wesen der Ungesichertheit. Dem entspricht auf der subjektiven Seite seine Ungewißheit in den entscheidensten Fragen seines Daseins.“ 34 Aber diese Ungewissheit gibt dem Menschen auch wiederum den nötigen Spielraum für seinen Selbsteinsatz, für das Wagnis, also für jene Form der Freiheit, die nur ihm eigen ist.

Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch als „Sinnenwesen und Geistwesen“ „gewissermaßen in eine paradoxe Situation versetzt“35: Er ist nämlich von seinem Wesen her „heimatlos“ – wie Wust sagt. Und in dieser Heimatlosigkeit ist der Wesenskern seiner Insecuritas zu suchen. Wust beschreibt diese Heimatlosigkeit so: „Es ist dem Menschen zugemutet, dauernd in einem dialektischen Schwebezustand zu existieren, indem sein Wesen stets nach zwei Seiten hin ponderiert, ohne daß jemals ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Zwischen […] Bios und Logos ist der Mensch so eingespannt, daß er sowohl beiden Bereichen zugehört als auch in keinem der beiden Bereiche wahrhaft ansässig ist. Ein ewiger, unschlichtbarer Widerstreit in ihm zwingt ihn dazu, seine Existenz von Augenblick zu Augenblick im Kampfe mit sich selbst zu erringen, und niemals kann er hoffen, diesen Kampf endgültig durchgekämpft zu haben. Hier erst kommt der tiefere Sinn einer Indefinitheit zum Vorschein, die selig-unselige Unendlichkeitsbestimmtheit seines Wesens.“36

Diese Heimatlosigkeit des Menschen sieht Wust durch eine tragische Dialektik gekennzeichnet, die daraus resultiert, dass für ihn der Zustand einer absolut unanfechtbaren Selbstsicherheit prinzipiell nicht zu erreichen ist. So bleibt selbst der ausgeglichenste Mensch von dieser Situation der Insecuritas dauernd überschattet. Diese grundsätzliche Dialektik der menschlichen Daseinssituation rührt letztlich daher, dass es dem Menschen eben nicht möglich ist, sich von der „metaphysischen Spannung seiner Natur“ abzulösen, die darin besteht, dass er weder reines Tier noch reiner Geist ist. Uns Menschen ist eben „die schöne, sinnliche Naturunmittelbar des Tieres“ ebenso versagt wie das Extrem eines reinen Spiritualismus. Lehnt sich hier der Logos gegen den Bios auf, so dort der Bios gegen den Logos.37

Der objektiven Seite der Insecuritas humana entspricht die subjektive Seite der menschlichen Ungewißheit. Trotz seines Wissens lebt der Mensch in einer prinzipiellen Ungewissheit. Wust bezeichnet ihn darum auch als „metaphysisches Sucherwesen“: „Der Mensch ist der ewige Glückssucher, der unermüdliche Wahrheitssucher, der nie zur Ruhe gelangende Gottsucher.“38 Und er ist das alles, weil er bei aller Möglichkeit zum Wissen letztlich doch in der Ungewissheit bleibt. Bei aller prinzipiellen Evidenzmöglichkeit bleibt doch auch immer die Ungewissheit der Evidenz. Augustinus und Cusanus haben hierfür ja bekanntlich den Ausdruck der docta ignorantia geprägt.