Alles Materie - oder was?

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Alles Materie - oder was?
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Hans-Dieter Mutschler

Alles Materie

– oder was?

Das Verhältnis von

Naturwissenschaft

und Religion

Hans-Dieter Mutschler

Alles Materie

– oder was?

Das Verhältnis von

Naturwissenschaft

und Religion

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

(Foto: Angela Waye/shutterstock.com)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03923-3 (Print)

978-3-429-04852-5 (PDF)

978-3-429-06271-2 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Einleitung

1. Der kluge und der primitive Materialismus

a. Der kluge Materialismus

b. Der primitive Materialismus

2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?

3. Die Leib-Seele-Debatte

a. Die falsche Alternative

b. Peter Bieris drei Prinzipien

c. Die Frage nach den Erlebnisqualitäten

d. Das Gehirn als Beziehungsorgan

4. Die drei Dogmen des Materialismus

a. Das materielle Fundament

b. Das Supervenienzprinzip und die Statik des Universums

c. Die kausale Geschlossenheit der Welt und ihre Dynamik

5. Essentialismus und die Aufhebung der Moral

a. Die Trennung von Theorie und Praxis

b. Technologische Barbarei

c. Die Alternative

6. Praktischer und theoretischer Materialismus

a. Subjekt und Objekt

b. Eine andere Sichtweise: das Mittelalter

c. Das Habenwollen und die Wissenschaft

7. Glaube und Wissenschaft

a. Es gibt kein richtiges Leben im falschen

b. Sozialkritik und das Vertrauen ins Sein

c. Der naturalisierte Glaube

d. Die Architektur als Symbol

e. Mutige Theologen

8. Theologie der Natur

a. Das faktisch- und das normativ-Allgemeine

b. Der unendlich große Kosmos der Physik Quantität und Qualität

c. Das Leiden in der Natur Zufall und Zweckmäßigkeit

d. Verlust und Bedeutung des Symbolischen

e. Der „overview effect“ und das Unverfügbare im Verfügbaren

Literatur

Einleitung

Vor 200 Jahren war in Deutschland der Hegelianismus Mode. Wer etwas war, war Hegelianer. Die Hegel’sche Philosophie steht am Ende einer Entwicklung, die mit Kant beginnt und über Fichte und Schelling zu ihrem Höhepunkt führt, als den sich Hegel ganz eindeutig sah. Er fühlte sich aber nicht nur als Höhepunkt der Philosophiegeschichte (was arrogant genug gewesen wäre), sondern zugleich als der Höhepunkt der gesamten Kulturgeschichte seit über 5000 Jahren. Goethe hat sich in seinem „Faust“ über diese Wichtigtuerei lächerlich gemacht, aber wer etwas auf sich hielt, war vor 200 Jahren dennoch Hegelianer.

50 Jahre später war der ganze Spuk verflogen. Die völlig überhöhten Geltungsansprüche der Deutschen Idealisten hatten sich als illusorisch erwiesen. Das änderte aber nichts daran, dass man sich in Deutschland weiterhin als Spitze der kulturellen Entwicklung sah, wenn auch aus anderen Gründen. Die Deutschen hatten – so ihre schmeichelhafte Selbstdeutung – die beste Technik, die beste Naturwissenschaft, das schlagkräftigste Militär und die besten Waffen. Im Ersten Weltkrieg zerstob diese Illusion deutscher Überlegenheit, auch wenn man es nicht so recht wahrhaben wollte und sich eine ‚Dolchstoßlegende‘ zurechtphantasierte.

Hier legt sich der Verdacht nahe, dass es so etwas wie eine ‚kollektive Egozentrik‘ gibt, d. h., das Kollektiv hat Neigung, sich prinzipiell überlegen zu fühlen, und zwar nicht nur anderen gesellschaftlichen Gruppierungen oder Nationen gegenüber, sondern auch bezüglich der gesamten Vergangenheit. Wir lieben es, vom hohen Ross herabzuschauen, und das war wohl schon immer so. Die Griechen nannten alle Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden, ‚Barbaren‘, was lautmalerisch so viel heißt wie ‚Blabla‘. Wer kein Griechisch verstand, war allein aus diesem Grunde ein Barbar.

Es spricht nichts dafür, dass wir diese kollektive Egozentrik inzwischen abgelegt hätten. Sie wandelt höchstens ihre Gestalt. Heute sind wir zumeist der Meinung, dass unsere Höchstleistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik eine Stufe der Kultur repräsentieren, verglichen mit der alle vergangenen Kulturen in Mythos, Mystik und Aberglauben versinken. Im Mittelalter glaubte man an Gott, Hexen, Engel und Teufel, fiktive Wesen, die vor dem Licht der wissenschaftlichen Aufklärung ins Nichts verschwinden. Stattdessen reden wir uns ein, realistisch zu sein und nichts als realistisch. Nach unserer Überzeugung besteht die Welt aus Atomen und alle höheren Formen sind nichts als die Zusammenballung solcher Atome und wenn wir ihre Bindungsgesetze genau genug kennen würden, könnten wir z. B. aus den Zuständen der Atome in unserem Gehirn ableiten, was wir denken, fühlen oder wollen. Der Geist würde sich als ein Sekundärphänomen der feuernden Neuronen im Gehirn erweisen.

So wie der Dampf über einem sonnenbeschienenen Gewässer keine Substanz eigenen Rechtes ist, so ist der menschliche Geist nach dieser Auffassung nichts als eine Ausdünstung des Gehirns, die wir bald mathematisch berechnen können, und wo der menschliche Geist als eine eigenständige Größe verschwindet, brauchen wir von Gott erst gar nicht mehr zu reden. Gott degeneriert in dieser Sichtweise zu einem Placeboeffekt der Evolution, eine nützliche Illusion im Kampf ums Überleben, d. h., wer heute noch ernstlich am Glauben festhält, tut dies wider besseres Wissen.

Eine solche Art der ‚wissenschaftlichen‘ Aufklärung dominiert heute in Intellektuellenkreisen, und derjenige, der sie sich zu eigen macht, fühlt sich haushoch überlegen über jeden traditionellen Humanismus, vor allen Dingen aber über die Religion. So gesehen, ist der gläubige Mensch im Mittelalter stehen geblieben, und die Humanisten sind kulturkonservativ zu spät Gekommene, die an ihren Überzeugungen festhalten wie jemand, der die geschnitzte Kuckucksuhr seines Großvaters an der Wand hängen lässt, auch wenn sie nicht mehr zu seinen Möbeln passt.

Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass der Materialismus keineswegs aus der Naturwissenschaft folgt, und es wird sich weiter zeigen, dass er keinerlei Gründe hat, sich das gute Gewissen der Aufklärung zu machen. Es handelt sich vielmehr um eine dieser Formen kollektiver Egozentrik, die es in der Geschichte schon so oft gegeben hat.

Vor 30 oder 40 Jahren war unter Intellektuellen der Neomarxismus Mode. Man schwadronierte ständig von den „sozioökonomischen Bedingungen“ und weil alles, was es gibt, sozial und ökonomisch bedingt ist, konnte man auch zu allem etwas sagen und musste niemals fürchten, widerlegt zu werden. Diejenigen, die diese Rede im Munde führten, fühlten sich ebenfalls allem „bürgerlichen Denken“ – wie sie es nannten – haushoch überlegen und pflegten ihr moralisch-intellektuelles Überlegenheitsgefühl als einen Sonderfall kollektiver Egozentrik.

All das ist nun Geschichte. Diejenigen, die seinerzeit den Neomarxismus vertraten, leben immer noch unter uns, aber sie trauen sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, weil sie nur im Kollektiv stark waren. Diese kollektive Egozentrik braucht die Stallwärme Gleichgesinnter, da sie nicht auf persönlicher Überzeugung beruht, sondern auf der Selbstbestätigung durch das Rudel. Aus diesem Grunde erheben die Neomarxisten auch dann nicht ihre Stimme, wenn die Ereignisse danach schreien. Die Bankenkrise von 2007 lief in vieler Hinsicht nach Schemata ab, die Marx vor 150 Jahren prophezeit hatte. Aber die Alt-68er schwiegen beharrlich. Es hätte Mutes bedurft, jetzt aufzustehen, aber sie fühlten sich offenbar nur im Kollektiv wohl, das sich inzwischen aufgelöst hatte.

 

Vor einem Jahr schrieb der Philosoph und ebenfalls Alt-68er Johannes Rohbeck ein neues Buch über Karl Marx. Dazu gehört heute Mut. Rohbeck ist durchaus kritisch in Bezug auf seinen Meister, dem er in vielem nicht mehr folgt. Aber Rohbeck vertritt die These, dass man gerade heute wieder an bestimmte Aspekte der Marx’schen Lehre anknüpfen sollte. Recht hat er. Aber eine kollektive Befindlichkeit steht dem im Wege. Wir heulen heute mit ganz anderen Wölfen.

Ich möchte also im Folgenden den materialistischen Zeitgeist kritisieren, der heute zur Norm wurde, als eine Form der kollektiven Egozentrik, erfunden zum Zwecke des Überlegenheitsgefühls. Dabei ist es aber nützlich, sich über gesamtgesellschaftliche Hintergründe zu verständigen, die diesen Materialismus überhaupt erst möglich gemacht haben.

Es scheint, dass wir zwischen einem praktischen und einem theoretischen Materialismus unterscheiden sollten. Der praktische Materialismus hält alles für real und nützlich, was ihm die Sinne darbieten. Er ist die Ideologie der Konsumgesellschaft. Die Konsumgesellschaft beruht auf der illusorischen, aber nichtsdestoweniger tief gegründeten Überzeugung, dass die Befriedigung der Sinne den Sinn Lebens garantiert. Glück und Konsum gehen in dieselbe Richtung. Es gibt allerdings Umfragen, wonach die Menschen in Bangladesh oder Butan am glücklichsten sind, obwohl es sich um die ärmsten Länder auf der Welt handelt. Das hindert aber nicht, dass wir an der Illusion festhalten, Konsum oder allgemein die Sinnenlust mache uns glücklich, und eine allgegenwärtige Werbung hämmert uns diesen Unsinn ständig ein, damit wir ja nicht auf die Idee kommen, zu zweifeln. Werbung ist das nie endende Mantra der Konsumgesellschaft.

Der theoretische Materialismus hat mit diesem praktischen eigentlich nichts zu tun. Er beruht auf der Überzeugung, dass alles, was es auf der Welt gibt, mit Hilfe der Naturwissenschaft erklärt werden kann, und weil sich die Naturwissenschaft auf die Materie bezieht, scheint damit eine materialistische Position begründet. Weil dieser theoretische Materialismus an sich nichts mit dem praktischen zu tun hat, kann man den einen auch ohne den anderen haben, und so war das oft in der Vergangenheit.

Der Marxismus war praktischer Materialismus, denn die Marxisten glaubten gerade nicht, dass sich alles auf der Welt naturwissenschaftlich erklären ließe. Sie nannten diese Position herablassend „mechanistischen Materialismus“ und hielten sie für eine „bürgerliche“ Erfindung. Sie hingegen glaubten an die Dialektik, als eine höhere Logik, die Hegel erfunden und Marx auf die Füße gestellt habe. Die Marxisten waren also keinesfalls Szientisten. Ihr Materialismus war von praktischer Natur.

Umgekehrt muss der theoretische Materialist nicht auch ein praktischer sein. Man kann ohne Weiteres glauben, dass die Naturwissenschaft alles erklärt, was es auf der Welt gibt, zugleich aber seine Wissenschaft geradezu asketisch betreiben. Der theoretische Materialist muss keinesfalls von der Art sein, dass er ständig nur seine Sinnenlust maximiert. Beides hat erst einmal nicht viel miteinander zu tun, und deshalb gibt es viele Naturwissenschaftler, die in ihrem praktischen Verhalten sehr idealistisch sind, die aber mit Gott nichts zu tun haben wollen.

Gleichwohl gibt es hier eine gewisse Affinität: Wenn in einer Gesellschaft die Überzeugung vorherrschend ist, real sei nur, was uns die Sinne darbieten, dann ist in einer solchen Gesellschaft der Boden dafür bereitet, auch nur das für real zu halten, was wir messen und wägen können und was in eine mathematische Formel hineinpasst. Von daher gibt es eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen theoretischem und praktischem Materialismus. Wir werden diese Wahlverwandtschaft am Ende des Buches näher darstellen.

Die vorliegende Untersuchung handelt aber zunächst einmal vom theoretischen Materialismus. Es geht um eine Kritik der Ideologie, wonach alles im Universum nur eine Zusammenballung von Atomen sei und wonach wir über alles hinreichend Bescheid wüssten, wenn wir diese Zusammenballung verstanden hätten. In Wahrheit lässt sich die Welt nicht allein ‚von unten her‘ begreifen. Es ist wohl wahr, dass die Materie alles trägt, aber sie bestimmt deshalb noch längst nicht alle höheren Inhalte. Dies dennoch anzunehmen wäre ungefähr so, als würden wir glauben, dass der Sockel die Statue festlegt. Zwar fällt die Statue ohne den Sockel um, aber ein und derselbe Sockel trägt ganz verschiedene Statuen. Der Sockel ist nur die Möglichkeitsbedingung der Statue. Er bestimmt nicht ihren Inhalt und ihre konkrete Gestalt. So wären auch wir nichts ohne Materie, aber die Materie legt unseren Geist nicht in jeder Hinsicht fest. Der Geist hat seine eigenen Freiheitsgrade.

Verständlich werden uns die Weltphänomene erst, wenn wir beides, Geist und Materie, ganz ernst nehmen. Aristoteles war der Meinung, dass sich Geist und Materie auf verschiedenen Niveaus durchdringen und dass wir ein adäquates Weltverständnis erst erlangen, wenn wir das Zusammenspiel dieser beiden gegensätzlichen Komponenten, also von Geist und Materie, richtig erfasst haben. Wir könnten daher sagen: Aristoteles betrachtete die Welt insgesamt wie einen psychosomatischen Zusammenhang.

So wie wir den Menschen nicht hinreichend verstehen können, wenn wir nur seine körperlichen Funktionen berücksichtigen, so hat alles in der Welt eine Art von psychosomatischem Zusammenhang, der uns erst die Phänomene in ihrer Ganzheit begreiflich macht. Diesen Gedankengang werden wir nach und nach im Sinn einer Alternative zum heute herrschenden Materialismus entfalten. Es genügt ja nicht, den Materialismus argumentativ zurückzuweisen. Wir möchten auch gerne wissen, was an seine Stelle treten könnte.

Übrigens werden wir uns zumeist nicht dem heute herrschenden Sprachgebrauch anschließen, wonach wir nicht mehr von ‚Materialismus‘ reden sollten, sondern von ‚Physikalismus‘ oder von ‚Naturalismus‘. Der Grund liegt darin, dass es im 18. Jahrhundert einen Klötzchenmaterialismus gab, der sich parasitär an die Newton’sche Physik angehängt hatte. Newton selbst war absolut kein Materialist, aber besonders in Frankreich wurde seine Physik materialistisch gedeutet, indem man unterstellte, das eigentlich Reale seien kleine Materieklötzchen. Als dann im 20. Jahrhundert die Quantentheorie entdeckt wurde, war diese Vorstellung unhaltbar geworden und man sagte sich: Egal, was die Physik an materiellen Bausteinen zutage fördert, das, was sie entdeckt, nennen wir nun ‚das Reale‘, mögen es Punktmassen, Elementarteilchen, Quarks oder Superstrings sein. Man tauschte also das Etikett aus und nannte den Materialismus nun vornehmer ‚Physikalismus‘. Andere wiederum grenzen ihre Weltanschauung gegen das Übernatürliche ab und behaupten, dass es nur die Natur gibt, wie sie durch die physikalischen Gesetze beschrieben wird. Daher der Begriff des ‚Naturalismus‘. Aber ontologisch gesehen, handelt es sich in jedem Fall um ein und dasselbe, nämlich um einen weltanschaulichen Materialismus, weshalb wir es bei diesem Wort belassen sollten.

Es geht hier also um eine Kritik der Auffassung, wonach die Welt nicht nur aus Atomen, Elementarteilchen oder meinetwegen Superstrings besteht, sondern wonach diese materiellen Partikel alles Übrige bestimmen und auf diese Art den traditionellen Geist und damit auch gleich noch den lieben Gott überflüssig machen. Diese sehr verbreitete Auffassung wird sich als haltlos, als ideologisch verbrämt herausstellen, und wir werden deshalb nach einer Alternative fragen müssen.

1. Der kluge und der primitive Materialismus

Es gibt einen klugen und einen primitiven Materialismus. Zunächst wollen wir uns auf den durchaus klugen Materialismus beziehen, um von vornherein den Verdacht auszuräumen, wir hielten den Materialismus ipso facto für primitiv und schlecht. Gläubige Menschen unterschätzen oft die Wucht des Negativen in der Welt, das doch eine mächtige Instanz gegen ihre Überzeugungen darstellt. Es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, angesichts von Auschwitz und Birkenau, angesichts der Gräuel von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot oder angesichts von Hiroshima und Nagasaki immer noch an einen gütigen Gott zu glauben. Nicht dass ich es für unmöglich hielte, aber das Elend dieser Welt ist offenkundig eine furchtbare Zumutung für den Glauben, und wer sich zu einem solchen Glauben nicht entschließen kann, der hat womöglich seine guten Gründe und mag im Übrigen ein durchaus guter Mensch sein. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der Glaube etwas Selbstverständliches sein sollte.

In der zweiten Hälfte dieses Kapitels soll also auch über den Primitivmaterialismus gehandelt werden, der auf der Illusion beruht, wir würden nur gewinnen, wenn wir die Religion im Mülleimer der Geschichte verschwinden lassen. Das ist nicht nur böswillig, sondern töricht. Der Verlust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte. Diese durchaus wertvolle Substanz des Christlichen können wir in einen gesellschaftlichen und in einen individuellen Aspekt aufteilen. In beiden Bereichen hinterlässt der Verlust des Glaubens eine empfindliche Lücke, und diejenigen, die nicht einfach nur von Hass gegen die Religion erfüllt sind, haben diesen Verlust erkannt. Es sind dies die klugen Atheisten, und sie sind oft traurig über das Verlorengegangene. Karl Rahner unterschied schon vor 50 Jahren die triumphalistischen von den traurigen Atheisten. Letztere sind unsere eigentlichen Gesprächspartner.

a. Der kluge Materialismus

Im Jahr 2004 fand in der Katholischen Akademie in München ein Gespräch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger, damals noch Kardinal, statt. Das Gespräch wurde als sensationell, von manchen auch als Anstoß erregend empfunden, weil Habermas immer als der Repräsentant einer links-aufgeklärten – selbstverständlich glaubenslosen – Vernunft galt, während man Ratzinger eher zum konservativen Flügel der Kirche rechnete.

Was wollten die beiden voneinander? Eine leicht zynische Lesart würde so lauten: Da treffen sich zwei ältere Herren, deren jeweils multinationale Unternehmen Gefahr laufen, bankrott zu machen, so dass eine heilige oder auch unheilige Allianz zustande kam, so wie sich zwei umstürzende Bäume gegenseitig stabilisieren, damit es nicht so schnell zu Ende geht, sozusagen eine Art von Rentenkonkubinat. Der atheistisch eingestellte Philosoph Hans Albert schäumte vor Wut, weil er annahm, der Aufklärer Jürgen Habermas sei nun zu Kreuze gekrochen, vielleicht weil man im Alter – den Tod vor Augen – eine Rückversicherung braucht in dem Sinn, wie sich große Aufklärer und Atheisten von Voltaire bis Heinrich Heine noch auf dem Totenbett zum christlichen Glauben bekehrt haben. Man weiß ja nie, was da noch kommt.

Aber diese Deutung wäre ganz falsch. Jürgen Habermas hat sich nicht zum Glauben bekehrt. Sein Motiv ist ein ganz anderes, und man sollte dieses Motiv nicht nur als eine strategische Ausflucht aus dem Ungenügen der eigenen Position sehen, so wie Ratzinger seinen Kontrahenten nicht einfach nur als einen reuigen Sünder sah, der in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Eine positive Lesart, die dem Sachverhalt wohl eher angemessen wäre, ist die, dass hier zwei bedeutende Vertreter ihrer jeweiligen Weltanschauung von der Sorge umgetrieben wurden, das moderne Gemeinwesen könne von innen her ausgehöhlt werden und irgendwann einmal moralisch kollabieren.

Die Problematik, die hierin liegt, hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde so ausgedrückt, dass unser freiheitlichdemokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Dieser Satz machte später als ‚Böckenförde-Diktum‘ Karriere. Er drückt ein Paradox demokratischer Gesellschaften aus, die die Weltanschauung ihrer Bürger nicht mehr festlegen und auf die Art sanktionieren wie noch zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar. Kantisch gesprochen, fordert der Staat nur noch Legalität, aber keine Moralität mehr, d. h., er verlangt nur noch Gesetzeskonformität. Aus welchen Gründen der Bürger den Gesetzen gehorcht, ob aus Angst vor Strafe, aus Berechnung oder aus Gutwilligkeit, betrifft den Gesetzgeber nicht weiter, denn der demokratische Staat schnüffelt nicht mehr hinter den Motiven seiner Bürger her. Aber dann kann es geschehen, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nach und nach austrocknet.

 

Der Staat ist nämlich darauf angewiesen, sich moralisch zu reproduzieren, so wie er sich auch physisch reproduzieren muss. In beiderlei Hinsicht haben wir heute ein Problem. In allen westeuropäischen Ländern werden zu wenige Kinder geboren. Die eingewanderten Muslime andererseits haben viele Kinder. Es gibt Untersuchungen, wonach bisher nur religiös geprägte Gesellschaften ihr eigenes physisches Überleben sichern konnten. Selbst die vielgelobten Kinderkrippen in der ehemaligen DDR hatten nicht die Wirkung, dass dieser atheistische Staat sein eigenes Überleben sichern konnte. Die hatten auch zu wenig Kinder.

Für die moralische Reproduktion gilt etwas Ähnliches, denn nur eine lebendige Moral lässt sich unseren Kindern beibringen, denn wir sollten Kinder nicht nur physisch, sondern auch moralisch zur Welt bringen. Nun garantierte die traditionelle Religion eine gewisse sittliche Grundsubstanz des Gemeinwesens, aber nichts ist an deren Stelle getreten, vielmehr ist das moderne Individuum gewöhnlich auf sein eigenes Wohlergehen fixiert, vielleicht noch auf das seiner unmittelbaren Nachkommen, aber nur noch selten auf das Wohlergehen des Staates. Der Staat ist jetzt nur noch der Garant meines persönlichen Glücks. Er sperrt die Verbrecher weg, sichert meine Rente und regelt das Verkehrschaos, aber wir haben kein affektives Verhältnis mehr zu ihm.

In seiner Antrittsrede von 1961 sagte John F. Kennedy den berühmt gewordenen Satz: „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend – war zur selben Zeit, nämlich ab 1963, Bundeskanzler geworden und hatte kurz zuvor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben „Wohlstand für alle“. Während sein Vorgänger, Konrad Adenauer, der im Dritten Reich das eigene Leben riskiert hatte, stets darauf achtete, dass Deutschland nach den Zeiten der Barbarei wieder ein Land der sittlichen Substanz würde, heizte Erhard einseitig den Konsum an, so als hinge unser Glück allein davon ab. Es scheint, dass wir ihm seither gefolgt sind und dass der private Konsum und die Steigerung des individuellen Lebensstandards unser vorrangiges Ziel sind. Dies gilt selbstverständlich nur statistisch (rühmliche Ausnahmen bestätigen immer die Regel).

Diese Dominanz des Hedonismus und des Habenwollens hat bei Josef Ratzinger für ein pessimistisches Geschichtsbild gesorgt. Er sieht die heutige Gesellschaft in Relativismus und Hedonismus versinken und empfiehlt als Gegenmittel die christliche Religion. Aus diesem Grunde führte er als Papst das Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ fort, das sein Vorgänger ins Leben gerufen hatte. Es ist aber nicht sicher, ob wir den herrschenden Hedonismus der Gesellschaft, den niemand bestreiten kann, moralisierend deuten sollten, denn die Menschen sind heute nicht schlechter als früher, aber vielleicht fehlt ihnen die motivierende Kraft zur Selbstlosigkeit, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu formal sind. Die Menschen sind eben Herdentiere und vielleicht nicht einmal zu Unrecht, denn wir sind auf Anerkennung und Kooperation angewiesen. Wenn sich in einer Gesellschaft wie der unsrigen das individuelle Habenwollen als Grundhaltung durchgesetzt hat, dann wird der Einzelne die Tendenz haben, sich dem anzupassen, und man sollte deshalb hier nicht zu rasch mit moralischen Kategorien und Verurteilungen arbeiten. Sicher aber scheint, dass dieses Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ keine guten Chancen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Völker Europas erneut der Kirche beugen werden.

Habermas beurteilt die Situation ebenfalls sehr pessimistisch, wenn auch aus anderen Gründen. Für ihn als Sozialphilosoph sind die multinationalen Unternehmen eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, und was ihn besonders beunruhigt, sind die fortschreitenden Medizintechnologien, die in eine neue Form der Barbarei hineinführen könnten, dann nämlich, wenn Menschen die Eigenschaften ihrer Nachkommen manipulieren, ohne dass diese die Möglichkeiten hätten, sich zu wehren. Ein weiterer Grund – aber das sagt er nicht so laut – könnte sein, dass er Zweifel am eigenen Projekt hat.

Habermas ist ein großer Intellektueller, und er entwirft sein Konzept des Staates allein von der Vernunft her. Alles Substanzielle, Nationale, Patriotische, Metaphysische lehnt er ab. Daher übernahm er von Dolf Sternberger den merkwürdigen Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘. Das ist ein weit hergeholtes Hirnkonstrukt. Der Patriot opfert im Grenzfall sein Leben für den Staat, aber wer wird bereit sein, für eine Verfassung zu sterben? Vielleicht sind diesem großen Intellektuellen inzwischen doch Zweifel am eigenen Intellektualismus gekommen, denn der Staat reproduziert seine sittliche Substanz – wenn überhaupt – aus Leidenschaft und nicht aus der reinen Vernunft – so wie auch sonst die Kinder gezeugt werden. Ein aus Vernunft gezeugtes Kind würde in eine lieblose Welt hineingeboren.

Jedenfalls kann man sich gut vorstellen, dass Habermas aus Verzweiflung über die sittliche Erosion der Gesellschaft dort Hilfe sucht, wo er noch genügend Substanz vermutet: bei der Kirche. Er würde natürlich nie so weit gehen, den Glauben als Remedium der modernen Krankheit zu empfehlen, denn in Wahrheit hat er ein rein instrumentelles Verhältnis zur Religion. Er sieht in ihr so etwas wie das Rohöl der Vernunft, das mit Hilfe der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgecrackt und in gebrauchsfähigen sozialen Treibstoff verwandelt werden muss. Die Religion ist ihm lediglich Mittel zum Zweck der Vernunft.

Wie auch immer, wir können in diesem Dialog Ratzinger – Habermas ein Symptom dafür sehen, dass verantwortliche Vertreter gegensätzlicher Weltanschauungen das moralische Defizit der modernen Gesellschaft erkannt haben, das durch den Verlust des Glaubens hervorgerufen wurde. Auf einer kollektiven Ebene haben wir es nicht vermocht, diesen Verlust zu kompensieren, und eine Zivilreligion wie in den USA existiert bei uns nicht. An diese Zivilreligion und an den intakten Patriotismus der US-Amerikaner konnte John F. Kennedy appellieren. Ludwig Erhard hätte das nicht gekonnt, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte ja gar nicht. Wir sehen also, dass ein verantwortungsvoller Atheist wie Jürgen Habermas die Religion als etwas Wertvolles ansieht, auch wenn er nach wie vor bekennt, „religiös unmusikalisch“ zu sein.

In seiner Friedenspreisrede von 2001 bezieht sich Habermas weiter auf einen religiösen Inhalt, der den Übergang vom Kollektiven zum Persönlichen markiert. Es wurde oben gesagt, dass der Verlust der Religion in beiden Bereichen eine merkliche Lücke hinterlässt, sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch im Bereich des Individuellen. Die Primitivatheisten, von denen weiter unten die Rede sein wird, betrachten den Verlust der Religion als Gewinn in jeder Hinsicht. Sie verweisen auf die sattsam bekannten dunklen Seiten der Kirchengeschichte wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Zwangsbekehrungen usw., und sie führen das Elend der Welt insgesamt als ein Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld. Ist Gott abgeschafft, dann braucht es keine Kirche mehr, ihre dunklen Seiten entfallen automatisch und das Theodizeeproblem ist gelöst. Wo es keinen guten Gott gibt, ist auch das Elend der Welt keine Instanz mehr gegen seine Güte, und wo es keine Kirche mehr gibt, gibt es auch keine Kreuzzüge.

All das wird heute gebetsmühlenhaft wiederholt, aber es wird nicht besser durch diese rein mechanische Wiederholung, denn das Elend der Welt verschwindet noch lange nicht allein dadurch, dass wir Gott abschaffen. Im Gegenteil – es verschärft sich. Denn nun gibt es, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede zu Recht bemerkt, keine Hoffnung mehr für die Opfer der Geschichte. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille: Gibt es keinen Gott, dann gibt es auch keine Auferstehung. Dann ist das Grab das letzte Wort über die Opfer der Geschichte, und Hitler hat dasselbe Schicksal wie die von ihm ermordeten Juden. Sie modern gleichermaßen im Grab.

Kant hielt dies für einen unerträglichen Skandal der Vernunft, so dass er daraus einen Gottesbeweis machte. Es ist nach Kant der Vernunft schlicht nicht zuzumuten – bei Strafe ihrer Selbstzerstörung –, dass wir glauben sollen, der moralisch recht Handelnde, der von den Intriganten und Mächtigen gequält und ermordet wurde, solle auf Dauer dasselbe Schicksal erleiden wie diese Mächtigen, die sich ein gutes Leben auf seine Kosten gemacht haben. Ob dies einen Gottesbeweis hergibt, können wir auf sich beruhen lassen. Ganz gewiss jedoch ist, dass Habermas recht hat, wenn er hier einen unersetzlichen Verlust sieht, den das Verschwinden der Religion nach sich zieht.

Die Primitivatheisten gehen mit dem Slogan hausieren: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Danach würde ein rational denkender Mensch den Glauben von sich werfen wie ein schmutziges, zerschlissenes Hemd, um atheistisch frisch ausstaffiert einer strahlenden Zukunft der vorurteilsfreien Vernunft entgegenzusehen. Auf der anderen Seite gibt es kluge Philosophen, die den Verlust des Glaubens beklagen, auch wenn sie ihn nicht mehr nachvollziehen können. Dazu gehört z. B. der Philosoph Herbert Schnädelbach. Er bekennt, dass er nicht glauben könne, und hält das Christentum historisch für überholt. Aber als ein gebildeter Mensch geht er schon mal ins Konzert und hört den Schlusschoral aus Bachs Johannespassion: