Lesen im dritten Lebensalter

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Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter

Erfahrungen transitorischer Identität bei der Lektüre britischer Romane

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0021-2

Inhalt

  „Mündigkeit lässt sich nicht ...

  Danksagung

  Vorwort

 Teil 1 Moderne Romane als Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Die Rezeption moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität1.4 Transitorische Identität und die Bedeutung literarischer Texte in der ersten und zweiten Phase der Modernisierung1.5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters – Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg

  Teil 2 Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster von Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters 2.2 Die Intensität des Augenblicks: Interior monologues als narratives Gestaltungsmedium der Romane Virginia Woolfs 2.3 Drei-Phasen-Methode 2.4 Plausibilitätsfragen

 Teil 3 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ästhetische Erfahrungen mit erzählten transitorischen IdentitätsproblematikenEinleitung: Oliver Twist und Jane Eyre: Erfüllbares Leben als narratives Grundmuster. Wuthering Heights und Mrs Dalloway: Nicht-Erfüllbarkeit moderner Subjektivität3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. Selbstachtung – fragwürdiges Werden zu sich selbst3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights. Selbstverlust – in sich kreisendes Werden zu sich selbst3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod

  Fazit und Forschungsdesiderate: Die Paradoxie transitorischer Identität als narratives Deutungsmuster

  Literaturverzeichnis

„Mündigkeit lässt sich nicht befehlen, sie muss gewählt werden.“

Susan Neiman

„Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzeptiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Umwelt, meiner Geschichte und meinem Schicksal öffnet.“

Charles Taylor

Danksagung

Dieses Projekt geht von einer Initialzündung aus, die durch eine erneute Lektüre von Milan Kunderas Essay Die Kunst des Romans im Zusammenhang mit seinem faszinierendem Werk Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins entstand. Das Projekt, das eine Forschungslücke schließen möchte, ist von vielen Menschen begleitet und intellektuell gefördert worden. Als erstes gilt mein Dank meiner Frau, Rudi Helena van der Ploeg, deren niederländischer Pragmatismus und Witz mich stets über Wasser gehalten und mich kritisch durch alle Phasen des Forschungs- und Schreibprozesses begleitet haben. Mein Dank gilt auch meiner Tochter Verena Bérénice, die wie eine Verbündete Fassungen meines Manuskripts gelesen, Einwände formuliert und Korrekturvorschläge gemacht hat. Vor allem hat sie mir aus technischen Unbeholfenheiten mit Computer und Laptop herausgeholfen. Danken möchte ich auch Frau Elena Gastring, Lektoratsvolontärin beim Gunter Narr Verlag, die mit Humor und Geduld den Produktionsprozess meines Buches unterstützt und begleitet hat. Die Frauen wissen, wie sehr mir die Vermittlung von Kultur und Literatur in der heutigen hybriden Kultur am Herzen liegt. Für die Gelegenheit, eine Vorstudie zu diesem Projekt, zur Erzählkunst Franz Kafkas, zur Filmkunst Charlie Chaplins und zur bildenden Kunst Edvard Munchs beim Germanistentag in Kiel 2014 vorstellen und dann publizieren zu können, bin ich Frau Professor Dr. Ina Karg zu herzlichem Dank verpflichtet. Kreative Impulse zu meinem Buch kamen auch aus persönlichen Gesprächen mit Herrn Professor Dr. Helmut Viebrock sowie von Seminaren Herrn Professor Dr. Hermann Schweppenhäusers und Gesprächen mit ihm zu Franz Kafka und Walter Benjamin. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Thomas Rentsch, der mich ermuntert hat, meinen Ausführungen auf der Spur zu bleiben. Herrn Professor Dr. Lothar Bredella und Herrn PD Dr. Christoph Schöneich, mit denen mich auf ganz unterschiedliche Weise ein freundschaftliches Band über Jahrzehnte hin verknüpft hat, danke ich in Verbundenheit. Ebenso bedanken möchte ich mich bei den Teilnehmer/innen meiner Seminare an der Universität des 3. Lebensalters/Frankfurt/M. Sie haben mit ihren kreativen Deutungen einige wichtige der hier vorgelegten Aspekte, beispielsweise zu unglaubwürdigen Stellen in Charles Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist oder zu Emily Brontës kniffligen Roman Wuthering Heights möglich werden lassen.

Ich widme dieses Buch dem Andenken meines früh verstorbenen Vaters, Dr. phil Dr. med. Hans Ramm (1920 bis 1956), der über Kierkegaard promovierte und als junger Augenarzt in Frankfurt/M die Greuel des Russlandfeldzuges im Zweiten Weltkrieg in den ersten Jahren der Nachkriegszeit gesundheitlich nicht überlebt hat.

Vorwort

Impulse zu den folgenden Ausführungen gaben Milan Kunderas Deutungen des modernen Romans. Kundera versteht den modernen Roman als narratives Experiment, das seit Beginn der Moderne mit imaginativen Möglichkeiten und Potenzialen transitorischer Identität spielt, die Gemüter seiner Leser/innen erregt und zum deutenden Diskurs immer erneut herausfordert.1 Lesen, so Sartre, ist gelenktes Schaffen.2 Dieser Spur folgen wir an ausgewählten Romanen Großbritanniens, die nicht nur zu den Meisterwerken der Weltliteratur zählen, sondern trotz der Unterschiede zwischen dichterischen Texten des 19. Jahrhunderts in Europa3 „als großartige Märchen“4 der Moderne anzusehen sind.

Bei der Lektüre wird es um eine kultursemiotische und rezeptionsästhetische Erschließung von Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist, Charlotte Brontës Roman Jane Eyre, Emily Brontës Roman Wuthering Heights und Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway gehen. Diese Romane wurden im Fachbereich Neuere Philologien/Anglistik der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M in gelenkten Seminaren mit Rezipient/innen des dritten Lebensalters (den heute 65- bis etwa 80jährigen) erschlossen, reflektiert und besprochen.

Als große Erzählkunst sind die Romane repräsentativ für das in der Moderne seit Beginn der europäischen Romantik geprägte Geschichtsbewusstsein und die „bis dahin nie gekannte Betonung menschlicher Subjektivität.“5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters sind in sensibler Wahrnehmung hoch interessiert am Gründungsmythos der Moderne, der sich an kulturgeschichtlichen Fragen „Woher wir kommen“6 und wer wir im dichten Gewebe divergierender und überfordernder Rollenanforderungen, Konflikt- und Entscheidungssituationen heute sind, entfalten lässt.7 In einer globalisierten, disparaten und vernetzten Medienwelt, in der Distanzen aufgehoben werden, weckt die Lektüre der Romane den Wunsch, sich mit mythopoetischen Erzählwelten, die moderne Romane seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zu James Joyce, Döblin, Thomas Mann selbstreflexiv gestalten,8 auseinanderzusetzen. Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne entwerfen Varianten einer Poetik des Weltleidens. Sie eröffnen fremde, narrativ eigengesetzliche Welten, evozieren Widerstand und Utopie, an denen sich Wirklichkeit gegenbildlich bricht. Ihr enigmatisch Politisches fasziniert.

 

Die These, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist die, dass Werke der Literatur, der bildenden Kunst und Musik seit der frühen Neuzeit transitorische Identitätserfahrungen moderner Subjektivität ästhetisch gestalten. Im Bereich der Literatur entstehen kontingenzästhetische Erzählmuster, die als Kulturdiagnosen erschlossen werden können. Rezipient/innen des dritten Lebensalters werden in auffallender Weise von komplexen Erzählmustern affiziert, die die Subjektfrage der Moderne in emotional evokativen Erfahrungsräumen verhandeln. Die Erzählwelten stellen Individuen in ihren Mittelpunkt und beleuchten in gesellschaftkritischen Gegenperspektiven Kehrseiten der Vernunft. Als Antithesis sind sie immanent mit der Negativität des Weltlaufs, den sie verneinen verknüpft: „Keine Kunst, die nicht negiert als Moment in sich enthält, wovon sie sich abstößt.“9 Das Faszinosum liegt in diesem Doppelcharakter, der auf die komplexe Motivlage der Rezipient/innen des dritten Lebensalters trifft.

Der Gründungsmythos der Moderne begann als romantische Bewegung „mit Young in England, in Frankreich mit Rousseau und in Deutschland mit dem Sturm und Drang“.10 Trotz aller Unterschiede setzten sich bildende Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Philosophen in Europa mit dem Anbruch einer neuen Zeit, mit der Französischen Revolution und Napoleon auseinander:

Schon bei Fichte, noch nachdrücklicher bei Hegel und Schelling, tritt ein Gedanke in den Vordergrund, der das 19. Jahrhundert bestimmen wird: daß selbst die Grundbegriffe und Argumentationsmuster von Erkennen und Handeln geschichtlich bedingt sind (‚Geschichtlichkeit‘).11

Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten forderten Freiheit von der klassizistischen Tradition; parallel dazu forderten Philosophen politische Emanzipationsmöglichkeiten: in konservativer Hinsicht (Edmund Burke), emanzipatorisch in der Kritik der politischen Ökonomie (Karl Marx, in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel). Vor dem Hintergrund des Bruchs mit den christlichen Traditionen des Abendlandes beinhalteten diese Forderungen das Streben nach persönlicher Autonomie (Johann Gottlieb Fichte, in Auseinandersetzung mit Kant), insbesondere des künstlerischen Genies und künstlerisch tätiger Frauen. Mit der Rezeption Shakespeares und Cervantes stand bei Schriftstellern die Verteidigung des Prinzips der Stilmischung in Bezug auf den Roman, die Tragikkomödie und das romantische Schauspiel im Mittelpunkt. Stilmischungen schufen Bewegungsspielräume für den komplexen Ausdrucksreichtum subjektiver Erfahrungen in Werken der bildenden Kunst (William Turner, Caspar David Friedrich), Musik (Ludwig van Beethoven, Giuseppe Verdi) und Literatur. In das Zentrum künstlerischen Schaffens trat die Theodizeefrage, die in der Darstellung des Bösen und Satanischen Handlungsspielräume des modernen Subjekts erprobte und zur Spiegelung des Weltschmerzes machte.12 Als Kehrseite der Verweltlichung und des erweiterten, vertieften Naturverständnisses zeitigte sich die Gefahr des Selbstverlustes, die als transitorische Erfahrung in den Ausdrucksformen von Empfindsamkeit und der englischen Krankheit Melancholie (James Macpherson, d.i. Ossian und auch Lord Byron) die Schaffenskraft der Künstler anregte. Sie wurde zum Lebensgefühl der nachnapoleonischen Epoche. Die komplexe Beziehung zwischen Dichtung und Leben, die kultursemiotisch erschließbar ist, lässt sich an europäischen Romanen anhand des in ihnen zur Geltung kommenden gebrochenen modernen Subjekts studieren. In der Suche nach sinnbezogenen Lebensformen erkunden Romane die Bedeutung des Subjekts in einer komplexen modernen Welt. Sie scheuen nicht zurück vor einer Verwirrungsästhetik der Kontingenzen und des Häßlichen und und verlieren dennoch nicht die Autonomieansprüche des Subjekts und das Ideal der Humanität aus dem Auge. Wie alle Romane der Weltliteratur erzählen sie Geschichten von Menschen und Umständen, lassen im Möglichkeitsraum der Fiktion Menschen „aus dem Gegebenen heraus und ihm gegenüber treten“13, gestalten eine eigene, sprachlich geformte Welt, die durch Selektion und Verdichtung Wirklichkeit zentriert und deshalb zwischen Schein und Realität oszilliert:

Dichtung verdichtet (…). Sie tut es, indem sie am menschlichen Leben, das in der Masse so gleichgültig zu werden vermag, Wert und Wichtigkeit aufleuchten lässt. Deshalb ist sie eine so menschliche Art der Weltbegegnung und übersteigt damit auch die Geschichtsschreibung, selbst die Psychohistorie und Mentalitätsgeschichte, denen sie als Quelle dienen kann. Sie gewinnt ihre Überlegenheit daraus, daß sie den einzelnen (…) zu seiner Würde bringt.14

Da es eine Vielzahl von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der Epoche der klassischen Moderne gibt, macht der hier vorgestellte kultursemiotische Ansatz eine Auswahl von Romanen dieser beiden Epochen, zwischen denen Umbruchszeiten liegen, erforderlich. Ausgewählt wurden Romane, die

 im Zeitraum zwischen beginnendem 19. und beginnendem 20. Jahrhundert in Großbritannien entstanden,

 eine narrative Kontingenzästhetik durch Kontrastkopplungen und autoreferenzielle Bezüge gestalten und Verwirrungsästhetiken15 generieren,

 die Problematik der transitorischen Identität der Moderne als narrative und kulturhistorische Herausforderung in ihrer Ambivalenzstruktur verdichten,

 Aspekte des Humanitätsideals in Gestalt der conditio humana anklingen lassen und als Metaphysik des Schwebens16 zum Ausdruck bringen,

 in der ambivalenten Transzendierung ihrer Inhalte in die jeweilige Form, offene und komplexe Erzählwelten der ersten und zweiten Phase der Moderne gestalten,

 Imagination und Reflexion der Leser/innen anregen.

Die Kriterien ergeben sich aus einer kultursemiotischen Theorie, die das Verstehen moderner Romane verknüpft mit dem Erschließen ihrer epochalen Situierung.

Die ausgewählten Romane erfüllen die genannten Kriterien. Sie entwerfen die Unbehaustheit des modernen Menschen als Paradoxon: Im Versuch, sich seiner habhaft zu werden, entgleitet sich das moderne Subjekt.17 Die Protagonisten der ausgewählten Romane befinden sich auf der anderen Seite der Geschichte. Sie sind – wie Don Quijote –, in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod, ganz auf sich selbst gestellt, bewegen sich in einer Welt von geradezu absurden Korrespondenzen und Kontrasten, sind haltlos. Als Resultat entstehen „fruchtbare Hybride“18, die ihren Fokus auf Bedingungen moderner Subjektivität richten, sich auf die Suche nach einem Bild des modernen Menschen im Sinnvakuum der Moderne konzentrieren und Erzählen als je differente Sinnsuche, als je unterschiedlich komplexen Prozess, entwerfen.

Diese Suche gestalten die vorgestellten Romane, wie auch der europäische Roman, parallel und kontrastiv als unabschließbar. Nach dem Verlust metaphysischer Gewissheiten suchen die Protagonisten nach Sinn und Erfüllung. Sie gehen in der Konfrontation mit der Fremdheit gesellschaftlicher Beziehungen über sich hinaus. Das Offene und Unabgeschlossene dieser Sinnsuche affiziert die narrative Form. Erzählen wird zum transgressiven Akt, in dem Identitätserfahrungen unheinholbar als Aspirationen erscheinen. Das Erzählen dieser Erfahrungen bringt den narrativen Prozess selbst zum Vorschein. Die Romane sind widersprüchliche Universen, die in ihrer Unabgeschlossenheit und Mehrdeutigkeit, ihrem grotesken Humor (Charles Dickens), ihrer Hintergründigkeit und ihrem Witz (Emily und Charlotte Brontë, Virginia Woolf) Rezipient/innen des dritten Lebensalters zur Reflexion und zu Sinnfragen herausfordern, die sie – die Romane – verwirrungsästhetisch als „Desintegration (ihres) Systemraumes“19 entwerfen. Durch Erzählbrüche, plötzliche Wendungen, Anachronismen, multiple Perspektiven, entstehen kontingent strukturierte Erzählwelten, die sich mit zunehmender Komplexität der modernen Welt nicht mehr zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenfügen lassen.

Die weltverwandelnde und -verdichtende Auflösung aller Phänomene, auch der menschlichen Subjektivität, findet im modernen Roman, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck in oben definierten eigenen „Verwirrungsästhetiken“20, die auf weiter unten dargelegte gerotranszendente Vermögen der Rezipien/innen stoßen. Verwirrungsästhetiken finden als kulturelle Parallelvorgänge auf dem Weg der bildenden, der erzählenden und der musik-kompositorischen Kunst vom 18. bis ins 20. Jahrhundert statt, zuvor bereits bei Shakespeare oder dann, beispielsweise, bei Giovanni Battista Piranesi, bei Johann Sebastian Bach und seinen für seine Epoche originellen und ungewöhnlichen Kompositionstechniken, bei William Hogarth, bei William Blake, bei Ludwig van Beethoven, dessen 5. Sinfonie (c-moll, Opus 67) bei zeitgenössischen Kritikern, aufgrund ihrer ungewöhnlichen Komposition, auf Ablehnung stieß. Erich von Kahler sieht in der Entwicklung der modernen Erzählkunst einen „unendlichen Weg ins Unbewußte“21, der in drei Etappen verläuft: seit Mitte des 18. Jahrhunderts individualpsychologisch, gegen Ende des 19. Jahrhunderts existenzialistisch, seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer innerweltlichen Transzendenz, die „das Jenseits im Irdischen“22 hervorhebt. Diese Etappen folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern bedingen sich in fortschreitender Wechselwirkung.23 Diese Wechselwirkung wird durch die Abwendung der Moderne von der traditionellen Metaphysik bedingt. In der Moderne unterscheidet sich menschliche Existenz von jedem bedingendem, übergreifendem Ganzen. Erich von Kahler siedelt die existenzialistische Etappe der Entwicklung der modernen Erzählkunst zu Ende des 19. Jahrhunderts, in Unterscheidung von der existenzialistischen Philosophie, zwischen der individualpsychologischen und der innerweltlich transzendenten Etappe der modernen Erzählkunst an. Er begründet diese Entwicklung damit, dass das „existenzialistische Erlebnis“24 als Gegenerfahrung zur instrumentellen Vernunft der Moderne zu verstehen und im Sinne Kierkegaards als „Sinnmüdigkeit“25 zu deuten sei. Nach von Kahler entsteht eine neue Sensibilität, die die Haltlosigkeit des modernen Ich antizipiert, Individualität als mögliche Existenz im Angesicht innerweltlicher Transzendenz positioniert. Das existenzialistische Erlebnis rührt an den Daseinsgrund der Dinge, nähert sich der Unaussprechlichkeit eines präexistenten Ich.26 In dieser Perspektive entsteht in der modernen Erzählkunst eine Sicht auf die Welt, die die Befremdung der Dinge und die Auflösung des Erscheinenden in Richtung innerweltlicher Transzendenz vorbereitet.27

Dieser Prozess narrativer Desintegration der täglichen Weltoberfläche lässt sich von Laurence Sternes erzählerischem Kosmos bis zu Virginia Woolfs und James Joyces erzählerischem Werk beobachten. Wie die europäische Erzählkunst des frühen 20. Jahrhunderts, dringen Joyces und Woolfs Werke „in das Reich einer inneren, innerweltlichen Transzendenz“28 vor. Erich von Kahler versteht unter diesem Reich Tiefenbereiche des Ich, die die Schichten des Unbewussten, wie Sigmund Freud und Carl Gustav Jung sie erforschten, durchmessen. Als „jenseitige Tiefen des Ich“ verwandeln sie „den Niederstieg in den Tod“ in eine „Erleuchtung des Todes bis zu jenem mystischen Punkt, wo der Tod zur Lebensverwandlung und zum Schoße der Schöpfung wird“.29

Die drei kulturellen Etappen der modernen Erzählkunst, die zu dieser „neuen Transzendenz“30 hinführen, lassen sich exemplarisch anhand der hier behandelten Romane erarbeiten. Die emotionale Eindringlichkeit, in der die Erzählfiguren mit Dilemmata, Konflikten und erzwungenen Konfliktlösungen umgehen, wirken vor ihrem kulturellen Hintergrund und dem der Rezipient/innen des dritten Lebensalters herausfordernd und diskursanregend.

Im ersten Teil der Arbeit geht es um einen kultursemiotischen Ansatz, der es ermöglicht, Erfahrungen der Gerotranszendenz31, mit ihren Fähigkeiten zu Selbstdistanz, Gelassenheit, einem selbst organisierten, kreativen Leben, mit ihrer Fähigkeit zu Spiritualität und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektiven,32 sowie mit ihrer Empfindung für Ganzheit im Sinne eines Werdens zu sich selbst,33 in dialogische Beziehung zu setzen mit ästhetischen Erfahrungen, die Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts in Großbritannien evozieren. In diesem theoretischen Teil wird verdeutlicht, dass die Ambivalenz der Moderne sich narrativ in der Uneindeutigkeit einer Metaphysik des Schwebens in den Romanen niederschlägt: Sie verdichten die Unüberschaubarkeit der Moderne und die Hilflosigkeit moderner Subjektivivität. Erfahrungen transitorischer Identität im dritten Lebensalter werden in der Interaktion zwischen den Leser/innen und den Romanen kreativ affiziert.

 

In diesem ersten Teil der Arbeit wird die von Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl in ihrem Werk Zukunft Altern entwickelte umfassende Kreativitätstheorie der Alternsforschung sowie die von Thomas Rentsch in seinem Werk Negativität und praktische Vernunft, im Rahmen einer Ethik der späten Lebenszeit entfaltete philosophische Anthropologie des Alterns als eines „Werden(s) zu sich selbst“, kultursemiotisch auf den Rezeptionsprozess der Romane durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters bezogen.34 Die Theorie der Kreativität im Alter unterscheidet sich von neueren Sozialisationstheorien und eröffnet Sichtweisen auf die rezeptionsästhetische Haltung der Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Die in den Fokus genommenen gerontologischen Schlüsselkonzepte sind Generativität, Ich-Integrität und Gerotranszendenz als „Ausdrucksformen einer Kreativität im Alter“.35

Die Schlüsselkonzepte sind eingebunden in eine Anthropologie des Alterns, die vor dem Hintergrund einer Diskriminierung Alternder im öffentlichen und privaten Bereich den Gestaltungswillen und die Gestaltungsfähigkeit Alternder in Bezug auf ein selbstorganisiertes Leben und in Bezug auf gesellschaftliche Mitverantwortung hervorhebt. Andreas Kruse, ein prominenter Vertreter dieser Theorie, hebt auf der Grundlage gerontologischer Forschungen anstelle einseitiger Diskriminierungs- und Belastungsdiskurse, Potenziale des Alters hervor, in denen sich zwei Perspektiven komplementär verbinden: „die Potenzialperspektive einerseits, die Verletzlichkeitsperspektive andererseits.“36 Die Potenzialperspektive hebt die potenziellen Energien Alternder hervor, die sie auch in Fällen von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrechterhalten lässt. Die Verletzlichkeitsperspektive impliziert eine abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit, mit einer höheren Anfälligkeit für Erkrankungen im Alter. Alternden kann es gelingen, so Kruse, beide Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Integration beider Perspektiven relativiert Belastungszenarien und ermöglicht Bildungs- und Therapieerfahrungen.37 In die Wechselbeziehung beider Perspektiven ist die im Vorverständnis der Rezipient/innen situierte Spannung zwischen dem ästhetischen Erfahrungspotenzial immanenter Transzendenzerfahrung und dem Bewusstsein menschlicher Mortalität eingebettet. Diese zum gerotranszendenten Vermögen Alternder gehörende Situierung macht das fruchtbare Moment im Erschließungsprozess der Romane aus.

Die Nomenklatur der Theorie der Kreativität im Alter wird durchgängig in vorliegender Arbeit verwendet und differenziert auf den Rezeptionsprozess als Bildungspotenzial Alternder bezogen.38 Aus dieser Öffnung der Literaturdidaktik und institutionalisierten Kultursemiotik, die sich als Ergänzungsdiskurs zum bisher vertrauten Kategoriensystem der Literaturdidaktik versteht, ergibt sich der Schwerpunkt der Rezeption der ausgewählten Romane durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Ihr Blick richtet sich auf die poetische Praxis, auf das Wie der Ausdrucksgestalt des jeweiligen Romans und seine kulturgeschichtliche Bedeutung. Diese Rezeptionshaltung, die Kreativität und Selbstdenken evoziert, wird durch eine Drei-Phasen-Methode unterstützt. In kultursemiotischer Perspektive und in der Sichtweise moderner transitorischer Identitätserfahrungen entstehen innovative Romandeutungen der Romane Oliver Twist, Jane Eyre, Wuthering Heights und Mrs Dalloway.

Der zweite Teil dieser Arbeit stellt das Konzept der Drei-Phasen-Methode vor. Dies ist ein Konzept, das durch das gelenkte literarische Seminargespräch und die ganzheitliche Romanlektüre in der Kombination zweier Herangehensweisen, des „Straight Through Approach“ und des „Segment Reading“39, die theoretischen Voraussetzungen des ersten Teils in die Praxis umzusetzen verspricht. Eine der aus diesem Konzept folgenden Konsequenzen sind Plausibilitäts- und Dispositionsfragen der Rezipient/innen an die ausgewählten Romane, die im Verlauf von vier Semestern – einem Roman pro Semester – in der Interaktion zwischen den Texten, Zusatzmaterialen und ihren Leser/innen erschlossen und reflektiert wurden.

Die Ausführungen des dritten Teils erproben die theoretischen Prämissen des ersten und die Konzeption des zweiten Teils. Sie beziehen sich, in je einem Unterabschnitt, auf Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in ihrer Struktur die Ambivalenz der Moderne als sinnentwerfende Vieldeutigkeit und hermeneutisches Reflexionsangebot für Rezipient/innen des dritten Lebensalters und ihre komplexen Motivlage zum Ausdruck bringen. Da die Grundstruktur des Rezeptionsprozesses dialogisch ist, wechselt die Untersuchungsperspektive von der in den ersten beiden Teilen dargelegten Motivlage der Rezipient/innen auf die kultursemiotischen Deutungspotenziale der Romane, wobei die kontrovers oder zustimmend besprochenen Romanpassagen durch Hinweise auf Erschließungs- und Reflexionsmöglichkeiten der Rezipient/innen gekennzeichnet sind.

Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist (1837) eröffnet, im Schatten Miguel Cervantes‘ und Laurence Sternes’ sowie vor dem Hintergrund der Ereignisse der Französischen Revolution, mit einem frühen unzuverlässigen Erzähler die Ausführungen im dritten Teil dieses Buches.

Dickens‘ Werk Oliver Twist und Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847), der in Gestalt einer fiktiven Autobiografie die Zeit des Hochkapitalismus und den Auflösungsprozess des Patriarchats in Großbritannien narrativ konfrontiert, werden einem eigenem Abschnitt zugeteilt. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne kann einsichtig werden, dass beide Romane, trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeiten und gesellschaftlichen Hintergründe, in Gestalt der Paradoxie des poetischen Realismus ihre Protagonisten scheitern lassen und in die Grundauffassung einer auf Erfüllung angelegten Subjektivität einbetten. In der kulturgeschichtlichen Terminologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen eines individualpsychologischen und, wie oben dargelegt, existenzialistischen Erzählens.

Der Abschnitt zu Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist, mit dem der dritte Teil beginnt, fällt etwas umfangreicher als die dann folgenden Abschnitte zu den Romanen der Brontës und zu dem Virginia Woolfs aus. Das liegt daran, dass – entgegen älterer Forschung zu diesem Roman – Dickens‘ Oliver Twist innovative Erzählstrategien an den Tag legt, die ihn in den Deutungen der neueren Forschung zum Wegbereiter des modernen Romans bzw. zum modernen Roman werden lassen (Fludernik, Bowen, Cheadle beispielsweise). Diesen Deutungen, die den Roman als Ganzen in den Blick nehmen, gehen die Ausführungen im dritten Teil nach. Begleitet von eigenen Beobachtungen werden sie zu innovativen rezeptionsästhetischen Erschließungspotenzialen.

Der zweite Abschnitt des dritten Teils wird durch Deutungen von Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847) und Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway (1925) beschlossen. Emily Brontës Roman antizipiert durch seine raffiniert gestaffelten dezentrierten Ich-Erzähler die Multiperspektivität der durch innere Monologe ineinandergreifenden, chiastischen Textstruktur von Mrs Dalloway, der exemplarisch für experimentelle Romane der klassischen Moderne anzusehen ist. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne erkennt man, dass beide Romane, trotz der unterschiedlichen Epochen, in denen sie entstanden sind, durch die narrative Auflösung der Paradoxie des poetischen Realismus, die Nicht-Erfüllbarkeit privaten Glücks und subjektiver Chancen gestalten. Die Mehrdimensionalität moderner Subjektivität und die Undurchschaubarkeit ihres Weltbezuges40 verdichten narrativ die Orientierungs- und Haltlosigkeit von Subjekterfahrungen in der modernen Welt. In der kulturgeschichtlichen Terminologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen des im oben dargelegten Sinne existenzialistischen und innerweltlich transzendenten Erzählens. Die vier Romane stellen zusammen mit der Frage nach Herkunft und Zukunft moderner Identitätserfahrungen auch die Frage nach dem Sinn romanhaften Erzählens in der Moderne. Sie gestalten gegensätzliche Figuren und Erzählsituationen mit spiegelsymmetrisch geheimen Verwandtschaften. Multiperspektivisch erforschen sie Facetten der modernen transitorischen Identitätsproblematik, die angesichts signifikant Anderer virulent wird, und sie regen über diese strukturellen Ambivalenzen zum hermeneutisch-kritischen Diskurs an. Der abschließende Teil dieser Arbeit zieht ein Fazit und gibt Hinweise auf Forschungsdesiderate, deren Bearbeitung einen Paradigmenwechsel in der kultursemiotisch orientierten Literaturwissenschaft herbei führen könnte.