Lesen im dritten Lebensalter

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Teil 2
Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster von Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

„Wie hat der junge Dickens es bloß geschafft einen so existenziellen Roman zu schreiben, in dem Diebe und Bürger beinahe gleich sind?“

Frage eines Teilnehmers am Seminar zu Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist.

„Eine so intelligente und sensible junge Frau liebt einen defizitären Mann – das geht gar nicht!“

Kommentar einer Teilnehmerin am Seminar zu Charlotte Brontës Roman Jane Eyre.

„Ich habe Emily Brontës Roman Wuthering Heights vor vierzig Jahren gelesen und nicht verstanden. Jetzt finde ich ihn atemberaubend.“

Kommentar einer Teilnehmerin am Seminar zu Emily Brontës Roman Wuthering Heights.

2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters

Romane des Viktorianischen Zeitalters sind Wegbereiter modernen Erzählens. Sie zeichnen sich durch eine große Formenvielfalt aus, die jede Kategorisierung dogmatisch erscheinen lässt. Um drei Vertreter/innen dieser Gruppe von Romanen, Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë, wird es im dritten Teil gehen.

Romane der klassischen Moderne Großbritanniens lassen zwei Entwicklungslinien erkennen. Zum einen die Linie traditionellen Erzählens, die allerdings mit der Prosa des viktorianischen Romans durch thematische Erneuerungen nicht mehr zu vergleichen ist. Vertreter dieser Linie sind D.H. Lawrence, Aldous Huxley, Christopher Isherwood.

Zum anderen experimentelles Erzählen, das sich durch Multiperspektivität, Hybridität, Fragmentarisierung und die Gestaltung des stream of consciousness auszeichnet. Vertreter dieser Linie sind Joseph Conrad, Virginia Woolf und James Joyce.1 Um eine der Vertreterinnen dieser experimentellen Linie, Virginia Woolf, wird es im drittenTeil, im Anschluss an die Vertreter des Romans des Viktorianischen Zeitalters, gehen. Sie entwirft eine alternative Erzählkunst zu der des 19. Jahrhunderts.

Das Viktorianische Zeitalter ist eine gesellschafts- und kulturverändernde Umbruchszeit. Mit der Regierungszeit Königin Victorias erstreckt es sich von 1837 bis 1901. 1837 erscheint Charles Dickens‘ erster großer Roman Oliver Twist und 1901 Rudyard Kiplings Roman Kim. Diese Romane liegen chronologisch und topografisch zwar weit auseinander, haben jedoch, obgleich sie der ersten und der zweiten Modernisierungsphase zuzuordnen sind, frappante narrative Ähnlichkeiten: Zwei junge Protagonisten wandern orientierungslos und sinnsuchend in einer komplexen und unüberschaubaren Welt umher. Romane des Viktorianischen Zeitalters sind entgegen gängiger Vorurteile nicht altmodisch und kitschig. Vielmehr entwickeln sie komplexe erzählerische Energien, deren Intensität und Einzigartigkeit zugleich affirmativ und zeitkritisch sind, Leser/innen auch heute noch mit Orientierungsverlust und Wertezerfall konfrontieren und als Wegweiser modernen Erzählens erschlossen werden können. Ihre enzyklopädischen Horizonte, die durch multiple Plots entfaltet werden, setzen sich nicht nur mit dem status quo sozialer und moralischer Konventionen ihrer Zeit auseinander und stützen mit diesem Programm die neu entstandene industrielle und kapitalorientierte Mittelklasse, sind also Erzählwelten ihrer Zeit, sondern spielen mit affirmativen Lebenshaltungen, drehen sie um, stellen sie in ihren Kehrseiten dar. Zugleich mit ihrer affirmativ erscheinenden Konstruktion sind sie gegen die Zeitströmungen der Kapitalakkumulation, des Nützlichkeitsdenkens, des linearen Fortschritts und Zerfalls der Humanität verfasst. Weder waren sie zu ihrer Zeit bequeme Ratgeber, noch können sie heute so verstanden werden. Sie sind, in der Formulierung George Levines: „(…) exploratory and inquisitive as well as didactic und moralistic.”2

Die hier vorgelegte Auswahl von bekannten Romanen des Viktorianischen Zeitalters wird mit ihrer narrativen Verfremdungstechnik begründet, an der sich exemplarisch zeigen lässt, wie diese Romane die viktorianische Welt entdecken, erforschen, kritisieren und erzählerisch innovativ entwerfen. Dabei rückt ein zentrales Charakteristikum der Romane des Viktorianischen Zeitalters ins Zentrum: Das Paradox des poetischen Realismus, das sich bei jedem der Romane unterschiedlich auswirkt, in Varianten europäische Romane des 19. Jahrhunderts strukturiert und diese als moderne Romane auszeichnet.

Das Paradox besteht in der nicht auflösbaren Ambivalenz des erzählerischen Anspruchs auf realistische Detailgenauigkeit, die wegen ihrer Komplexität unerfüllbar bleibt und dem Anspruch der narrativen Bündelung der Details in Perspektiven, die die Unerfüllbarkeit des Anspruchs als erfüllbar, mithin plausibel erscheinen lassen.

Dieses Paradox, das sich mit Zima als strukturelle Ambivalenz bezeichnen lässt – Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese3 – enthält die epistemologische Frage, ob ideelle, imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, und wie Ideen und Imagination von äußeren Umständen abhängig sind? Romane des Viktorianischen Zeitalters lösen dieses Problem nicht, sie stellen es narrativ dar, indem sie es in die Innenwelt ihres jeweiligen Erzählkosmos transformieren – „throwing the drama inside“4 – und damit zum Problem ihrer Form machen: Das Innenleben der Protagonisten gerät in multiplen, sich durchkreuzenden Handlungssträngen in Konflikte mit der Empirie einer zur Prosa gewordenen Welt, wobei die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Totalität der Romane ideelle Lösungsmöglichkeiten anbietet. Diese Romane kommentieren geradezu postmodern im Erzählen des Erzählens diese Ambivalenz bzw. Paradoxie einer imaginierten Empirie als Spiel mit dem Schein. Die Autoren heben in ihren Vorworten immer wieder hervor, dass realistisches Erzählen, ihr als ob, sich von Dichtern der bürgerlichen Moderne, nämlich der englischen Romantik, herleitet, „(…) which made the ‚ordinary‘ into the romantic, and made the true epic not warriors’ adventures around the world, but the growth of the mind.“5 Realistisches Erzählen als durch und durch literarisches Erzählen ist die Entdeckung, Erforschung und der imaginative Neuentwurf des modernen Selbst in einer neu zu entdeckenden, komplexen und unüberschaubar gewordenen Welt mit dem Anspruch, Bekanntes und Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Nicht mehr fantastische Götter, Zauberer und Dämonen geben dem modernen Roman seine narrative Form, sondern die „(…) Desillusionierung der Welt, wie sie die Neuzeit und Aufklärung bewirkt haben.“6

Desillusionierung der Welt heißt, die Dinge, wie sie sind, sichtbar machen, utilitaristische, religiöse, fortschrittsorientierte Ideologien zu entlarven und Leser/innen Denkanstöße über Sinnes- und Selbsttäuschungen zu geben, um die aus ihnen folgenden Krisen und Katastrophen, wie sie beispielsweise in Cervantes‘ Roman Don Quichote zum Ausdruck kommen, zu vermeiden.7 Es heißt aber auch, in Analogie zum Humor, dass narrative Erzählwelten zusätzliche, nicht sichtbare Wirklichkeiten zulassen, so dass „im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden“ kann.8 Romane des bürgerlichen Zeitalters, moderne Romane, stellen Grenzphänomene der Vernunft bzw. die Kehrseite einer als vernünftig angesehenen Welt dar.

Da bürgerliche Romane von Anbeginn an mit ihren Erzählfiguren experimentieren – ein imaginäres „experimentelles Ego“ entwerfen und der „existentiellen Problematik (der Figuren) auf den Grund“ gehen,9 kann die zur Altersgelassenheit werdende Lebenshaltung der Rezipient/innen des dritten Lebensalters eine ästhetische Wahrnehmungssensibilität entwickeln, die hinsichtlich der Fragilität der Erzählfiguren in einer komplexen Erzählwelt, diese als poetische Verdichtung der „Komplexität der Existenz in der modernen Welt“10 reflektieren und in Plausibilitätsfragen manifestieren kann.

Auf dem Prüfstand der Romane und der Leser/innen steht der epistemologische Anspruch der Erzählwelten mit ihrem ethischen Anspruch realistisch zu erzählen, um die gesellschaftliche Realität zur Humanität zur verändern. Erich Auerbachs Studie Mimesis stellt für diesen Anspruch eine klassische Definition bereit. Die „(…) ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung“, bildet das Zentrum realistischen Darstellens.11

Da aber realistisches Darstellen epistemologisch mit dem Erzählen von Wahrheit verknüpft ist (wie es wirklich ist und war), entsteht durch den Wahrheitsanspruch das Paradox des poetischen Realismus mit anthropologischem und ethischem Anliegen. George Levine kommentiert: „Realism (…) is paradoxically an attenuated form of a distinctly non-realistic narrative practice.“12 Erich Auerbach, George Levine und Odo Marquard sehen die Auflösung der Paradoxie in den Romanen des poetischen Realismus selbst: Diese Romane gestalten Lebens- und Entscheidungssituationen als Welten der Ambivalenz und Relativität und sie gestalten narrative Universen, die mit dem Erzählen des Erzählens spielen, sich selbst kommentieren und in Details und Gesamtkonstruktion ihren Leser/innen anthropologische und ethische Sinnangebote machen.13

Die Refiguration der Romanwelten durch die Rezipient/innen des dritten Lebensalters, der Diskurs über ihre Lektüreerfahrungen und Plausibilitätsfragen im Literaturseminar, können diese kulturkritischen Erfahrungen und Selbsterfahrungen im Zusammenwirken von individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis, wie sie in der ambivalent strukturierten Gedächtnismetaphorik der Romane des Viktorianischen Zeitalters zum Ausdruck kommen, ermöglichen.

 

Wenn nun imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, dann entwickeln moderne Romane narrative Programme, die die Realität imaginativ perspektivieren. Was heißt das? Romane des Viktorianischen Zeitalters entwickeln das Paradox ihres poetischen Realismus ambivalent aus zwei antagonistischen Energien heraus: einer anthropologischen und einer ethischen Energie, die antithetisch gegeneinander wirken und die Inkohärenz ihrer Form als Schein ihrer Kohärenz durchschauen lassen.

Die anthropologische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist der Mensch? Die komplexen und sich überkreuzenden Handlungsstränge und Plots der Romane des Viktorianischen Zeitalters beantworten diese Frage auf der inhaltlichen Ebene, also auf der Ebene erzählerischer Dynamik, kulturpessimistisch: Menschen sind unberechenbar, unbesonnen, machtbesessen, gierig, abgründig, nicht festzulegen, exzentrisch, heimatlos.

Aus dieser kulturpessimistischen Sicht entfalten sich in den Romanwelten Zufälle, Erwartungsbrüche, Perspektivenwechsel, Stimmungsumschwünge in asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen problematischen Individuen und einer zur Prosa gewordenen Welt, die sowohl die Machthaber, als auch die von ihnen manipulierten Subjekte als problematische, zwiegespaltene Subjekte – jedes auf seine Weise – zum Ausdruck bringen. Diese Dramaturgie der Doppelkrisen findet man beispielsweise auch bei Shakespeare, Goethe, Schiller und in den Opern Verdis. Die Seite der Mächtigen zeigt sich im Zwiespalt zwischen dem Bestreben, ihre Macht zu erhalten, bei innerer Bedrohung ihrer Autonomiefähigkeit und die Seite der ohnmächtigen Figuren befindet sich im Zwiespalt zwischen ihrer Autonomiefähigkeit und der inneren Bedrohung ihrer Autonomiemöglichkeiten. Die Blickrichtung der Mächtigen ist rückwärtsgewandt, die der Ohnmächtigen zukunftsgerichtet. Diese doppelgesichtigen Gegenströmungen werden in den Romanen des 19. Jahrhunderts kontingenzästhetisch gestaltet. Es entsteht ein Perpetuum mobile, das in der Darstellung durchkreuzter Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Möglichkeitsraum der Fiktion visionär deren Gegenperspektive – versöhnte personale Autonomie – entwirft.

Dieses kontingenzästhetische Erzählgewebe ist gesellschaftskritisch angelegt und eröffnet bei Rezipient/innen des dritten Lebensalters aufgrund ihrer Lebenserfahrungen komplexe imaginative Möglichkeits- und Spielräume, die sie mit kulturell differenten Erfahrungen konfrontieren, weil sich gesellschaftliche und kulturelle Diskrepanzen narrativ erschließen und durch Zusatzmaterialien kulturgeschichtlich in Augenschein nehmen lassen.

Die ethische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist angesichts der Korrumpierbarkeit des Menschen und seiner Handlungen zu tun? Romane des Viktorianischen Zeitalters stellen diese Frage heutigen Leser/innen anheim und laden sie zu Plausibilitätsfragen ein, auf die unten eingegangen wird.

Die Romane beziehen eine autoreferenzielle Gegenperspektive zur Elastizität ihrer inhaltlichen Behauptung, der Mensch sei abgründig und heimatlos. Sie flechten intentional kulturoptimistische Perspektiven ins narrative Gewebe ein. Entgegen der Intention, der Mensch sei kontingenzanfällig, breitet sich innerhalb des kulturpessimistischen Erzählgewebe die humoristisch bzw. in romantischer Ironie gestaltete Sichtweise aus, Menschen seien, mit Ausnahme der unbelehrbaren abgründig Bösen, gut und sozial harmoniefähig, symmetrischer Beziehung fähig, die personale Autonomie intersubjektiv möglich werden lässt. Diese affirmative Sicht, die der Gefahr einer Ontologisierung personaler Autonomie nicht entgeht, durchwirkt das kulturpessimistische Perpetuum mobile der Romane als aussagekräftiger Teil ihrer Ganzheit und stellt es ideologienahe still. Heutige Rezipient/innen des dritten Lebensalters empfinden diese ideologienahe Stillstellung als Erwartungsenttäuschung, als Bruch und Zerbrechen der narrativen Ganzheit, als die strukturelle Ambivalenz, die sie ist, die den Plausibilitätstest aus ihrer Sicht hinsichtlich der anthropologischen Ebene nicht besteht, selbst wenn symmetrische Potenziale in den asymmetrischen Beziehungen vom Erzählbeginn an angelegt sind.

Formuliert man diese rezeptionsästhetische Problematik unter der Fragestellung, welche narrativen Potenziale der Mündigkeit und Reife die Romane des Viktorianischen Zeitalters den Rezipient/innen des dritten Lebensalters bieten, so erhält die epistemologische Ambivalenz dieser Erzählwelten eine erweiterte Perspektive: Die komplexe Verflechtung von Problemen und Krisen, mit denen sich die problematischen Individuen auf der anthropologischen Ebene der Romane auseinandersetzen, weisen auf Möglichkeiten einer noch unerreichten Mündigkeit und Menschenwürde hin. Jedoch durchkreuzt und ergänzt die ethische Dimension der Romane mit der in ihr enthaltenen idealisierten Tugendethik des 19. Jahrhunderts diese Möglichkeit und setzt ihr zugleich eine oft märchenhafte Vision von Mündigkeit und Menschenwürde entgegen. Die ästhetische Paradoxie des Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters besteht aus einer romantischen Weltsicht, die illusionslos die Abgründigkeit des modernen Menschen aufdeckt, weil sie sich erzählerisch von ihren empirischen und naturalistischen Erscheinungsweisen entfernt. Sie öffnet eine Tiefe der narrativen Welt, in der sich traumanalog Gegenwart und Geschichte, Erforschung des Selbst und Mythos begegnen. Diese Begegnung gibt den Erzählwelten jenseits politischer Umstände eine erweiterte, ihre Epoche transzendierende Zeitebene, die bis in die Gegenwart heutiger Leser/innen reicht.

Rezipient/innen des dritten Lebensalters erkennen in dieser Ästhetik romantischer Illusionslosigkeit die fiktionale Forderung nach Mündigkeit, die im Zeitalter des technischen Fortschritts historisch unerfüllbar blieb. In dieser Erkenntniskritik, die Unmündigkeit ästhetisch reflektiert, so auch in den Opern Verdis, wie Rigoletto, Otello, Macbeth, werden die Romane des Viktorianischen Zeitalters zu Wegbereitern modernen Erzählens; sie sind moderne Romane.

Die Ambivalenz der antithetischen Energien, der anthropologisch-kritischen und der ethisch- affirmativen evoziert kreative Dialoge zwischen den Romanwelten des Viktorianischen Zeitalters und Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Die Entdeckung, dass Handlungsverwicklungen und die Gestaltung der jeweiligen Romane kolportagehaft zusammengehalten werden bzw. auseinanderbrechen, die potenzielle Kohärenz der narrativen Form epistemologisch auseinandergetrieben wird und heute nicht mehr plausibel erscheint, regt zu Reflexionen an, inwiefern die konflikterzeugende Doppelgesichtigkeit der Konstellation von problematischen Protagonisten und Antagonisten auf den Inhaltsebenen der Romanwelten und Brüchen auf der narrativ formalen Ebene, transitorische Identitätserfahrungen kultursemiotisch wiedererkennen lassen?

Shakespeares Komödien und Tragödien stellen die Frage nach dem modernen Selbstverständnis ebenso, wie die Wegbereiter des modernen Romans. Zu nennen sind beispielsweise Miguel Cervantes Don Quichote (1605/1615), Laurence Sternes Tristram Shandy (1759), Charles Dickens‘ Oliver Twist (1837) und, doppelperspektivisch, Dickens‘ Bleak House (1852), Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Emily Brontës mehrfach perspektivierter Ich-Roman Wuthering Heights (1848), Flauberts L’Education Sentimentale (1869), um nur einige zu nennen.

Gestaltet wird die Suche nach personaler Autonomie, aus der Sicht gesellschaftlicher Außenseiter oder außergewöhnlicher Individuen. Selbstbestimmung wird zum ästhetischen Problem. Dort, wo im Mittelalter der Glaube zentral war und zur Zeit der Aufklärung das autonome Selbst zur abstrakten Idee wurde, entstand in der frühen Neuzeit und in der Romantik ein – wie Peter Gay deutet – „bedrohliches Vakuum“ („a frightening vacuum“), das bei Künstlern und Schriftstellern eine verzweifelte Suche nach „geistiger Zuflucht“ hervorrief. „Zur Debatte“, so Peter Gay, „stand das Bild vom Selbst“; die Suche gestaltete sich als Suche nach plausiblen Gestalten des Schöpferischen, als Entfesselung eines inneren Sinns und einer poetisch narrativen Wiederverzauberung der Welt.14

In dieser Entwicklung der Moderne, die ein Sinnvakuum hervorrief, wird der kulturdiagnostische Ausdruck der Romane erkennbar: Ihre durch strukturelle Ambivalenzen fragmentarisierten Universen konfrontieren die Entfremdungserfahrungen und das Sinnvakuum ihrer Zeit. Die Paradoxie des poetischen Realismus ist ihr Wahrheits- und Wiederverzauberungsmoment. Sie ruft über Plausibilitätstests, die weiter unten erläutert werden, kreative Wahrnehmungs- und Selbstreflexionsmöglichkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters hervor, weil moderne Romane, wie die Moderne, keine adäquate Antwort auf das moderne Identitätsparadigma geben können: „In der Moderne ist keine ‚zeitgemäße‘ Antwort auf die Identitätsfrage ein letztes Wort oder ein Akt, der definitiv zeigen könnte, wer eine Person (geworden) ist und sein möchte.“15

2.2 Die Intensität des Augenblicks: Interior monologues als narratives Gestaltungsmedium der Romane Virginia Woolfs

„We have seen“ – so leitet Terry Eagleton sein Kapitel zu Henry James ein – „that the major English novelists of the nineteenth century were mostly ambiguous figures, with one foot in and one foot out of conventional society (…) they were hybrid amphibious men and women – internal émigrés (…).”1

Peter Gay ordnet in seinem Buch Modernism Hernry James noch James Joyce, Virginia Woolf, Marcel Proust, Thomas Mann, Joseph Conrad, D.H. Lawrence, William Faulkner und Franz Kafka zu und begründet seine Auswahl, der er noch weitere Autor/innen der Moderne hinzufügen könnte, damit, dass Hernry James, James Joyce, Virginia Woolf, Marcel Proust und Franz Kafka repräsentative Autor/innen für eine kreative und kritische Auseinandersetzung mit traditionelle Erzähltechniken sind, die narrative Methoden fanden „of penetrating to the inner recesses of their fictional creations in strikingly individual ways.“2

Virginia Woolfs Romane, die der oben dargelegten narrativen Form des experimentellen Erzählens zuzuordnen sind und ihre Essays, weisen Wege der inneren Emigration von sich. Sie entwickeln einen narrativen bzw. essaystisch unverwechselbaren Ton, der mit sprachlichen Möglichkeiten reflektierend experimentiert, und sich, weil kulturelle Kontexte mit einbezogen werden, um das Zentrum individueller Selbstfindung in der Moderne drehen. Peter Gay zitiert Woolfs Tagebucheintrag vom 26. Juli 1922, in dem sie ihre Selbstentdeckung niederschreibt: „‘(…) that I have found out how to begin (at 40) to say something in my own voice‘“. Peter Gay kommentiert: „To be authentically herself, like no one else, no matter how admirable a model might be – this was the modernist incarnate speaking.”3 Anschließend stellt er einen Bezug zu Flaubert her, der Baudelaires Lyrik als Ästhetik gepriesen hatte „for being unlike anyone’s else’s.“4

Virginia Woolf, so schließt Peter Gay, habe, wie die anderen modernen Autor/innen, in ihren Romanen und Essays die existenzielle Frage nach dem Ich, „‘Who am I?‘“ – Bernards Suche nach dem Ich in Woolfs Roman The Waves – gestellt, ohne eine klärende Antwort darauf zu geben,5 und narrativ geben zu wollen. Romane, die in der Zeit des Modernism, also in der Zeit zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg entstanden,6 zeichnen sich durch eine imaginative, subjektive Prosa aus, die durch die Auflösung akzeptierter Kriterien des Erzählens, wie Kohärenz, Chronologie, Tabuisierung der Sexualität und ein auf Wahrscheinlichkeit hin konstruiertes Ende, auf damalige Leser/innen schockierend wirkte.

Virginia Woolf fand in der visionären Ästhetik ihrer Rezensionen, Essays und Romane ihre eigene Stimme, ihre eigene Ausdrucksweise, mit der sie den Unterschied ihrer Schriftstellergeneration, zu der auch Forster, Lawrence und Joyce gehörte, zu den Edwardianern Bennett, Galsworthy und Wells, sowie zu Schriftseller/innen des 18. und 19. Jahrhunderts formulierte. In ihrem 1919 erschienen Essay „Modern Fiction“ fordert sie ihr ästhetisch avantgardistisches Programm als innovative künstlerische Herausforderung ein:

Is life like this? Must novels be like this? Look within and life, it seems, is very far from being ‘like this’. Examine for a moment an ordinary mind on an ordinary day. The mind receives a myriad impressions – trivial, fantastic evanescent, or engraved with the sharpness of steel. From all sides they come, an incessant shower of innumerable atoms; and as they fall, as they shape themselves into life of Monday or Tuesday, the accent falls differently from old; the moment of importance came not here but there; so that, if a writer were a free man and not a slave, if he could write what he chose, not what he must, if he could base his work upon his own feeling and not upon convention, there would be no plot, no comedy, no tragedy, no love interest or catastrophe in the accepted style, and not a single button sewn on as the Bond Street tailors would have it. Life is not a series of gig lamps symmetrically arranged; life is a luminous halo, a semi-transparent envelope surrounding us from the beginning of consciousness to the end (…). Let us record the atoms as they fall upon the mind in the order in which they fall, let us trace the pattern, however disconnected and incoherent in appearance, which each sight or incident scores upon the consciousness.7

 

Virginia Woolf setzt gegen konventionelles Sehen eine semi-bewusste Aufmerksamkeit, die zwischen einer sich selbst erfahrenden Subjektivität und einer als objektiv wahrgenommenen Außenwelt, nicht im Sinne einer Realitätsleugnung, sondern als initiativ schöpferische Realitätsanverwandlung, vermittelt. Diese korrelative Anverwandlung erkennt Strukturen, die sich widersprechen als Zusammenhänge, mithin als pattern, das im Schreibprozess zum Konstruktionsprinzip der narrativ visionären Ästhetik ihres jeweiligen Romans bzw. ihrer Essays wird.

Indem Virginia Woolf das Ideal eines experimentellen, impressionistisch radikalen Subjektivismus mit demokratischem Anspruch,8 gegen die Paradoxie realistischen Erzählens setzt, begehren ihre Schriften, insbesondere ihre Romane, gegen die konventionelle Tradition der Plotbezogenheit auf. Woolf generiert eine visionäre Ästhetik, die die Wirklichkeit im Inneren des Subjekts als inkohärentes Muster ausfindig zu machen sucht und dem Kunstwerk eine über sich selbst hinausweisende eigene Realität zuweist.9 Im ästhetischen Konzept der Androgynität, das ihren Romanen inhärent ist, werden kulturell sanktionierte Gegensätze vertauscht. Es entsteht eine narrative „Vertauschbarkeit als Indifferenz“10, die die Metaphysik des Schwebens in der Harmonie der Gegensätze bewahrt und zugleich gegen sie aufgebehrt, indem sie die Verwandschaft der Gegensätze als immanente Transzendenz erzähldynamisch zum Ausdruck bringt, ohne sie zur Synthese zu führen.

Folglich löst das „schwebende() Gleichgewicht“11 der Erzählweise ihrer Romane die Paradoxie des poetischen Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters auf. Den Konflikt zwischen Subjekt und Welt, anthropologischem und ethischem Anspruch ihrer (Woolfs) Romane, zieht sie in der veränderten Charakterkonzeption ihrer Erzählfiguren zusammen. Woolf sieht das moderne Individuum nicht als patriarchalen Monolith und zwanghaft geschlossene Wesenheit, sondern im Paradigma transitorischer Identität als flexibles Gemisch aus Emotionen und Impressionen. Ihre Romane und Essays geben, ganz in der Nähe zu Sigmund Freuds Forschungen, die die Hogarth Press der Woolfs in Übersetzung herausgab, und doch mit eigener Akzentsetzung, den Innenwelten der Erzählfiguren den Vorrang vor der mimetischen Erfassung der Empirie, die bei den Realisten des 19. Jahrhunderts immer deterministische Züge enthielt, die sie in der Ambivalenz des narrativen Paradoxons aufzulösen suchten.

Zur visionären Ästhetik ihrer Romane gehört auch eine Zeitauffassung, wie sie Henri Bergson in seinem Werk Zeit und Freiheit (1888) vertrat. Bergson unterscheidet zwischen einer äußeren historischen und einer inneren subjektiven Zeitauffassung. Letztere wird an der Intensität erlebter Augenblicke gemessen. Virginia Woolf sieht die externe Zeit als Auslöser einer frei beweglichen inneren Lebendigkeit. Wie andere Schriftsteller der Moderne experimentiert sie mit dem Fluss zufällig entstehender Assoziationen, der sogenannten Bewusstseinsstrom-Technik. Den Begriff stream of consciousness prägte William James in seinem Werk Principles of Psychology (1890) für den monologue intérieur, der auf das Werk Les Lauriers sont coupés (1887) des französischen Symbolisten Éduard Dujardin zurückgeht.12 Der innere Monolog kann als „mimetische Form der Bewusstseinsdarstellung“13 einer Romanfigur verstanden werden, die ohne einen vermittelnden Erzähler den „Eindruck größtmöglicher Unmittelbarkeit in der Wiedergabe von Bewusstseinsprozessen“14 entstehen lässt. Da ein vermittelnder Erzähler fehlt, findet die Charakterisierung der Figuren durch den narrativen gedanklichen Selbstbezug der Figuren statt. Das Zusammenspiel solcher Figuren in einem Roman ergibt in Virginia Woolfs Romanen eine multiperspektivische Textur, die an Gemälde des Impressionismus, Kubismus, aber auch an filmische Techniken der Montage, der Flashbacks, Close-Ups und an schnelle Cuts erinnert.15

Aus Woolfs ästhetischen Konzept einer nicht mimetischen, kreativen Aufmerksamkeit für die Welt, die im literarischen Text gebildet wird, und im Vollzug ihrer literarischen Herausbildung des Erblickens der Einzelheiten der Welt, die synechdochisch als welthaltige reflektiert werden,16 ergeben sich Erfahrungsschocks für Leser/innen, die tradierte Erzählweisen erwarten. Woolfs Romane und Essays werfen visionäre Blicke auf das Leben in der Moderne. Da Woolfs Romane den visionären Blick in einzigartigen erzählten Realitäten kreiren, dabei die Erscheinungen der Welt tranzendieren und eine multiperspektivische Ganzheitsvision entwerfen, ergibt sich für Leser/innen die erkenntniskritische Frage, was Woolf unter Realität verstehe und was Realität eigentlich sei?

In ihrem Essay A Room of One’s Own umkreist Woolf, im Zusammenhang mit der Frage, welchen Stellenwert Frauen in der Literatur seit der Frühen Neuzeit haben, paternalismuskritisch diese Problematik. Im sechsten Kapitel gibt sie eine Antwort auf die Frage, was sie unter Realität versteht.

Woolf leitet ihr Realitätsverständnis mit der Bemerkung ein, dass sie ihre Vorlesungsnotizen selbstkritisch durchgeschaut und bemerkt habe, ihre Motive für diese Vorlesungen seien nicht vollkommen egoistisch. Vielmehr ziehe sich durch ihre Erörterungen die Überzeugung, „(…) that good books are desirable and that good writers, even if they show every variety of human depravity, are still good human beings.”17 Woolfs Wunsch nach guten Büchern, lässt sie die Studentinnen bitten, mehr Bücher zu schreiben, die gut für sie und für die ganze Welt sein werden. Ihre zukunftsbezogene Überzeugung hält sie für einen „instinct or belief“18, weil sie als Frau, die keine Universitätsausbildung hat, philosophischen Begriffen misstraut. Diese seien „apt to play one false“.19

Konsequenterweise ist Woolfs Vorstellung von gut abgelöst von objektiv- teleologischen Deutungen zu verstehen. In der neuzeitlichen Ethik wird das Gute als Ausdruck allgemein menschlicher Empfindungen gedeutet, „die den Rahmen der auf Selbsterhaltung u(nd) Selbststeigerung abzielenden Bedürfnisbefriedigung sprengen (J. Butler, D. Hume)“.20 Es handelt sich bei Virginia Woolfs Verständnis von gut also nicht um ein teleologisch oder zweckrational begründetes Gutes, sondern um eine maßstabanaloge Vision, die sich an gegebenen moralischen Empfindungen, ohne objektive Geltungsansprüche intuitiv anlehnt, wobei intuitiv anzusehen ist als eine durch unmittelbare Anschauung entstandene ganzheitliche Sinneswahrnehmung.21

Virginia Woolfs Skepsis gegenüber Begriffen, die sie dreifach auf ihr Selbstgefühl, auf Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und auf ihre emanzipatorische Intuition einer Humanitätsvision bezieht, führt sie zu der Frage: „What is meant by ‚reality‘?“22, eine Frage, die in diesem Kontext den dreifachen Bezug des Persönlichen, Sozialen und ganzheitlich Kosmischen aus weiblicher Sicht mit einbezieht, der als vierten Aspekt die Frage enthält, wie Realität im Sinne eines Maßstabes für Humanität zum Ausdruck gebracht werden könne? Von dieser Vision her gibt sie folgende Antwort:

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