Digitalisierung verstehen

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Digitalisierung verstehen
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HANNES ANDROSCH

DIGITALISIERUNG VERSTEHEN

Was wir über Arbeit, Bildung und die Gesellschaft der Zukunft wissen müssen

In Zusammenarbeit mit Marie-Theres Ehrendorff


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Kapitel 1 : Digitaler Wandel

Die Instrumente der Digitalisierung

Kapitel 2 : Arbeitswelt und Erwerbsleben

Die Neuerfindung des Berufsalltags

Digitale Geschäftswelt des 21. Jahrhunderts

Kapitel 3 : Lebensgrundlage und Lebenschancen

Digitalisierung revolutioniert das Finanzsystem

Bedrohter Cyberraum: Internetkriminalität

Demokratie 4.0

Bildung in der Wissensgesellschaft

Kapitel 4 : Künstliche Intelligenz, die Königsdisziplin der Digitalisierung

Was ist künstliche Intelligenz?

Die Technik der KI

Roboter prägen unser Leben

Kapitel 5 : Technikgetriebene Zukunft

Mobilität in Bewegung

Umwelt trifft Nachhaltigkeit

E-Health: Digitalisierung im Gesundheitsbereich

Neue Impulse für den Gesundheitssektor

Der digitale Mensch

Ausblick

Das Digital-Vokabularium

Quellen

Literatur

Englischsprachige Literatur

Im Text erstmalig angeführte und im „Digital-Vokabularium“ ab S. 180 erläuterte Fachbegriffe, wie z.B. „Digitalisierung“, „Hardware“, „Software“, sind farbig hervorgehoben.

EINLEITUNG

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“

(Chinesische Weisheit)

Der digitale Wandel hat uns fest im Griff

Wir leben in einer Zeit rasanter Veränderungen, geprägt von Umwälzungen und Umbrüchen. Es ist zugleich eine Zeit der Ungewissheiten und Unsicherheiten und damit auch eine Zeit von Besorgnis und Ängsten – insgesamt eine Epochenwende. Und diese Zeitenwende bringt völlig neue Anforderungen und Probleme mit sich, die sich mit Rückgriffen auf die Vergangenheit nicht lösen lassen.

So hat uns die Corona-Pandemie die Bedeutung der Digitalisierung vor Augen geführt und schonungslos die Schwachstellen unserer Gesellschaft aufgezeigt. Die große Herausforderung im digitalen Wandel ist die Geschwindigkeit. Covid-19 hat die Welt mit einem Schlag fast lahmgelegt und wir hatten von einer Stunde auf die nächste zu handeln, um die lebensnotwendigen Bereiche am Laufen zu halten. Flexibilität ist ebenfalls ein fundamentales Wesensmerkmal der technologischen Revolution. Durch kurzfristiges Improvisieren war das Weiterarbeiten in Unternehmen möglich, auch wenn die Mitarbeiter nicht im Büro anwesend sein konnten. Ad hoc wurde aus einem Wohnzimmer ein Homeoffice mit Esstisch als Arbeitsplatz, denn digitale Technik funktioniert genauso gut von zu Hause oder von unterwegs.

Als Schwachstelle entpuppten sich weder Hardware noch Software, sondern ein soziotechnisches Problem: die Schnittstelle, die Mensch und Technik in ihren routinemäßigen Abläufen aufeinandertreffen lässt. Auch digitale Wege sind keinesfalls so kurz, wie der Schriftverkehr via E-Mails, PDF-Dokumenten oder Scans in der computerbasierten Verwaltung vermuten lässt. Durch die Digitalisierung ändern sich Arbeitsort und Arbeitszeit – die zeitlichen und räumlichen Grenzen verschwimmen – und der kurzfristige informelle Austausch auf schnellem Dienstweg – eine Etage höher oder tiefer – ist ausgeschlossen. Regeln, Vorschriften und Normen, die institutionellen Rahmen der Arbeit betreffend, werden uns wohl noch intensiv beschäftigen.

Im Lockdown, als die Menschen festgestellt haben, dass Kommunikation nicht nur persönlich möglich ist, sondern auch über zwei Bildschirme funktioniert, boomten Videodienste wie „Zoom“, „Teams“ und andere. Dort haben sich neue Geschäftsfelder aufgetan, wie beispielsweise Koch- oder Yogakurse. Auch das Homeschooling hat der Digitalisierung im Schulbetrieb einen Schub verliehen. Was am Anfang fast unüberwindlich schien und mehr als holprig startete, hat im Distance Learning Mini-Fortschritte gebracht. Ähnliches gilt für die Telemedizin: Die reine Zettelwirtschaft hat ein Ende und das physische Rezept und der Krankenschein sind nunmehr auch digital. Dennoch herrscht Aufholbedarf. Nur jedes zehnte Handelsunternehmen hat es in Österreich geschafft, einen Großteil seines Geschäfts in den Online-Bereich zu verlagern. Davon profitieren Amazon und Co., was die Wertschöpfung ins Ausland fließen lässt.

Häufig mangelt es nicht einmal am Angebot, sondern schlichtweg an den Möglichkeiten. Wir wollen zwar im digitalen Zeitalter vor Anker gehen, schaffen es aber nicht, weil uns die Infrastruktur fehlt. Internet ist in Österreich noch immer nicht flächendeckend vorhanden. Die Kosten zur Verlegung der Kabel sind im Vergleich zu anderen Ländern hoch und in ländlichen Regionen – wo nicht einmal 10 Megabits über klassische DSL-Leitungen geliefert werden können – verbesserungsbedürftig. Die 5G-Technologie soll mit Mobilfrequenzen hier flächendeckend bis 2023 Abhilfe schaffen, wobei der Bedarf an Datenvolumen bereits jetzt – mit einem Rekordanstieg von bis zu 81 Prozent – explodiert ist. Unser Nachbarland Schweiz bietet der Bevölkerung fast flächendeckend Zugang zu 5G.

Digitalisierung verändert alles bisher Dagewesene

Obwohl die Digitalisierung keineswegs von heute auf morgen über uns hereingebrochen ist, kann sich niemand vorstellen, wie der Arbeitsmarkt im Jahr 2050 aussehen wird und welche Bedeutung der Familie, der Umwelt oder der Weltanschauung zukommen wird. Ganz zu schweigen von neuen Wirtschaftssystemen oder politischen Strukturen.

Nach der Entdeckung des Feuers war die neolithische Revolution mit der Entstehung von Landwirtschaft und Viehzucht der wahrscheinlich größte Einschnitt in der Menschheitsgeschichte. Nachdem der Mensch sesshaft geworden war, haben sich Städte und Schriftkulturen, komplexe Sozialsysteme, eine arbeitsteilige Wirtschaft und ausgefeilte Regularien für das Zusammenleben entwickelt. Die Sesshaftigkeit des Menschen ist die Quelle von Schrift, Staat und Staatsbildung. Mit der Zeit wurden Basistechnologien wie Metallverarbeitung, Mühlen oder Transport- sowie Logistiksysteme entwickelt. Die – im wahrsten Sinn des Wortes – wichtigste Antriebskraft dafür war über lange Zeit die Muskelkraft.

Dabei blieb es auch mehrere Jahrtausende. Erst die industrielle Revolution, beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, läutete mit der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn den Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft ein. Durch das Nutzbarmachen von fossilen Energieträgern, anfangs vor allem Kohle, wurde die Muskelkraft durch Maschinenkraft zuerst ergänzt und bald vielfach ersetzt.

Der Einsatz von Maschinen brachte viele Entwicklungen ins Rollen, sowohl technologischer als auch ökonomischer und sozialer Art. Ab dem späten 19. Jahrhundert setzten sich sukzessive Elektrizität und der Verbrennungsmotor durch. Der Umstieg von der Kutsche auf das Auto beeinflusste die Mobilität und die Mechanisierung in der Landwirtschaft. Das Arbeiten am Fließband in Fabrikshallen sowie ergänzende Methoden der Automatisierung revolutionierten schließlich die Güterproduktion. Ein weiterer Entwicklungsschub in der Automatisierung stellte sich mit der Entwicklung des Computers und dem Einsatz von Elektronik in den 1950er-Jahren ein.

Nun erleben wir erneut einen einschneidenden Wandel: den Umbruch von der industriellen zur digitalen Revolution. Auf Basis von Internet, Big Data, Algorithmen und deren Vernetzung zum Internet der Dinge mit immer leistungsfähigeren Sensoren, der künstlichen Intelligenz und maschinellem Lernen geht der Trend in Richtung cyber-physikalische Systeme. Ergänzt werden diese Entwicklungen durch Fortschritte in den Bereichen neue Materialien, Nanotechnologie, Quantencomputer und Gensequenzierung sowie deren Verknüpfung. Was früher die Maschinenkraft für die Muskelkraft war, ist jetzt die künstliche Intelligenz für die Geisteskraft: eine Erleichterung und Ergänzung der menschlichen Arbeit.

 

Diese Entwicklung stellt uns vor komplett neue Herausforderungen und Chancen, da wir mit der Digitalisierung völliges Neuland betreten. Während alle vorangegangenen Revolutionen auf den physikalischen Gesetzen der Mechanik, u. a. der Schwerkraft, basierten – und auch Elektrizität, Elektromagnetismus sowie Wärme (Thermodynamik) eine wichtige Rolle spielten –, kommt dieses Mal eine Ebene mit gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten hinzu: die Überwindung von Entfernungen ohne Kraftanstrengung und in Lichtgeschwindigkeit.

Virtuelle Verbindungen ermöglichen es, Wirkungen nahezu in Echtzeit am anderen Ende der Welt auszulösen. Davon profitiert die Telemedizin ebenso wie die Industrie 4.0. In Sekundenschnelle ein Problem eines Roboters in einem schwedischen Labor durch einen Techniker in Übersee oder Asien zu erkennen und zu beheben ist nicht mehr Science-Fiction, sondern wird State of the Art in einer Industriegesellschaft 5.0 sein. Dabei geht es um eine allumfassende Digitalisierung, in deren heikelster Phase wir uns derzeit befinden. Die Weichen in der Staatsführung, der Verwaltung, in der Wirtschaft sowie für unser soziales Zusammenleben werden jetzt gestellt. Wie gut es uns gelingen wird, die verkrusteten Strukturen unserer Gesellschaft aufzubrechen, wird darüber entscheiden, wie wir uns in der globalen, digitalen Welt behaupten können.

Das noch niemals Dagewesene ist nicht allein in der Technik zu finden, sondern auch im sozialen Umfeld. Das neue Zeitalter wird vieles auf den Kopf stellen. So lassen sich für eine digitalisierte Welt keine analogen Schlüsse aus Erfahrungswerten ziehen. Wir können heute nicht unsere Eltern oder Großeltern um deren Einschätzungen fragen, weil es die virtuelle Komponente schlichtweg noch nie gegeben hat. Wir werden also gemeinsam experimentieren müssen und das Erlernen und Trainieren der neuen Kulturtechnik wird niemandem – egal welchen Alters – erspart bleiben.

Eine digitale Kluft zwischen Jung und Alt ist evident, dennoch verläuft die digitale Spaltung unserer Gesellschaft innerhalb der älteren Generation selbst. Zahlreiche Umfragen machen sichtbar, wie schwer Senioren mit der neuen Technologie zurechtkommen. Digitalisierung ist für Menschen im fortgeschrittenen Alter jedoch ebenso bedeutend wie für die Gruppe der nachfolgenden Generationen. Es geht dabei um den Zugang zu Informationen, die aktive Teilhabe am sozialen Leben, wie z. B. dem digitalen Bankverkehr, dem Telebanking oder dem digitalen Impfpass am Smartphone sowie der medizinischen und pflegerischen Versorgung. In letzteren Bereichen wird Digitalisierung geradezu virulent.

Digitale Kompetenz im Alter hat auch wesentlich mit der Zugehörigkeit zu höheren sozialen Schichten, höherem Bildungsstand sowie den materiellen Ressourcen eines Menschen zu tun. Allen Menschen Zugang zu den digitalen Möglichkeiten zu verschaffen und niemanden in der analogen Welt zurückzulassen, ist Verpflichtung unserer Gesellschaft.

Wer allerdings bewusst in der analogen Welt verharrt, wird früher oder später mit Sicherheit abgehängt werden. Die digitale Welt dreht sich immer schneller. Seien es die Offliner, alle Altersklassen betreffend, oder Unternehmen, die in den kommenden Jahren die Überfuhr in die Plattformgesellschaft verschlafen. Wenn sich die Kunden in digitaler Hinsicht schneller als die Betriebe entwickeln, weil in der virtuellen Welt binnen kürzester Zeit Bedürfnisse entstehen, die es zuvor nicht gab, dann werden auch die treuesten Stammkunden per Mausklick bald über alle Berge sein.

GAFAM, das Akronym für die US-amerikanischen Technologie-Unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, auch Big Five genannt, befinden sich infolge des rasanten technischen Fortschritts in einem schwindelerregenden Wachstumsprozess und zählen weltweit – gemessen an ihrer Marktkapitalisierung – seit 2010 zu den zehn größten Unternehmen. Die Treiber dieses Wachstums, die technologischen Erfindungen, finden in immer kürzeren Zeitabständen statt. Waren es in der neolithischen Revolution mit dem Sesshaftwerden der Menschen und dem damit einhergehenden Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht noch Jahrtausende, die zwischen den Erfindungen verstrichen, waren es in der jüngeren Geschichte ab der industriellen Revolution nur mehr knappe Jahrhunderte. Innovationen wie das Telefon oder das Automobil brauchten dann noch Jahrzehnte, um sich durchzusetzen, was sich im digitalen Zeitalter ab 1995 auf wenige Jahre reduziert hat. Facebook wurde 2004 gegründet, YouTube 2005, Twitter 2006, WhatsApp 2009 und Instagram 2010. Und auf das erste Handy mit erweiterten Multimediamöglichkeiten, das vom finnischen Hersteller Nokia, als „Nokia 9000 Communicator“, 1996 auf den Markt kam, folgte 2007 das erste iPhone 2G von Apple, das sich innerhalb kürzester Zeit am Markt behaupten konnte.

Für immer weniger Geld steigt die Rechenleistung in den immer kleiner werdenden Geräten unaufhörlich an. In Österreich besitzen 83 Prozent1 der Menschen ab 15 Jahren ein Smartphone und mehr als 18 Millionen SIM-Karten sind bereits im Umlauf. Diese meist daumennagelgroßen Chipkarten finden sich in den smarten Geräten im Internet of Things (IoT), wie man sie auch in Überwachungskameras, Bohranlagen oder Beleuchtungen verwendet. Auch für die Anzeige von freien Parkplätzen werden die kleinen Prozessoren mit Speicher eingesetzt.

Diese neue Revolution, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, bringt einen tiefgreifenden Wandel unserer Werte-, Handels-, Produktions- und Wirtschaftssysteme sowie Gesellschaftsstrukturen mit sich. Sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche werden davon berührt und verändert – die Landwirtschaft und die Güterproduktion genauso wie der Handel, das Bildungswesen, die Wissenschaft oder die Büroarbeit.

Dass es sich hierbei erst um den Anfang eines nachhaltigen Strukturwandels handelt, dem noch viele Veränderungen folgen werden, ist einleuchtend. Unter dem Schlagwort „precision medicine“ wird z. B. an neuartigen Behandlungsmethoden geforscht, um Krankheiten individuell zu bekämpfen und für jeden Patienten das effektivste Heilverfahren zu finden. Auch unser Geld- und Bankwesen wird bald ein völlig anderes sein, vom Bildungswesen gar nicht zu sprechen. Die Technologie wird radikale Innovationen in der Wirtschaft hervorbringen und ganze Industriezweige auf eine disruptive Art verändern.

Automatisierung braucht Spezialisten

Angst vor dem digitalen Wandel zu haben wäre die völlig falsche Reaktion. Es eröffnen sich große Möglichkeiten und Chancen: Die Digitalisierung ist heute der Schlüssel für wirtschaftliche Prosperität und kann bei der Lösung der Sustainable Development Goals (SDGs) und der „Grand Challenges“ der Vereinten Nationen mit seinen 17 nachhaltigen Zielen wie Frieden, Ernährungssicherheit und nachhaltige Landwirtschaft, sauberes Wasser und Verbesserung der Hygiene, Umwelt- und Biodiversitätsschutz, Energiewende, Klimawandel, Bildung, Armutsbekämpfung, Gesundheit, Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung oder der alternden Gesellschaft helfen. Auch beim Weg aus der Corona-Krise werden digitale Technologien eine wichtige Rolle spielen.

In der heutigen Plattformökonomie wachsen die Serviceleistungen, die mit Gütern verbunden sind, viel rascher als deren Produktion. Unternehmen sind gefordert, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu erschließen. Die Furcht vor technologiebedingter Massenarbeitslosigkeit ist so alt wie die Wirtschaft selbst. Historisch betrachtet entstanden aber bei wirtschaftlichen Umbrüchen stets viel mehr neue Jobs, als alte verloren gingen. Berufsbilder verändern sich, traditionelle Arbeitsstellen werden wegfallen, im Gegenzug werden neue Jobs entstehen. Dank neuer Technologien werden insbesondere monotone, gefährliche und körperlich schwere und schmutzige Jobs, die sogenannten „drei d: dull, dirty and dangerous“, bzw. leicht erlernbare Routinetätigkeiten wegfallen.

Die neue Maschinenintelligenz macht auch im „white collar“-Bereich den Menschen Konkurrenz. Gut ausgebildete Kräfte werden dennoch nicht arbeitslos sein. Es braucht Spezialisten, die das digitale Zeitalter meistern. Angesichts des demografischen Wandels wird es in absehbarer Zukunft kein Überangebot an Arbeitskräften, sondern einen Mangel geben, ausgenommen in Afrika und Indien. Mitarbeiter im Pflege- und Bildungsbereich werden in jedem Fall gesucht sein – und zwar auf allen Qualifikationsstufen. Der Fokus wird daher verstärkt in der Aus- und Weiterbildung liegen.

Die digitale Entwicklung hat auch soziale Konsequenzen. Wie bei jeder Transformation gibt es Modernisierungsgewinner und -verlierer. Menschen, die in der Plattformökonomie engagiert sind, profitieren von der Entwicklung. Parallel dazu entstehen aber auch viele schlecht bezahlte und nicht abgesicherte Jobs wie das digitale Präkariat, auch „Gig-Ökonomie“ genannt. Dies spaltet die Gesellschaft zunehmend, und das müssen wir verhindern und bekämpfen.

Abstiegs-, Verdrängungs- und Zukunftsängste sind eine Quelle, aus der billiges politisches Kapital geschlagen werden kann. In diesem Klima sind demagogischen und populistischen Akteuren mit ihren illiberalen, antidemokratischen und autoritären Tendenzen Tür und Tor geöffnet. Das äußert sich mancherorts in zunehmender Autokratisierung oder gar gewaltsamen Auseinandersetzungen. Das soziale Gewebe wird immer brüchiger, ohne jegliche zukunftsorientierte Lösung. Der digitale Wandel muss daher sozial abgefedert werden.

Digitaltechnologien haben auch bestimmenden Einfluss auf die Weltwirtschaft und Geopolitik. Die Innovationsdynamik auf lokaler und auf globaler Ebene wird entscheiden, welche Position ein Land im digitalen Zeitalter wirtschaftlich einnehmen wird. Dabei gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ist vorne dabei – oder man ist hinten weg. Europa und insbesondere Österreich liegen im Wettlauf weit abgeschlagen hinter den Internet-Giganten zurück. Weder das Konzept der USA mit seinem Digital-Kartell noch jenes von China mit seiner Digital-Diktatur lässt sich auf Europa übertragen. Finden wir nicht bald eine eigenständige Lösung, mit einem starken Fokus auf Forschung, Entwicklung und Innovation, werden die wirtschaftlich-sozialen Standards bald nicht mehr zu halten sein.

Auch die Demokratie ist im digitalen Zeitalter Gefahren ausgesetzt. Bewusst gestreute Fake News können das Vertrauen der Menschen untergraben und die Gesellschaft destabilisieren. Menschen können durch das Sammeln und Auswerten von Daten in bisher ungeahnter Weise überwacht und manipuliert werden – sei es in Form eines „antidemokratischen Überwachungsstaats“ nach chinesischem Muster oder eines „manipulierenden Überwachungskapitalismus“ durch Konzerne, die sich jeglicher Kontrolle entziehen.

Internet, Big Data und künstliche Intelligenz als Instrumente

Die technologischen Treiber der digitalen Transformation konzentrieren sich im Wesentlichen auf vier Punkte: das exponentielle Wachstum von Rechen- und Speicherkapazität in der Elektronik; die Fortschritte in der Sensorik und Bildverarbeitung; die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung durch moderne Kommunikationstechnologie; sowie die Entwicklung leistungsfähiger Algorithmen im Bereich maschinelles Lernen, Automatisierung, Optimierung und künstliche Intelligenz. Es gibt bereits Stimmen, die behaupten, ein Teil der Digitalisierung, nämlich die künstliche Intelligenz (KI), sei bedeutsamer, als die Zähmung des Feuers, die Erfindung der Dampfmaschine oder die Einführung der Elektrizität es in der Vergangenheit waren.

Zwar bildet der Einsatz von KI-Anwendungen derzeit noch nicht die gesamte Breite der Möglichkeiten ab, die uns in den nächsten Jahrzenten ins Haus stehen werden, der Treiber des technischen Fortschritts, die wirtschaftlichen Aussichten, sind fraglos beachtlich. Künstliche Intelligenz hat nach Prognosen des McKinsey Global Institute (MGI) das Potenzial, das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 93 Billionen US-Dollar im Jahr 2020 bis 2030 um durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte pro Jahr zu steigern. KI übertrifft somit den jährlichen Wachstumseffekt, den seinerzeit Dampfmaschinen (0,3 Prozentpunkte), Industrieroboter (0,4 Prozentpunkte) und die Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT, 0,6 Prozentpunkte) erzielten. Mit künstlicher Intelligenz ist bis 2030 ein zusätzlicher globaler Wertschöpfungsbeitrag in Höhe von 13 Billionen US-Dollar möglich. Vielleicht nicht ganz vorstellbar, daher etwas anschaulicher beschrieben: Hintereinander gelegt ergäben 13 Billionen Ein-Dollar-Scheine eine Strecke von mehr als zwei Milliarden Kilometer: von der Erde zum Saturn und wieder zurück.

 

Künstliche Intelligenz wird heute in abgegrenzten Aufgabenfeldern erfolgreich eingesetzt: im Gesundheits- und Vorsorgebereich, in der Diagnostik, im Finanzwesen beim Aktienhandel, in der Mobilität beim autonomen Fahren, in der Smart City, in der industriellen Produktion im Zuge der Smart Factory sowie in Form neuer Kommunikationsmöglichkeiten, bei Videospielen, in der Werbung durch personalisierte Anzeigen und nicht zuletzt beim Militär oder in tödlichen autonomen Waffen, wie dem „Killerroboter“ u. a.

Doch bei aller Euphorie darf in der Diskussion nicht vergessen werden, dass es sich bei künstlicher Intelligenz um eine Maschine handelt, die in vielen Bereichen auf die Unterstützung des Menschen angewiesen ist. Das gilt für den Arzt ebenso, den KI bei seinen Diagnosen unterstützt, wie für den Ingenieur, der durch KI zumindest derzeit nicht ersetzt werden kann. Man spricht daher auch oft von „Augmented Intelligence“, also erweiterter Intelligenz, während „Autonomous Intelligence“ ein Stück weiter geht und für Systeme wie das autonome Fahren genutzt wird.

Die Erwartungen und Meinungen über künstliche Intelligenz sind so vielfältig wie die Menschen, die sie äußern: Mutmaßte der Astrophysiker Stephen Hawking noch, dass „der Erfolg bei der Schaffung einer effektiven KI das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein könnte – oder das schlimmste „…“, so vermutet Tesla-Gründer Elon Musk sogar, „dass KI einen dritten Weltkrieg verursachen könnte“, und der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari warnt vor digitalen Diktaturen, wenn die Menschen die Hoheit über ihre Daten der künstlichen Intelligenz überlassen. Microsoft-Gründer Bill Gates gehört ebenfalls zu den Skeptikern, während Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg optimistisch in die Zukunft von KI blickt – so wie der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow, der „in der künstlichen Intelligenz keine Bedrohung erkennt“, obwohl er sich beim Schachspielen dem Computer Deep Blue geschlagen geben musste.

Eine Spirale des Fortschritts

Noch können wir selbst entscheiden, ob, wie und wann wir die neue Technologie nutzen. Ob das in Zukunft auch so bleibt, darüber streitet sich die Wissenschaft. Die Vorstellung, dass sich die Menschheitsgeschichte aufgrund des an Fahrt gewinnenden technologischen Fortschritts einer Singularität nähere, will der US-amerikanische Zukunftsforscher und Head of Engineering bei Google Ray Kurzweil mit seinem Gesetz vom steigenden Ertragszuwachs, „law of accelerating returns“, legitimieren. Dieses „je besser die Technologie, umso schneller wird sie noch besser, was im Laufe der Zeit zu einer exponentiellen Verbesserung führt“, könnte auf eine Singularität hinauslaufen, die er in das Jahr 2045 datiert. Jenen Zeitpunkt, an dem die Maschine so intelligent sein soll, dass sie ihren Schöpfer übertrumpft und der jahrtausendelangen Tradition, dass sich die Menschheit ihre Geschichte selbst schreibt, ein Ende bereiten wird.

Die mögliche menschliche Lebensspanne, die nach heutigem Erkenntnisstand mit 120 Jahren beziffert wird, wollen Forscher in den nächsten Jahrzehnten durch digitale Technik in Verbindung mit Nanotechnologie und Biotechnologie auf etwa 250 Jahre erweitern. Menschliche Intelligenz und individuelles menschliches Bewusstsein unabhängig vom hinfälligen Körper zu schaffen ist die Vision vieler Transhumanisten. Wenn es auch nicht alle Fantasien der digitalen Elite des Silicon Valley in die Realität schaffen werden, so hat sich bereits einiges verwirklicht, was für uns vor einigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen ist.