Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit

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Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit
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Gisela Mayr

Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit

Eine unterrichtsempirische Studie zur Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz in der Sekundarstufe II

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8358-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0191-2 (ePub)

Inhalt

  Danksagungen:

  Verzeichnis der Abkürzungen:

  Vorwort

  TEIL I Mehrsprachigkeit und Sprachenlernen in der EU

  1. Ziele, Gegenstand und Struktur der Studie

 2. Sprachenvielfalt und Sprachenlernen in der EU2.1 Sprachenlernen im GER2.1.1 Die Mehrsprachigkeit im GER2.1.2 Rahmenstrategien zur Mehrsprachigkeit2.2 Aktualisierung der Deskriptoren: der CEFR/CV2.3 Der FREPA/CARAP oder A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to languages and Cultures – Competences and Ressources2.3.1 Pluralistische didaktische Ansätze2.3.2 Savoir s’engager – ein unberücksichtigter Kompetenzbereich2.4 Mehrsprachigkeit als Priorität schulischen Handelns2.4.1 Inklusion und Sprachenvielfalt2.4.2 Curriculare Verankerung von Mehrsprachigkeit2.4.3 Aktuelle Projekte zur Mehrsprachigkeitsdidaktik

 3. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze und neue Perspektiven3.1. Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner3.2 Die Interkomprehension und ihre Didaktik3.2.1 Metakognition und Language Monitoring3.2.2 Interlingualer Transfer3.3 Das Tertiärsprachenlernen oder TLA (Third Language Acquisition)3.3.1 Spracherwerbsprozesse fruchtbar miteinander verknüpfen3.3.2 Psychotypologie und Lernbereitschaft3.4 CLIL / Bilingualer Sachfachunterricht3.4.1 Lebensweltliche und wissenschaftliche Relevanz3.4.2 Abstraktes Denken und soziales Lernen3.5 Unerfüllte Desiderate3.5.1 Latein als Brückensprache3.5.2 Aktive Teilhabe am transkulturellen sozialen Diskurs3.5.3 Literarisches Lernen und Sprachproduktivität3.5.4 Mehrsprachiges Schreiben3.5.5 Forderung nach neuen didaktischen Ansätzen

  Teil II Theoretische Modellbildung

 4 Theoretische Modellierung Mehrsprachiger Kommunikativer Kompetenzen (MKK)4.1 Kompetenz: Eine Begriffsdefinition4.2 MKK und symbolische Kompetenz4.2.1 Die symbolische Form als Baustein für die Identitätsbildung4.2.2 Kulturelle und soziale Rekontextualisierung4.2.3 Ambiguitätstoleranz in multiplen Diskursen4.3 MKK und Sprach(en)bewusstheit4.3.1 Die performative und soziale Dimension4.3.2 Die emotionale Ebene4.4 Psycholinguistische und soziolinguistische Aspekte der MKK4.4.1 Das Faktorenmodell4.4.2 Das DMM (Dynamic Model of Multilingualism)4.5 MKK – Mehrsprachige Gesprächspraktiken und einfaches Sprachmanagement4.5.1 Code-switching4.5.2 Language Mode und Sprachwechsel4.5.3 Translanguaging4.5.4 Code-mixing4.6 MKK und Emotion4.6.1 Sprachen erfassen Emotionen unterschiedlich4.6.2 Die gefühlsbedingte Sprachentlehnung4.6.3 Die affektive Sozialisation4.7 Schlussfolgerung für die Modellierung von MKK

  Teil III Datenerhebung und Auswertung

 5 Soziales und geschichtliches Umfeld der Studie5.1 Von der Zwei- zur Mehrsprachigkeit in Südtirol5.1.1 Der lange Weg bis zum 1. Autonomiestatut5.1.2 Vom 2. Autonomiestatut bis heute5.1.3 Südtirol in der Gegenwart5.1.4 Von der Zweisprachigkeit zur Mehrsprachigkeit5.2 Das Mehrsprachencurriculum Südtirol

  Teil IV Forschungsdesign und Datenanalyse

 6 Forschungsdesign6.1 Aufgabenorientierung und Task-Approach6.1.1 TBLT6.1.2 Die Komplexe Kompetenzaufgabe nach Hallet6.1.3 Die mehrsprachige Kompetenzaufgabe6.1.4 Aktuelle und relevante Themen und Inhalte6.1.5 Fazit für die Modellierung MKK:6.2 Datenerhebungskontext: Das schulische Umfeld6.2.1 Die Wahl der Klasse6.2.2 Die Datenerhebung6.2.3 Aufbau und Abfolge der Unterrichtsmodule6.2.4 Von der Lehrperson zur Forscherin6.2.5 Gütekriterien6.3 Dokumentation und Analyse der Datensätze6.3.1 Fragebögen zur Sprachbiographie6.3.2 Audio- und Videodateien6.3.3 Stimulated Recalls (SR)6.3.4 Das Forschungstagebuch6.3.5 Die retrospektiven Interviews6.3.6 Triangulation der Daten6.3.7 Kodierung und Modellbildung6.4 Die Module6.4.1 Alternierend einsprachig/mehrsprachiges Modul: Political Speeches6.4.2 Aufbau der Unterrichtseinheit: Political Speeches

 7 Auswertung der Aushandlungsprozesse7.1 Aufzeichnung 1: Mehrsprachigkeit als Kommunikationsinstrument7.1.1 Geschichtliche und kulturelle Verortung von Sprache(n)7.1.2 Codes7.2 Aufzeichnung 2: TL als Unterrichtspraxis und MKK als diskursstrategisches Mittel7.2.1 Mehrsprachiges Sprechen – eine Herausforderung7.2.2 Codes7.3 Aufzeichnung 3: Mehrsprachige Texterschließung und symbolische Kompetenz7.3.1 Mehrsprachigkeit und Bildungssprache7.3.2 Codes7.4 Aufzeichnung 4: Intertextualität und Mehrsprachigkeit7.4.1 Mehrsprachige Identitätsbildung7.4.2 Codes

 8 SchülerInnenauswertung8.1. Amelie – Diglossie und Sprachverweigerung8.1.1 Verhalten in den Aushandlungsprozessen8.1.2 Kommunikationsverweigerung8.1.3 Sprachrollen als mehrsprachige Lernstrategie8.1.4 Erweiterung des sprachlichen Repertoires und Überwindung von Sprachbarrieren8.1.5 Dialekt und literarisches Worldmaking8.1.6 Polysemie und Unübersetzbarkeit8.1.7 Eine neue Mehrsprachigkeit entdecken8.1.8 Inklusion durch sprachliches Verhalten in heterogenen Gruppen8.1.9 Stimulated Recall 1: Mehrsprachigkeit – Eine kognitive und emotionale Herausforderung8.1.10 Stimulated Recall 2: Modifikation des Language Mode und Beschleunigung der Sprachaktivierung8.1.11 Stimulated Recall 3: CS – Mehrsprachiges Scaffolding8.1.12 Retrospektives Interview: Mehrsprachiges literarisches Lernen als Third Space im Spiel unterschiedlicher Referenzsysteme8.1.13 Zusammenschau der Ergebnisse8.1.14 Codes8.2 Sarah: Minderheitensprache und Sprachverdrängung8.2.1 Verhalten der Schülerin in den Aushandlungsprozessen8.2.2 Mehrsprachigkeit, Sprachregulierung und Language Monitoring8.2.3 Empowerment durch Mehrsprachigkeit8.2.4 Stimulated Recall 1: Sprachrollen und Identität8.2.5 Stimulated Recall 2: Neue Lernwege entdecken und Inklusion8.2.6 Stimulated Recall 3: Neue mehrsprachige Kommunikationsformen entdecken8.2.7 Retrospektives Interview: Jede Sprache ist an ein Gefühl gebunden8.2.8 Zusammenschau der Lernprozesse8.2.9 Codes8.3 Andrea: Lebensweltliche Zweisprachigkeit Italienisch-Deutsch8.3.1 Verhalten der Schülerin im Aushandlungsprozess8.3.2 Bildungssprache und Mehrsprachigkeit8.3.3 Bedeutungserweiterung und Bedeutungsentleerung im mehrsprachigen World Making8.3.4 Stimulated Recall 1: Reizüberflutung und Vieldeutigkeit8.3.5 Stimulated Recall 2: Innere und äußere Mehrsprachigkeit8.3.6 Stimulated Recall 3: Literarisches Lernen, Sprachwahrnehmung und Symbolik8.3.7 Retrospektives Interview: Schreiben in mehreren Sprachen8.3.8 Zusammenschau der Lernprozesse8.3.9 Codes8.4 Vera: Diglossie und schulische Mehrsprachigkeit8.4.1 Sprachübergreifende Selbstkorrektur8.4.2 Soziales und ungesteuertes Lernens im MS-Unterricht8.4.3 Stimulated Recall 1: Gesprächsstrategischer Einsatz von CS8.4.4 Stimulated Recall 2: Veränderte Kompetenzwahrnehmung8.4.5 Stimulated Recall 3: Bildungssprache und Mehrsprachigkeit8.4.6 Retrospektives Interview: Mehrsprachige Texte verfassen als textstrukturierende Strategie8.4.7 Zusammenschau der Ergebnisse8.4.8 Codes

 

 9 Abgleich: MKK theoretische Modellierung und Daten9.1 Auswertung und Kreuzung der Daten9.2 Symbolische Kompetenz9.3 Gesprächsstrategischer Einsatz von MKK9.4 Sprach(en)bewusstheit9.5 Identitätstheorie und soziales Lernen9.6 Sprache und Gefühle9.7 Neue Kernkategorien9.7.1 Mehrsprachiges Recherchieren im Internet9.7.2 Mehrsprachiges Schreiben9.7.3 Mehrsprachiges literarisches Lernen

  10 Kompetenzmodell Mehrsprachigkeit: Savoirs 10.1 Erkenntnisse zur Zielsetzung und Implementierung des mehrsprachigen Kompetenzmodells 10.2 Savoir 10.3 Savoir Être 10.4 Savoir Faire 10.5 Savoir Apprendre 10.6 Savoir s’engager

  11 Schlussfolgerungen für die Implementierung mehrsprachigen kompetenzorientierten Unterrichts 11.1 Ausblick

 12 Literaturverzeichnis12.1 Primärliteratur12.2 Sekundärliteratur

  Appendix I Texte Amelie

  Appendix II: Texte Sarah

  Appendix III: Texte Andrea

  Apendix IV: Texte Vera

Danksagungen:

Ich möchte mich besonders bei Herrn Professor Hallet und Frau Professor Martinez für die intensive Betreuung und die konstruktive Kritik an meiner Arbeit bedanken. Ihre Feedbacks haben mich immer zum Überdenken meines Vorhabens angeregt und zu Verbesserungen geführt. Prof. Hallet hat mich zudem mit viel Geduld wieder in die Kunst des wissenschaftlichen Schreiben eingeführt. Weiters möchte ich Prof. Legutke und Prof. Burwitz-Melzer für ihre Anregungen danken, die mir geholfen haben, die anfänglichen Schwierigkeiten zu überwinden und einen völlig neuen Kurs in meiner Projektplanung einzuschlagen, der sich als erfolgreich erwiesen hat. Die Korrekturen meiner Lektorin und Freudin Andrea waren für mich eine Stütze, ohne die ich es nicht geschafft hätte. Zuletzt wollte ich noch meinem Mann David für seine Geduld und Zuwendung danken, meinen Kindern Laetitia und Clemens, die mich immer wieder angespornt haben, weiter zu machen, insbesondere Clemens der mir bei der Transkriptionsarbeit zur Hand gegangen ist.

Verzeichnis der Abkürzungen:


CS: Code-switching
CLIL: Content and Language Integrated Learning
CLIN: Cross Linguistic Interaction
CM: Code-mixing
DLC: Dominant Language Constellation
DM: Dokumentarische Methode
DMM: Dynamic Model of Multilingualism
FLA: Foreign Language Anxiety
FLAM: Foreign Language Acquisition Model
FREPA: Framework of References for Pluralistic Approaches
FSU: Fremdsprachenunterricht
GER: Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen
GT: Grounded Theory Method
INVALSI: Istituto nazionale per la valutazione del sistema educativo di istruzione e di formazione
LOTE: Languages Other Than English
MKK: Mehrsprachige Kommunikative Kompetenz
MLA: Multilinguales Bewusstsein
MSCS: Mehrsprachencurriculum Südtirol
SLA: Second Language Acquisition
TBLT: Task Based Language Teaching
TL: Translanguaging
TLA: Third Language Acquisition
PISA: Programme of International Student Assessment

Vorwort

Als ich vor mehreren Jahren begann, mehrsprachige Module in den Regelunterricht einzubauen, bemerkte ich sofort, dass die Lernenden große Freude daran hatten, ihr gesamtes sprachliches Repertoire auszuprobieren und im spiele­rischen mehrsprachigen Umgang miteinander gestalterisch tätig zu sein. Sie erschlossen durch die gleichzeitige Arbeit mit mehreren Sprachen und Kulturen unterschiedliche Bedeutungsdimensionen und waren im Idealfall in der Lage, selbst Bedeutung kreativ zu konstruieren.

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes – durchgeführt am Gymnasium „Walther v.d. Vogelweide“- in Bozen- wurde simultane Mehrsprachigkeit im Unterricht mittels experimenteller Unterrichtsmodule im Laufe des Schuljahres sukzessive in den Sprachunterricht eingebaut. Jedes Modul erstreckte sich über 10 bis 20 Unterrichtsstunden und verfolgte das Ziel, den Lernenden auf der Basis multimodaler Arbeitsunterlagen die Möglichkeit zu bieten, simultane Mehrsprachigkeit im schulischen Alltag zu (er)leben. Auch die Outputs waren mehrsprachig: Narrative, poetische sowie Sachtexte, Vorträge, Gedichte, Sketches und kurze szenische Darbietungen wurden gleichzeitig in mehreren Sprachen vorgetragen.

Die Verwendung mehrerer Sprachen in einem alltagsnahen Setting ermöglichte einen sprachübergreifenden Vergleich von Genres und damit eine Kompetenzerweiterung in verschiedenen fachsprachlichen Bereichen. Ein weiteres didaktisches Ziel bestand darin, durch Sprachvergleich das Bewusstsein dafür zu wecken, dass sprachlicher Umgang und Ausdrucksformen geschichtlich bedingt sind und dass sich Kulturen und ihre Sprachen in ihrer unterschiedlichen Erfassung von Realität geschichtlich verorten lassen (vgl. Bredella et al. 2000).

Es handelte sich dabei folglich um den Versuch, Ausschnitte der komplexen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit, so wie sie für viele Lernende bereits alltäglich ist, ins Klassenzimmer zu bringen und in Richtung einer bildungssprachlichen Mehrsprachigkeit weiterzuentwickeln, einer Mehrsprachigkeit mit größerer syntaktischer und lexiko-grammatischer Komplexität. Dabei wurde im Rahmen der empirischen Untersuchung überprüft, welche Lernprozesse stattfinden und wie sich mehrsprachige kommunikative Kompetenz und mehrsprachige Sprachhandlungskompetenz (MKK) entwickeln und sich im Sinne einer Operationalisierung im Unterricht modellieren lassen.

Die Datenerhebung erfolgte auf mehreren Ebenen: Auf der sprachlich-pragmatischen Ebene, bei der der Fokus auf Sprachmanagement und funktioneller Mehrsprachigkeit lag (vgl. De Angelis 2005; De Angelis & Selinker 2001; Arabski 2006; Cenoz et al. 2002), auf der Ebene des Einsatzes von Transferstrategien und der Aktivierung des mehrsprachigen Lexikons im Rahmen mehrsprachiger kommunikativer Settings, auf der Ebene der Funktionsweise des Language Mode (vgl. Norton 2000; Grosjean 1982, 1989, 1992, 2007) und dessen möglichen Veränderungen. In engem Zusammenhang damit standen auch Erhebungen bezüglich der Entwicklung des metasprachlichen Bewusstseins und der Wahrnehmung der Psychotypologie von Sprachen.

Sprachhandlungsfähigkeit – in diesem Falle mehrsprachige Sprachhandlungsfähigkeit – ist Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung, da sich Identität durch Sprache gestaltet und darstellt (vgl. De Florio-Hansen 2003a; 2003b: VIII). In einem plurilingualen Umfeld tragen völlig neue und unbekannte Erkenntnisfaktoren zur Persönlichkeitsbildung bei und können diese nachhaltig positiv beeinflussen. Dabei spielt die Sprachbiographie und die damit einhergehende Einstellung den unterschiedlichen Sprachen gegenüber eine besondere Rolle (Dewaele 2010; Dewaele & van Oudenhoven 2009). Maßgeblich zur Entwicklung dieser Einstellung zu Sprachen tragen auf emotionaler Ebene Erfahrungen im Umgang mit den Sprachen bei. Jeder einzelne Lernende bringt sprachbiographisch bedingte emotionale Aspekte und damit verbundene Haltungen unbewusst mit in den Unterricht ein (vgl. Busch 2013: 52). Besonders in einer durch historische Brüche gekennzeichneten Gesellschaft gestalten sich diese Biographien sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es Lernende, die zwei- bzw. mehrsprachig aufwuchsen, auf der anderen Seite Familien, welche die Zweitsprache Italienisch noch immer verweigern. Im folgenden Absatz wird der Versuch unternommen, die geschichtlichen und sozialen Gründe, die zu diesen diversen Haltungen führen, anhand eines geschichtlichen Abrisses zu erläutern.

Da im mehrsprachigen Austausch diese unterschiedlichen Auffassungen, Emotionen, Einstellungen und Haltungen aufeinandertreffen und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Pavlenko 2005), konnte überprüft werden, ob durch die hier praktizierte Form des Unterrichts auch Formen der unbewussten Sprachverweigerung bewusst gemacht und somit überwunden werden können (vgl. Edwards & Dewaele 2007; Norton 2000). Aus kontextgebundenem Sprachvergleich wird den Sprechern unmittelbar ersichtlich, dass Kultur in Form von sprachlichem Umgang und sprachlichen Ausdrucksformen geschichtlich bedingt ist und Sprachen Realität unterschiedlich erfassen. Das gleichzeitige Arbeiten mit und zwischen mehreren Sprachen und Kulturen ermöglicht es dem Individuum, die eigene Persönlichkeit neu zu formen: „An die Stelle autonomer Individuen, die in stabile, homogene Nationalkulturen eingebettet sind, treten sich wandelnde Identitäten in kulturübergreifenden Netzwerken.“ (De Florio-Hansen & Hu 2003b : 9) (vgl. dazu auch Kramsch 2011: 205).

 

Eine Unterrichtsform, die dies im Blick hat, distanziert sich von starren nationalstaatlich geprägten Auffassungen und orientiert sich hin zu mehr Offenheit und zu der Entfaltungsmöglichkeit des gesamten Individuums mithilfe der Gesamtheit seines kulturellen und sprachlichen Repertoires und seiner emotionalen Haltungen. Besonders in einem durch die politischen Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit gekennzeichnetem Land ist dies von Bedeutung.

TEIL I Mehrsprachigkeit und Sprachenlernen in der EU

1. Ziele, Gegenstand und Struktur der Studie

Die Situation in Südtirol ist geschichtlich bedingt vom Zusammenleben unterschiedlicher Sprachen und Kulturen geprägt. Zwei- und Mehrsprachigkeit sind deshalb von zentraler Bedeutung für alle bildungspolitischen Maßnahmen und die Entwicklung des Landes. Im Laufe der Geschichte kam es zu Konfliktsituationen, die bis heute nachwirken und teilweise ungelöst blieben. Da außerdem die schulischen Institutionen aufgrund der massiven Zuwanderung aus anderen europäischen Ländern, der Flüchtlingsströme und des zunehmenden Drucks vonseiten der Eltern reagieren müssen, rückt der Begriff der Mehrsprachigkeitsdidaktik immer mehr in den Fokus, vor allem weil immer dringlicher wird, dass Maßnahmen zur Inklusion und Sprachbildung getroffen werden.

Der erste Abschnitt dieser Arbeit setzt sich zunächst mit den Forderungen von Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union und ihrem komplexen sozio-politischen Gefüge auseinander (2.1.). Insbesondere werden jene bildungspolitischen Dokumente hervorgehoben, in denen die Europäische Union richtungsweisend eingreift und eine Definition von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik gibt, auf deren Basis konkrete Maßnahmen zur Umsetzung angedacht werden sollten. Dabei nimmt der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat GER, 2001) eine zentrale Rolle ein, denn er stellt erstmals eine für Europa einheitliche Skalierung der fremdsprachlichen Kompetenzen in Form von Deskriptoren zur Verfügung. Obwohl der 2018 erschienene Ergänzungsband (Council of Europe CEFR/CV, 2018) (2.1.) erst nach der Datenauswertung der vorliegenden Studie erschienen ist, wird auch er in seinem Bezug zur vorliegenden Arbeit kommentiert, da er einen großen Fortschritt in Richtung Mehrsprachigkeit darstellt, weil hier erstmals Deskriptoren für die Kompetenzbereiche Mediation und Mehrsprachigkeit ausformuliert wurden und der Bereich Literarisches Lernen mit den entsprechenden Deskriptoren angeführt wird. Da diese drei Aspekte, die im GER zwar z.T. angeschnitten, aber nicht durch Deskriptoren erfasst wurden, in der vorliegenden Forschungsarbeit einen prominenten Platz einnehmen, erscheint es aus erkenntnistheoretischen Gründen wichtig, den CEFR/CV mit einzubeziehen.

Der Europäische Referenzrahmen für Mehrsprachigkeit ( Candelier et al FREPA 2012) diente zwar als Modell für den Entwurf des vorliegenden Kompetenzmodells für Mehrsprachigkeit, er hat allerdings die gleichen Schwächen wie der Europäische Referenzrahmen für die Sprachen (vgl. hierzu auch Steininger 2014; Quetz 2003; Bausch et al. 2003) (2.3.): In großen Teilen ist der FREPA zu abstrakt und für die Evaluation des Unterrichtes nicht geeignet, da die angegebenen Deskriptoren zwar für den Kompetenzbereich Mehrsprachigkeit von großer Bedeutung sind, aber die Erhebung des Kompetenzzuwachses im Unterricht aufgrund der Abstraktheit der Deskriptoren und der Unübersichtlichkeit des gesamten Dokuments sehr erschwert werden. Es fehlt außerdem größtenteils eine wissenschaftliche Fundierung: Die Deskriptoren wurden lediglich den Erfahrungsberichten von Lehrenden entnommen, weshalb eine wissenschaftliche Fundierung fehlt. Der FREPA lässt außerdem das Savoir s’engager außen vor. Es wird in seiner Wichtigkeit für den mehrsprachigen Lernprozess nicht anerkannt und auch nicht als Desiderat ausgewiesen. Die vorliegende Kompetenzmodellierung hingegen verfolgt das Ziel, das Savoir s’engager in die Modellierung aufzunehmen und unternimmt darüber hinaus erstmals einen ersten Versuch Deskriptoren auszuformulieren (10.2 ff)

Im nächsten Abschnitt wird die Relevanz von Mehrsprachigkeit im schulischen Alltag und im Unterricht behandelt (2.4.). Zunächst wird das Desiderat einer mehrsprachigen Schule, wenn auch nicht erschöpfend, so doch im Ansatz thematisiert. Es wird in der bildungspolitischen Diskussion kaum angesprochen, obwohl es für die Anschlussfähigkeit des Unterrichts an die lebensweltlichen Anforderungen, die an die SchulabgängerInnen gestellt werden, von zentraler Relevanz wäre. In diesem Zusammenhang versteht sich das Forschungsprojekt als Versuch, ein didaktisches Modell zu konstruieren, das den Forderungen eines kompetenzorientierten Unterrichts gerecht wird und gleichzeitig einen Bezugspunkt darstellt, der vermittelnd zwischen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und traditionellem schulischen Fremdsprachenunterricht eingreift, wobei das Erkenntnisinteresse primär auf die Lernprozesse ausgerichtet ist, die im Unterricht stattfinden. Da bislang empirische Untersuchungen zu diesem Thema fehlen, also auf keine empirisch untermauerten Vorlagen aufgebaut werden konnte, war die Erforschung ein Entdeckungsprozess.

Insbesondere werden hier zwei Aspekte hervorgehoben, welche in engem Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt stehen und zentrales Anliegen desselben sind (2.4.1/2.4.2.): Zunächst gilt es, den Begriff der Inklusion und deren Implikationen für schulisches Handeln zu beleuchten und in Zusammenhang zu bringen mit Mehrsprachigkeit, wobei aufgezeigt wird, wie Inklusion nur über mehrsprachiges und transkulturelles schulisches Handeln erfolgen kann. Andererseits wird die Wichtigkeit der curricularen Verankerung von Mehrsprachigkeit unterstrichen, denn nur wenn diese als schulisches Kerngeschäft in ihrer fächer- und stufenübergreifenden Valenz schriftlich verankert wird, kann sie wirklich zur alltäglichen Selbstverständlichkeit werden. Anschließend werden Vorschläge zur Implementierung neuer Ansätze zur Mehrsprachigkeit einhergehend mit einigen laufenden oder soeben abgeschlossenen Projekten vorgestellt.

Im folgenden Abschnitt wird auf mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze der europäischen und außereuropäischen Tradition eingegangen: Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner, Interkomprehensionsdidaktik, Tertiärsprachenlernen und CLIL (3.1-3.5). Bezugnehmend auf das Aufgabenformat der Studie – der mehrsprachigen komplexen Kompetenzaufgabe – werden diese dargestellt und die darin vorkommenden Lernprozesse in ihrer Komplexität aufgezeigt. Da die mehrsprachige komplexe Kompetenzaufgabe einen umfassenden Lernprozess initiiert, der zu großen Teilen alle Kompetenzbereiche der anderen pluralistischen Ansätze beinhaltet, stellt sie ein den anderen Ansätzen unterliegendes Aufgabenformat dar, in das deren Aspekte den Zielsetzungen und Anforderungen der konkreten Unterrichtssituation entsprechend aufgenommen werden. Im Unterschied zu diesen werden im folgenden Absatz jene Desiderate der herkömmlichen mehrsprachigen Ansätze aufgezeigt, die in der mehrsprachigen Kompetenzaufgabe Berücksichtigung finden und für die holistische Entwicklung der Lernenden von grundlegender Wichtigkeit sind.

Im folgenden Absatz steht der Kompetenzbegriff in der Fremdsprachendidaktik im Mittelpunkt (4.1.). Im Vordergrund stehen hier die kommunikative Kompetenz und Texterschließungskompetenz aufgrund ihres engen Zusammenspiels beim Fremdsprachenlernen allgemein und insbesondere in der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Ausgehend von der Definition des Kompetenzbegriffes in den Rahmenrichtlinien für Sprachen für Südtirols Schulen (Schwienbacher et.al 2017) werden verschiedene Traditionen und unterschiedliche Begriffsdefinitionen analysiert und eine für in diesem Forschungsprojekt anvisierte theoretische Modellierung mehrsprachiger Kompetenz sinnvolle Begriffsdefinition versucht, die eine Operationalisierung ermöglichen soll.

Das Erfassen mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) im Unterricht erfordert weiterhin, dass ausgehend von der Fremdsprachendidaktik eine Reihe von Referenzwissenschaften hinzugezogen werden müssen, um der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden, wobei die angewandten Sprachwissenschaften und insbesondere die Mehrsprachigkeitsforschung im Mittelpunkt stehen (4.2.-4.6.). Ohne fundiertes Wissen über die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich ist es nicht möglich, mehrsprachige Lernprozesse in ihrer Komplexität zu erkennen, zu beschreiben und einen Bogen zu spannen in Richtung Fremdsprachendidaktik. Dabei kamen bei der Datenanalyse Aspekte zum Vorschein, die für die Modellierung eines mehrsprachigen kommunikativen Kompetenzbegriffs als Indikatoren herangezogen werden können, um so den Erfordernissen der Deskriptivität nachzukommen. Die theoretische Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) sieht folgende Kompetenzbereiche vor: symbolische Kompetenz, psycholinguistische und soziolinguistische Aspekte der MKK, Sprach(en)bewusstheit, mehrsprachige Gesprächspraktiken, Emotion. Zunächst gilt es, die Begrifflichkeit „einsprachig-, zwei-, und mehrsprachig“ zu definieren, um sie für den weiteren Gebrauch im Forschungsprojekt nutzbar zu machen. Anschließend werden, nach einer Einführung in den Begriff der Multicompetence nach Vivien Cook, unterschiedliche Modelle des mehrsprachigen Spracherwerbs vorgestellt und auf ihre Relevanz für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik hin kritisch hinterfragt.

Psycholinguistische Aspekte der Mehrsprachigkeit stehen im Folgenden im Fokus. Dabei werden all jene mehrsprachigen Phänomene erläutert, die für die Auswertung der Aushandlungsprozesse und der vier Fallstudien von Relevanz sind. So können bei der Datenanalyse die aus der Diskursanalyse und den Stimulated Recalls/Leitfadeninterviews gewonnenen Erkenntnisse in ihrer Wichtigkeit für den mehrsprachigen Spracherwerbsprozess und der Entwicklung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) erkannt werden. Es wird dadurch zudem ein tieferes Verständnis der didaktischen Maßnahmen ermöglicht, die zu einem kompetenzbezogenen mehrsprachigen Unterricht führen. Es gilt dabei, in der Datenauswertung zu überprüfen, inwiefern und in welcher Form die in der theoretischen Modellbildung identifizierten Bereiche wiederzufinden sind. Diese dient als Vorlage und Orientierungshilfe, entlang welcher die Daten der Studie geordnet bzw. verifiziert oder falsifiziert werden können. Gleichfalls sollen neue aus der Studie resultierende Kompetenzbereiche/Kategorien, die in der theoretischen Modellierung MKK keine Erwähnung finden, diese ergänzen (vgl. Aguado 2016: 246).

In der Folge wird einleitend das geschichtliche und gesellschaftliche Umfeld umrissen, in dem die Studie durchgeführt wurde (5.1.). Zunächst wird die komplexe sprachliche und bildungspolitische Situation in Südtirol zusammengefasst, indem ein geschichtlicher Abriss vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart aufzeigen soll, wie ein Sprachtrauma, das unsere Region zum Teil auch heute noch prägt, zustande kam und wie auf politischer Ebene versäumt wurde oder nicht möglich war, hier mit gezielten Maßnahmen einzugreifen, um Aufarbeitungsarbeit zu leisten. Erst in den letzten Jahren wurde das Diktat des getrennten Sprachenunterrichtes in dieser Region aufgebrochen, da erstens die Europäische Union die Mehrsprachigkeit mit Nachdruck fordert und zweitens die sprachliche Situation so komplex geworden ist, dass auf bildungspolitischer Ebene reagiert werden muss, und nicht zuletzt, weil immer mehr Eltern Mehrsprachigkeit in der Schule fordern.