Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit

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4.6.3 Die affektive Sozialisation

Durch unterschiedliche Sozialisationsfaktoren ist die Sprache der Emotionen bei mehrsprachigen Menschen in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich ausgebildet, da sich die Form der Sozialisation auf das emotionale Repertoire auswirkt. Koven (2004) erläutert diesen Umstand anhand Linda, die Portugiesisch/Französisch aufgewachsenen ist. Beim Erzählen der gleichen persönlichen Geschichte ist die Darstellung ihrer Emotionen in den beiden Sprachen so unterschiedlich, dass man als Zuhörer eine andere Person dahinter vermuten könnte. Daraus folgert Koven, dass die Sprecherin durch ihre Mehrsprachigkeit nicht nur Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Strukturelementen hat, sondern auch zu unterschiedlichen Rollen, zu unterschiedlichen Aspekten ihrer Persönlichkeit. Zusätzlich zum sprachlichen Repertoire steht ihr also auch ein Rollenrepertoire zu Verfügung (Koven 2004: 84).

Beim Erzählen spielen Emotionsausdrücke eine nicht unbedeutende Rolle. Erst durch diese entsteht im Zuhörer eine komplexes und anregendes Bild dessen, was erzählt wird (Bruner 1968: 26). Dies setzt Ambiguität voraus und lässt den Zuhörer Dinge erahnen und Hypothesen aufstellen. Besonders in der Bildsprache sind Gefühlsausdrücke und das Spiel mit Emotionen ein konstituierendes Element der Diskurskonstruktion. Sie sind Teil des Paradigmas der Imagination oder Intuition. In der Narrativik Bruners sind diese Voraussetzung für „good stories, gripping drama, believable (though not necessarily „true“) historical accounts“ (ibid.: 13). Das Vorhandensein sprachlicher Instrumente für den Ausdruck von Emotionen ist meistens in der L1 am besten ausgebildet, hängt aber auch vom Sozialisations- und Lernkontext ab. Bekanntlich wird diesem Aspekt des Spracherwerbs im herkömmlichen Sprachunterricht kein Platz eingeräumt, daher stehen L2- und Lx-Lernenden weder die pragmatischen noch die sprachlichen Mittel zur Verfügung, um einen emotionalen Diskurs zu führen und Techniken des Erzählens zu meistern. Das hat zur Folge, dass L2/Lx-Geschichten für den Zuhörer weder interessant noch verlockend sind, da kein mentales Bild von den Gegebenheiten geformt werden kann und es zu keiner emotionalen Resonanz kommt. Folglich wird die Aufmerksamkeit des Hörers/Lesers nicht gefesselt, sondern auf anderes gelenkt (Pavlenko 2005: 144; Dewaele 2010: 6f.).

Durch mehrsprachige Aushandlungsprozesse wird der mehrsprachige Diskurs initiiert und geschult. So kann Sensibilität für Angemessenheit emotionaler Äußerungen in verschiedenen Sprachen gefördert werden, und umgekehrt wird durch den mehrsprachigen Austausch auch die Sensibilität für die emotionale Befindlichkeit des anderen geschult, indem die Modulierung mehrsprachigen Sprachverhaltens beobachtet und interpretiert wird. Dewaele spricht von einer Affective Socialisation und betont, dass im Fremdsprachenunterricht Affekt und Emotion eine dominantere Rolle einnehmen sollten, damit die Lernenden lernen, in unterschiedlichen transkulturellen Kontexten damit umzugehen, indem sie sich ein mehrsprachiges Repertoire der Emotionen und Gefühle anlegen und auch noch so scheinbar geringe Unterschiede, die in ihrer Wichtigkeit keinesfalls unterschätzt werden dürfen, differenziert erkennen und gegebenenfalls ausagieren (Dewaele 2010: 144).

Es soll hier keineswegs unterschätzt werden, dass Lernende, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation in einzelnen Sprachen nicht gleich leistungsstark sind bzw. nur funktionale Kenntnisse einer oder mehrerer Sprachen haben, in einem mehrsprachigen Aushandlungsprozess vor große Herausforderungen gestellt werden. Zwei- und mehrsprachige Lernende brauchen sich nur in geringem Maße um Aspekte der Wortwahl und Korrektheit zu kümmern, der Sprachproduktionsprozess ist weitgehend automatisiert und verläuft unbewusst, Inhalte können so in den Vordergrund gestellt und der Aushandlung und Argumentation mehr Gewicht gegeben werden. Vorwiegend einsprachig sozialisierte Lernende sind noch mehr mit Aspekten der Struktur und Korrektheit beschäftigt, mit der Suche nach dem richtigen Wort. Außerdem fällt ihnen bildliches Sprechen nicht immer leicht, was häufig zu Unterbrechungen führt und das Gespräch in seinem Verlauf oft holprig erscheinen lässt. Besondere Schwierigkeiten bereiten die Darstellung von Emotionen, da oft die begriffliche Vorstellung nicht vollständig ist. Metaphern spielen laut Gibbs (vgl. Gibbs 2002a: 103; Gibbs et al. 2002b: 127) bei der Vermittlung emotionaler Inhalte und Bedeutungsfeinheiten eine wichtige Rolle und werden von L1-Sprechern und mehrsprachigen Sprechern zur Nuancierung eingesetzt. Dieser facettenreiche Bereich des symbolischen Sprachgebrauchs und der Metapher in mehreren Sprachen bleibt einem einsprachig sozialisierten Lernenden weitgehend verschlossen. Es hat sich aber gezeigt, dass durch die Bildung heterogener Arbeitsgruppen, in denen mehrsprachige mit einsprachigen Lernenden während der Aushandlungsprozesse zusammenarbeiten, ein Lernprozess eingeleitet wird, in dem das Bewusstsein für das Potential mehrsprachiger Bedeutungsfindung und mehrsprachiger emotionaler (Selbst)darstellung geweckt wird und ansatzweise neue Räume des sprachlichen Ausdrucks erschlossen werden. Es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, neuen Ausdrucksmöglichkeiten für Gefühle und Emotionen zu finden, die es so in ihrer L1 nicht gibt.

So können sich auch Haltungen und Einstellungen, die aufgrund persönlicher Erfahrungen oder durch familiäre bzw. soziale Umstände übernommen wurden, im Laufe dieses Lernprozesses verändern. Ringbom beweist, dass Lernhaltungen der einzelnen Lernenden durch geschichtliche, politische und sprachliche Umstände geformt werden und keineswegs als statisch betrachtet werden sollen. Bei der Wahl der zu lernenden Sprachen spielen unbewusst und bewusst soziale, politische, genderspezifische Faktoren eine Rolle, aber auch die Vorstellung, die die Lernenden von der eigenen Zukunft haben (Ringbom 2001: 63; Pavlenko 2005: 234; Dewaele 2010: 141).

Das enge Zusammenspiel zwischen Sprache und Emotion wurde bislang selbst in der Fremdsprachendidaktik kaum berücksichtigt, im Vordergrund standen und stehen stets kognitive Aspekte. Es wird aber aus der vorhergehenden Darstellung von Emotion und Mehrsprachigkeit ersichtlich, wie eng Sprache und Emotion besonders in einem mehrsprachigen Unterricht ineinander verwoben sind. Dank der Mehrsprachigkeit finden Emotionen und ihre sprachliche Verankerung verstärkt Ausdruck und es wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie unterschiedlich Emotionen in den verschiedenen Sprachen kodifiziert sind. Dank Mehrsprachigkeit sind alle emotionalen Aspekte von Sprachen gleichzeitig im kommunikativen Akt gegenwärtig und ein Reichtum an Wahrnehmungen und an Perspektiven tut sich auf. Das Bewusstsein darüber und das Entwickeln einer besonderen Sensibilität im Umgang mit dieser Vielfältigkeit ist ein erstes Ziel der MKK. Bei der Modellierung von MKK muss auch berücksichtigt werden, dass darüber hinaus emotionale Ebenen und Formen des Gefühlsausdrucks miteinander vernetzt werden können, wodurch sich für die Sprechenden neue Ausdrucks- und Wahrnehmungsräume eröffnen. Die Modellierung einer MKK ist folglich ohne der Miteinbeziehung emotionaler Aspekte der Kommunikation nicht denkbar und es liegt im Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit zu untersuchen, inwieweit mehrsprachiger aufgabenorientierter Unterricht es vermag, die Vermittlung emotionaler mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz zu vermitteln.

Unter besonderer Berücksichtigung der Sprachsituation in Südtirol wird der Zusammenhang zwischen Emotion und Sprachtrauma untersucht und erforscht, in wie weit ein aufgabenorientierter mehrsprachiger Unterricht Einstellungen und Haltungen positiv beeinflussen kann, mit besonderer Berücksichtigung gefühlsbedingten Sprachverhaltens und dessen Einfluss auf Spracherwerb und Spracherhalt. Dazu werden Dialekt und Varietäten in den Unterricht mit aufgenommen, ihnen wird nämlich eine besondere Bedeutung für die emotionale Erstsozialisierung, die im engen familiären Umfeld erfolgt, zugesprochen (vgl. Altarriba et al. 2003: 8; Caldwell Harris 2014: 3).

4.7 Schlussfolgerung für die Modellierung von MKK

Ein ganzheitliches Erfassen von MKK erfordert, dass eine Vielzahl von Aspekten berücksichtigt wird, die nach fünf Bereichen geordnet werden können:

1 die soziale Ebene

2 die metasprachliche Ebene

3 die sprachliche Ebene

4 die emotionale Ebene

5 die symbolische Ebene

Die oben identifizierten Bereiche, in denen sich MKK konstituieren und entwickeln kann, gehen weit über die traditionelle Definition von MKK im CARAP hinaus. Aus diesem Grunde ist es nötig, ausgehend von theoretischen Prämissen die Ausformulierung von Deskriptoren zu versuchen, da die empirische Beobachtung erst durch diese in vielerlei Hinsicht verständlich wird. Das ermöglicht, ausgehend von den Unterrichtsbeobachtungen, Aufzeichnungen, Stimulated Recalls und Leitfadeninterviews im Sinne der Triangulation durch einen dreistufigen Abstraktionsprozess, valide Aussagen in Form von Deskriptoren über die Entwicklung von MKK im mehrsprachigen aufgabenorientierten Unterricht auszuformulieren.

Teil III Datenerhebung und Auswertung

5 Soziales und geschichtliches Umfeld der Studie

Um ein besseres Verständnis der Zielsetzungen des vorliegenden Projektes und dessen Einbettung in das soziale und kulturelle Umfeld zu ermöglichen, ist es nötig, die sozial- und kulturgeschichtlichen Ereignisse der Zeit zwischen 1918 und heute und deren Auswirkung auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Sprachgruppen und besonders der deutschsprachigen Minderheit zu kennen. Daraus wird verständlich, warum auch heute noch Mehrsprachigkeit in dieser Region nicht selbstverständlich ist und ihr oft das Gebot des Spracherhalts und des Schutzes der eigenen Identität und Kultur entgegengestellt wird.

 

5.1 Von der Zwei- zur Mehrsprachigkeit in Südtirol

Südtirol ist als geographisches und politisches Grenzgebiet gekennzeichnet durch das Ineinanderwirken verschiedener Sprachen und Kulturen. Es war immer schon ein Land des Durchzugs und übernahm seit der Antike die Funktion eines Bindegliedes zwischen dem Norden und dem Süden Europas, sowohl wirtschaftlich, politisch als auch kulturell. So konnten sich an den Durchzugs­straßen entlang der Brennerachse kleine Handelszentren bilden, die Reisenden Unterkunft boten und in denen auch Handel getrieben wurde. Aus ihnen bildeten sich im Laufe der Zeit die ersten Marktgemeinden und Städte.

Politisch aber gehörte Südtirol über fünf Jahrhunderte zum Habsburgerreich und wurde erst mit Ende des Ersten Weltkrieges Italien angeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt war Südtirol „fast hundertprozentig deutschsprachig“ (Steininger 2014: 9). Das durch den Krieg geschwächte Österreich konnte Südtirol bei den Verhandlungen in Versailles 1919 nicht helfen. Südtirol wurde ohne Autonomiebestimmungen und Minderheitenschutz Italien zugesprochen, als Einlöse für den Londoner Geheimpakt von 1915, in welchem Italien an der Seite der Entente in den Krieg eintrat. Es folgte eine lange Phase, in der die Auslöschung der deutschen Sprache und Kultur in diesem Land nicht nur deklariertes politisches Ziel war, sondern auch konsequent umgesetzt wurde.

Der geschichtliche Abschnitt, welcher vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart reicht, soll nun im Folgenden kurz umrissen werden, um die sprach-kulturelle Entwicklung dieser Jahrzehnte darzustellen und somit auch das innovative Potential zu verdeutlichen, das einem mehrsprachigen Unterricht an Südtirols Schulen sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf bildungspolitischer Ebene innewohnt.1

5.1.1 Der lange Weg bis zum 1. Autonomiestatut

Südtirol gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges mit dem Trentino für mehr als 500 Jahre zur Grafschaft Tirol und somit zum Habsburgerreich. 1809 begann der Tiroler Volksaufstand gegen die französische Besetzung unter Führung Andreas Hofers. Auch heute noch wird er von vielen Südtirolern als Held angesehen, der für die Freiheit und gegen Fremdherrschaft kämpfte und wird als Ikone gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft verehrt. Der zweite Bruch erfolgte nach Ende des Ersten Weltkrieges, als 1918 italienische Truppen Südtirol besetzten und durch den Vertrag von Saint-Germain Südtirol Italien zugesprochen wurde, obwohl die Bevölkerung fast ausschließlich deutschsprachig war.

Durch die faschistische Machtergreifung begann eine Zeit der Repression, die ihren ersten Ausdruck im sog. „Blutsonntag“ in Bozen am 24. April 1921 fand, wo, während eines Trachtenumzuges zur Eröffnung der Herbstmesse, faschistische Schläger auf die Menge einschlugen und etwa 50 Personen verletzten und eine Person töteten. Ab 1922 wurde das Ziel, die deutsche Minderheit ohne Anwendung offener Militärgewalt zur Gänze zu assimilieren, systematisch umgesetzt. Mit dem „Marsch auf Bozen“ – Vorbote des Marsches auf Rom – am 1. Oktober 1922 wurde Südtirol offiziell Militärprotektorat. Ab dem 23. August 1923 wurde der Name Tirol verboten und damit auch alle Wörter, die sich davon ableiten ließen, wie: Südtiroler, Tiroler, usw. Auch die deutsche Sprache wurde mittels Dekret verboten. Italienisch war von nun an einzige Amts- und Gerichtssprache, obwohl die meisten Südtiroler kein Italienisch konnten. Dies führte bei Gerichtsverhandlungen oft zu Formen des Missbrauchs. In den folgenden Jahren wurden auch deutsche Radiosendungen und Zeitungen verboten und an den Schulen Deutsch als Unterrichtssprache untersagt. Italienische Lehrkräfte wurden nach Südtirol geholt. Ihnen kam die Aufgabe zu, aus den deutschen Kindern „bravi Italiani“ (gute Italiener) zu machen. Das Ergebnis dieser Maßnahmen war, dass der Analphabetismus in Südtirol rasant anstieg. Ladinische und deutsche Kinder wurden zum Besuch dieser Schulen gezwungen, schulischer Erfolg blieb aber aus. Weigerung und Zuwiderhandeln wurden strafrechtlich geahndet, aber das Lernen blieb aus.

Als Reaktion darauf entstanden die Katakombenschulen. Mit deutscher und österreichischer Hilfe konnten in diesen illegalen Untergrundschulen, die trotz Verfolgung bis 1940 bestehen blieben, ca. 30.000 Kinder und Jugendliche deutschen Unterricht genießen. Zeitzeugen berichten von dem Verlust ihrer Identität, der von dieser sprachliche Situation herbeigeführt wurde: „Wir waren Zerrissene, unsere Hülle war Lüge. Wir logen daheim über die Schule, in der Schule über daheim und über uns selbst.“ (Steininger 2014b: 54). Weitere Maßnahmen betrafen die Personennamen, die italianisiert wurden (so ist mein Vater z.B. heute noch anagraphisch als Rudolfo Mayr eingetragen). Das gleiche Schicksal ereilte die Landschafts-, Flur- und Auennamen: Sie wurden von Ettore Tolomei, ohne Rücksicht und Verständnis für Sprache und Brauchtum, übersetzt und z.T. ganz neu erfunden. Die Folgen reichen bis in die Gegenwart, der sog. „Toponomastik-Streit“ fand nie eine Lösung. Baur spricht in diesem Zusammenhang von der Zerstörung der Ich-Grenze einer ganzen Sprachgemeinschaft, eine Zerstörung, die in letzter Instanz zu einer „Sprachlosigkeit“, der Unfähigkeit, individuell und kollektiv zu kommunizieren, führte. Diese Aphasie und mit ihr einhergehend die Annäherungsängste und das Gefühl der Bedrohung durch zu engen Sprachkontakt sind auch heute noch tief im kollektiven Gedächtnis verhaftet (Baur et al. 2009: 21-22). Sie führen dazu, dass der Monolingualismus in Teilen der Bevölkerung noch immer als einzige und beste Lösung für den Erhalt der deutschen Sprache und Kultur, aber auch der italienischen angepriesen wird.

Dies führt letztendlich bei manchen Lernenden, wie auch aus der Datenauswertung hervorgeht, unbewusst zu einer verminderten Bereitschaft, sich des Italienischen bemächtigen zu wollen. Es soll anhand des Forschungsprojektes gezeigt werden, wie mehrsprachiger Unterricht diese Formen der Verweigerung aufgreift, bewusst macht und wie dadurch eine Veränderung der Haltung und des emotionalen Zuganges zu dieser Sprache herbeigeführt werden kann. Es kann sich also dank des mehrsprachigen Unterrichts die psychotypologische Wahrnehmung der Sprache dahingehend verändern, dass bislang nicht aktivierte Sprachen in das aktive Sprachenrepertoire aufgenommen werden. Dies ist mit Blick auf die zentrale Rolle von L2 (vgl. L2-Factor) für den weiteren Spracherwerb von besonderer Bedeutung.

Teil des faschistischen Assimilierungsplanes war auch die gezielte Ansiedlung italienischsprachiger Bevölkerung, hauptsächlich aus Friaul, Julisch-Venetien und dem Veneto. Die Folgen dieser Zwangsübersiedlung prägen auch heute noch das demografische Bild Bozens. Im Gegensatz zum restlichen Landesgebiet leben in Bozen ca. zwei Drittel Italiener und ein Drittel Deutsche. Das hat, wie aus den Forschungsergebnissen hervorgeht, sehr große Auswirkungen auf die Art und Weise, wie mit Mehrsprachigkeit umgegangen wird. Es zeigt sich ein Stadt-Land-Gefälle in den Sprachkompetenzen und unterschiedliche Zugänge zur Mehrsprachigkeit, die durch das soziale Umfeld geprägt sind.

1939 kam es zu einem Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, Option genannt. Durch dieses Abkommen wurden die SüdtirolerInnen vor die Wahl gestellt, nach Deutschland umzusiedeln oder zu bleiben. Wer blieb, musste auf die eigene Sprache und Kultur verzichten. 86 % sprachen sich für die Umsiedelung aus, diejenigen, welche bleiben wollten, wurden Verräter genannt. Tatsächlich verließen ca. 220.000 Südtiroler ihr Land, viele kehrten nach 1948 wieder zurück. Die Option hat eine Kerbe in Südtirols Gesellschaft geschlagen, die auch heute noch ein emotionsfreies Gespräch über diese geschichtlichen Ereignisse nur schwer zulässt.

5.1.2 Vom 2. Autonomiestatut bis heute

1948 wurde Südtirol im Pariser Vertrag zwar Autonomie zugesichert; jedoch blieb es politisch weiter bei Italien. Das erste Autonomiestatut von 1948 wurde in den folgenden Jahrzehnten nur sehr schleppend umgesetzt, obwohl Österreich Schutzmacht und Garant für die Autonomie war. Die Zuwanderung der italienischen Bevölkerung wurde weiterhin vorangetrieben und es gab ab 1952 eine Reihe von Maßnahmen, die sich explizit gegen die deutsche Bevölkerung richteten. Aufgrund der angespannten innenpolitischen Lage radikalisierte sich die 1945 gegründete SVP (Südtiroler Volkspartei) in diesen Jahren und blickte immer mehr nach Wien und Innsbruck, auf Hilfe hoffend. Die große Angst war, dass durch die massive Besiedelung und Bevorteilung der italienischen Bevölkerung die deutsche Minderheit mit der Zeit völlig entmachtet würde.

Das führte in Südtirol zu einer Reihe von Protesten und Kundgebungen, die bekannteste fand am 4. Februar 1958 auf Schloss Sigmundskron statt, wo sich ca. 35.000 Südtiroler unter dem Motto „Los von Rom“ einfanden. Da Italien Südtirols Forderungen zur Umsetzung des Statuts nicht nachkam, kam es auch zu bewaffnetem Widerstand: In den 50er und 60er bis in die 80er Jahren wurden wiederholt Bombenattentate verübt und es wurden immer wieder Menschenopfer gefordert. Die Tatsache, dass Italien diesen Terrorismus mit äußerster Härte bekämpfte, verschlimmerte zusätzlich die Situation. Das führte dazu, dass die UNO hinzugezogen wurde, um die Umsetzung des Statuts zu beschleunigen. 1972 entstand das „Südtirol Paket“, das zweite Autonomiestatut, in dem Südtirol weitgehende Selbstverwaltung zugestanden wurde. Dazu kamen auch die Zweisprachigkeit und der ethnische Proporz bei der Vergabe öffentlicher Stellen, d.h. dass Stellen in der öffentlichen Verwaltung zu gleichen Teilen zwischen der deutschen und der italienischen Bevölkerung vergeben werden und alle Angestellte im öffentlichen Bereich einen Zweisprachigkeitsnachweis erbringen müssen. Die Südtiroler Autonomie hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gefestigt und ist gewachsen, trotzdem ist sie keine Selbstverständlichkeit und befindet sich immer in Abhängigkeit von den politischen Geschehnissen in Rom.

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