KAIROS

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Impressum

Kairos - Alleinerziehender Mörder mit Kind sucht Vergebung

Gerrit Stanneveld

Copyright: © 2014 Gerrit Stanneveld

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-8460-7

Originaltitel: Kairos - Alleenstaande moordenaar

met kind zoekt vergeving

Fotografie: Norman Post. info@normanpost.nl

& Onno van Middelkoop. www.ovmfotografie.nl

Cover: © Gerrit Stanneveld

Übersetzung: Marion Seuring

Alle Rechte beim Autor. Nichts aus diesem Werk – auch nicht teilweise – darf mit Hilfe von Druck, Fotokopie, Scan, Mikrofilm oder auf irgendeine andere Weise ohne schriftliche Zustimmung des Autors vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

Enthält Zitate von Karlfried Graf Dürckheim, Laotse, Francis Bacon, Alexander Puschkin, Ludwig Wittgenstein, Jacques Mesrine, Herbert Marcuse.

Für meinen Sohn KAIROS

Ich liebe dich von ganzem Herzen! J

Zum Gedenken an:

Gregor v/d Brand

Rene Dohmen

Johnny Jacht

Bert Smid

Graad Terlinde

Cor van Hout

Paul De Vries

“Vater, ich bin heimgekehrt.“

Inhalt

Kapitel I Über Raum und Zeit

Kapitel II Stille, die transformiert

Kapitel III Papillon

Kapitel IV Voulez – vous coucher avec moi

Kapitel V Karussell-Regime

Kapitel VI Vaya con dios

Kapitel VII Die Hölle des Nordens und der Teufel aus dem Süden

Kapitel VIII Katharsis

Kapitel IX Harry Slinger

Kapitel X Tapas und Wein

Epilog Lilian Ferru

Interview Gerrit WeekendGezet

Fragebogen Gerrit

KAPITEL I

Über Raum und Zeit

Ich weiß nicht, ob die Bilder authentisch sind, die vor meinem geistigen Auge erscheinen, wenn ich an die allerfrühesten Erinnerungen meiner Kindheit denke. Vielleicht visualisiert sich auch nur die Geschichte, die mir so oft darüber erzählt wurde. Wie dem auch sei, meiner Ansicht nach war es so. Ich war ungefähr vier und saß warm eingepackt vorne im Auto auf dem Schoß meiner Mutter. Bernie, der jüngste Bruder meiner Mutter, fuhr den Wagen. Das Wetter war unfreundlich und der Wind spielte mit dem großen amerikanischen Wagen, in dem wir fuhren. Die Scheibenwischer konnten die große Menge Regenwasser kaum bewältigen, die mit enormer Gewalt auf die Windschutzscheibe prasselte. Schuf, schuf, schuf, der Anblick faszinierte mich, das Hin und Her hatte etwas Beruhigendes. Bernie verlangsamte die Fahrt und bog rechts ab auf eine lange Auffahrt, die an beiden Seiten mit großen, vom Wind kahl gerupften Eichen gesäumt war. Er hielt vor einem großen Gebäude, und mit Leichtigkeit trug mich meine Mutter aus dem Wagen, hinaus in die Kälte, in Richtung des großen Hauses. Hinter der Tür hing an großen Messingringen eine dicke, lange Gardine gegen die Zugluft, so wie man sie früher in alten Kneipen sah. Einmal drinnen, konnte ich einen großen Saal mit vielen Erwachsenen und noch mehr Kindern überschauen. Alle redeten durcheinander, und die Lautstärke der Kakophonie überwältigte mich. Ich wurde auf eine Tischecke gesetzt, und meine Mutter fing an, mich auszupacken. Rechts von mir saßen Kinder und spielten mit einer Ritterburg. Die Burg war silberfarben und hatte eine Zugbrücke, Ritter und Pferde. Jemand hob mich hinunter und setzte mich auf den Boden. Die nächsten vier Jahre sollte ich zusammen mit meiner Halbschwester Annemiek und meinem Halbbruder Janus hier im Heim bleiben. Ich hatte nicht den gleichen Vater wie die beiden. Mein Nachname ist Stanneveld, und Annemiek und Janus heißen Vroeke mit Nachnamen. Ich war zu jung, um zu verstehen, dass ich nun in einem Kinderheim war, aber schon schnell lernte ich, was es bedeutete, hier zu sein. An den Moment, in dem meine Mutter gegangen ist, kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht, ob es dramatisch war oder ob ich geweint habe, auch nicht, ob ich mich verlassen und einsam gefühlt habe.

Im Kinderheim gab es Nonnen und in Zivil gekleidete Gruppenleiterinnen. Am Abend, vor dem Zubettgehen gab es für alle einen großen Esslöffel Lebertran. Ich fand es so widerlich, dass ich würgte und mich sofort übergeben habe. „Verdammt nochmal“, schrie eine dicke Gruppenleiterin, „und noch einmal… auf den Mund.“ Wieder musste ich mich übergeben, und alles war raus. Klatsch, klatsch, zwei Schläge mit der flachen Hand direkt in mein Gesicht. „So, und jetzt machst du es richtig!“ Der Schreck und das Erstaunen über so viel Gewalt ließen den Lebertran dieses Mal nicht wieder hochkommen. Vier Jahre sollte es von nun an so sein, kalt und kühl mit vielen Schlägen. Eine Einrichtung, in der es keinen Platz gab für Liebe und Zuneigung. Einmal wurde Janus Zeuge, als die dicke Gruppenleiterin mir ins Gesicht schlug. Rasend schnell sprang Janus auf, schnappte sich eine Stricknadel, die in einem Korb auf dem Tisch steckte, und stach die Nadel bis zur Hälfte in den Bauch des dicken Weibes. Dort ließ er sie stecken. Es dauerte einen Moment, bis die Dicke realisiert hatte, was geschehen war, doch als sie es dann merkte, sprang sie auf und lief laut schreiend mit der Stricknadel im Bauch los. In seinem ganzen Leben hat Janus nur zwei Dinge getan, für die ich ihm dankbar bin. Die Sache mit der Stricknadel ist eine davon. Nach diesem Vorfall brachte man ihn in ein viel strengeres Heim, eine Art Jugendgefängnis. In den darauffolgenden Jahren sollte ich Janus nicht mehr sehen, alleine blieb ich dort mit meiner Halbschwester zurück. Annemiek, die fünf Jahre älter war, sorgte für mich, soweit ein neunjähriges Mädchen dazu fähig war. Von ihr lernte ich, mir die Schuhe zu binden, sie half mir beim An- und Ausziehen und putzte mir meine Rotznase. Geräuschlos, ohne ein Gefühl für Zeit, gingen die Tage ineinander über. Höhepunkt war der wöchentliche Besuch meiner Mutter. Voller Erwartungen hielten wir sonntags Ausschau, ob wir schon etwas sahen. „Da kommt sie“, riefen wir, sobald wir sahen, dass der große rote amerikanische Wagen auf die Auffahrt einbog. Wie ein Filmstar stieg meine Mutter dann aus dem Wagen, gehüllt in eine Wolke Parfüm, das lange blonde Haar hochgesteckt, in einem teuren Chanel-Kostüm mit Nahtstrümpfen und hochhackigen Pumps. Im Sommer blieben wir, solange der Besuch dauerte, draußen. Heimlich schlich ich mich jedes Mal weg in den Schlafsaal, um meinen kleinen Pappkoffer zu packen, in der Hoffnung, dass ich mit ihr gehen durfte. Warum das nicht ging, verstand ich nicht! Und jedes Mal hörte ich nur: „Nein, jetzt noch nicht.“ – „ Es geht noch nicht.“ – „Ein anderes Mal.“ Es schien endlos zu dauern, bis dieses andere Mal kam. Todtraurig blieb ich zurück, und wieder sah ich, wie meine Mutter alleine wegging. Annemiek tröstete mich, obwohl es sie selber auch sehr geschmerzt haben muss. Nie bin ich auf den Gedanken gekommen, nach meinem Vater zu fragen. Ich war ein Kind, das bei Wind und Wetter, egal ob Sommer oder Winter, draußen war. Im Herbst spielte ich auf der Auffahrt, wo ich das Laub auf einen Haufen türmte, um dann hineinzuspringen. Ruhig lag ich dann so da und schaute hinauf… zu den Wolken, die vorbeizogen. Es war, als ob ich intuitiv fühlte, dass dort über Raum und Zeit eine Wirklichkeit lag. Wie lange ich so dalag, weiß ich nicht. Ohne ein Gefühl für Zeit verlor ich mich in diesen Momenten und fand es wunderbar. Ich lebte ganz im Hier und Jetzt, so wie Kinder das halt machen. Das Gefühl von leichtem Regen im Gesicht und den Geruch faulender Blätter in meiner Nase… so muss die Zeit an mir vorübergegangen sein, bis auch diese vier Jahre ein Ende fanden und wir wieder nach Hause durften. Was auch immer das heißen sollte. Ich verstand nur, dass wir hier weggehen würden. Ein Zuhause hatte ich bis jetzt noch nicht gehabt, das Kinderheim war alles, was ich kannte. Die Version meiner Mutter hierüber war immer die gleiche. Meine Mutter hatte einen Mann kennengelernt, Graad Thewis. Zusammen hatten sie einen Plan entworfen, um uns, die Kinder, aus dem Heim zu holen. Um die Erlaubnis zu bekommen, uns mitnehmen zu dürfen, würde man dem Jugendamt eine stabile Familiensituation vorspielen, man würde heiraten, ein Haus mieten und so weiter. Danach sollten sich ihre Wege wieder trennen. Mehr oder weniger ist es dann auch so gelaufen. Im Heerlener Stadtteil Nieuw-Einde hatten die beiden ein Haus gemietet. Es waren große Betonklötze, die wie ein Kuchen in sechs Einfamilienhäuser geteilt waren. Es war Anfang der 70er, als wir dort einzogen, der Vietnamkrieg war in vollem Gange, was ich durch die täglichen Nachrichten mitbekam und nie vergessen habe. Genau wie Flower Power, der Aufbruch in eine Zeit, in der alles erlaubt war. Diese Veränderung war spürbar und hing fast tastbar in der Luft.

Als wir das erste Mal im neuen Haus ankamen, waren wir überwältigt vom Luxus, ein eigenes Haus zu haben. Alles war wunderschön, und voller Bewunderung strichen wir über die Schränke und die Arbeitsflächen in der Küche. Unserem kindlichen Staunen verliehen wir Ausdruck, indem wir ständig „oooh“ und „aaah“ riefen. In welcher Familiensituation ich gelandet war, realisierte ich in diesem Moment nicht. Erst Jahre später als ich, sechzehn Jahre jung, nach einem Raubüberfall auf eine Poststelle in der Isolierzelle eines Gefängnisses saß, fing ich an, mein bisheriges Leben zu inventarisieren.

Es ist nicht einfach, diese ersten Jahre zusammenzufassen, denn im Gegensatz zu unserem Leben im Kinderheim geschah so viel. Es war ein großes Chaos. Meine Mutter und Graad gingen viel aus, und oft nahmen sie mich mit auf Kneipentour. So kam ich schon in ganz jungen Jahren in Kontakt mit dem Nachtleben, Alkohol, Gewalt und Amoralität. Sehr oft war ich Zeuge, wenn Erwachsen sich mit Wagenhebern, Barhockern und Biergläsern die Köpfe einschlugen. In der Kneipe wurden regelmäßig zwei Stühle zusammengeschoben, ein paar Mäntel und Jacken obendrauf, und fertig war mein Bett für die Nacht. Dort lag ich dann und schlief mit vom Zigarettenrauch brennenden Augen. Nach Lokalschluss merkte ich, wie man mich hochhob und ins Auto legte. Sturzbetrunken fuhren die Erwachsenen dann nach Hause oder manchmal in eine noch offene Nachtbar. Im Unterricht konnte ich einfach nicht mitkommen, denn tagsüber war ich völlig k.o. und lag schlafend auf meiner Schulbank. In der Grundschule wurde ich jedes Jahr versetzt, obwohl ich nie ein Zeugnis bekommen habe. Nach einem Zeugnis, den Hausaufgaben oder der Schule wurde zu Hause nie gefragt. Es war, als ob ich nicht existierte, ich konnte tun und lassen, was ich wollte, keiner nahm Notiz davon. Jahre später, bei einer Untersuchung im Pieter-Bann-Zentrum, wurde diese Periode als „ernste affektive Vernachlässigung“ klassifiziert. Das stimmte wohl auch, denn die einzige Zuneigung, die ich in dieser Zeit bekam, erhielt ich von meinem Bruder Janus, dem ich im Alter von neun oder zehn Jahren regelmäßig einen runterholen musste. Janus hatte sich zu einem richtigen Sadisten und Psychopathen entwickelt, und oft machte er mir Angst, indem er mir im Dunkeln blutdurstige Geschichten erzählte, von Mördern, die mit riesigen Messern unter dem Bett lauerten. Mit ihren riesigen Messer würden sie durch die Matratze stechen und mich so komplett aufschlitzen. Gelähmt und in Angstschweiß gebadet lag ich dort und wartete, bis sie zuschlagen würden. Ich traute mich kaum noch zu atmen. Alles, was Janus mir und meiner Schwester antat, gebrauchte er als Druckmittel wieder gegen mich. Konstant hörte ich: „Wenn du nicht dieses oder jenes machst, dann sage ich Mam, dass du und Annemiek fiese Dinge tun.“ Es grenzte schon fast an Wahnsinn. Er hatte uns in der Hand, und so manipulierte er mich und Annemiek. Und doch verlangte ich nach seiner Aufmerksamkeit, seiner Bestätigung und seinem Lob. Ich wollte so gerne einen Vater haben, einen großen Bruder, jemanden, auf den ich stolz sein konnte, ich wollte irgendwo dazugehören, mich beschützt und geborgen fühlen, aber leider war das nicht möglich. Für Außenstehende war Janus ein verrückter Kerl mit einem flotten Mundwerk, der keine Probleme hatte, soziale Kontakte zu knüpfen. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren hatte er einen großen Kreis von Freunden, von denen nicht einer etwas taugte. Wo er diese Menschen traf, weiß ich nicht. Oft kam er nachts nach Hause und veranstaltete einen riesigen Krach und Lärm, jeder wurde aus dem Bett geholt, und die halbe Nachbarschaft konnte das Spektakel mitgenießen. Dann liefen locker zehn bis fünfzehn sturzbetrunkene Leute durch unser Haus, die sich untereinander oder mit den Nachbarn prügelten. In einer dieser Nächte wurde ich wach vom Lärm und stand auf, um zu sehen, was los ist. Janus und ein paar seiner Freunde waren mit einem großen Messer hinter einer Katze her. Während alle den größten Spaß hatten, lief das arme Tier um sein Leben. In ihrem Todeskampf sprang die Katze die Treppe hinauf, und Janus stach zu. Er erwischte sie im Sprung und stach sie mit dem Messer an der hölzernen Treppe fest, das Blut tropfte von den Stufen herab, während das arme Tier ein letztes Mal zuckte. Weinend rannte ich zurück in mein Zimmer. Ein anderes Mal hatte er sich einen jungen Schäferhund gekauft, der schnüffelnd durch den Garten lief, um sein Geschäft zu verrichten, als er mit einem Luftgewehr auf ihn schoss. Anschließend fuhr er dann zum Tierarzt und ließ den Hund für viel Geld operieren. Manchmal dachte ich wirklich, dass er es gut mit mir meinte. „Komm“, sagte er dann, „lass uns zusammen spielen.“ Er nahm dann eine Streichholzschachtel, holte zwei Streichhölzer heraus, die ich so festhalten sollte, dass die Köpfe unter meinem Daumen und Zeigefinger auf der Streichfläche lagen. Ich war dann eine Brücke, und er tat so, als ob er ein Flugzeug in seiner Hand hatte. „Schau“, sagte er, „ich komm angeflogen und versuche, unter deiner Brücke durchzufliegen…“ „Vrmm, vrmm“ und dann „oooh, oooh, pruttt, pruttt, kein Benzin mehr, mayday, mayday, wir stürzen ab.“ Er schlug mit der Hand auf die Streichholzschachtel, die Köpfe der Zündhölzer strichen über die Streichfläche, entzündeten sich und brannten sich in meinen Zeigefinger und Daumen. Laut lachend ließ er mich zurück! In der Nachbarschaft wurde ein altes Wohnviertel abgerissen, und Janus und seine Freunde gingen dort Altmetalle wie Zink, Kupfer und Blei stehlen. Ich wollte mitmachen und folgte ihm in einigem Abstand, damit er mich nicht nach Hause schicken konnte. Ich machte es ihnen nach und kletterte auf ein Dach. Janus stand am anderen Ende des Daches und schrie mich an: „Verdammt noch mal, geh nach Hause.“ „Nein, ich gehe mit“, schrie ich zurück. Janus hob einen Ziegelstein auf und warf ihn in meine Richtung, bang – mitten ins Gesicht. Meine Nase platzte auf, und ich stürzte rückwärts vom Dach. Die nächsten Tage lag ich mit einer Gehirnerschütterung im Bett. „Unsinn“, meinte Janus „was man nicht hat, kann man auch nicht erschüttern.“

 

Sein Freundeskreis war ein wilder Haufen, aber gerne hörte ich voller Spannung ihre Geschichten, wenn sie bis spät in die Nacht Pläne schmiedeten für eine anstehende Europatour. Der harte Kern reiste quer durch Europa, ohne Geld, alles, was man benötigte, wurde unterwegs geklaut. Autos, Benzin, Kleidung, Essen, einfach alles wurde gestohlen. Niemand durfte etwas mitnehmen, das war die Bedingung. So zogen sie dann wochenlang durch alle Länder, Italien, Spanien, überall waren sie gewesen. Oft sah ich monatelang niemanden, manchmal auch deshalb, weil sie wieder einmal irgendwo im Gefängnis gelandet waren. Selbst spielte ich gerne mit Nico, dem Nachbarsjungen, in der, wie wir es nannten, „Heide“. Die Heide war ein brachliegendes Gelände, ungefähr 1 km2 groß, auf dem wir unterirdische Hütten bauten und spektakuläre Lagerfeuer entzündeten, die manchmal komplett außer Kontrolle gerieten und fast die ganze Heide abfackelten. Toll fanden wir es auch, von einem Baum zum anderen zu gelangen, ohne den Boden zu berühren. Ich war richtig gut darin, und weil wir es so oft spielten, hatte ich eine sehr gute Koordination. Nicos Bruder wollte auch mitspielen und fiel aus dem Baum, direkt auf sein Gesicht. „Ja, du hast den Boden berührt“, rief ich, „du bist raus!“ Auf der weiterführenden Schule verschaffte mir das eine Zwei in Sport. Auf dem Bewegungsparcours war ich unschlagbar; der Sportlehrer hatte sogar den örtlichen Turnverein eingeladen, um ihnen mein Können zu demonstrieren. Mein Talent wurde sofort erkannt, aber Disziplin hatte ich nicht, und auch der Anreiz fehlte. Der Sportlehrer machte mir das Angebot, mich zu Hause abzuholen und mich nach Trainingsende wieder nach Hause zu fahren, aber sein Vorschlag traf bei mir auf taube Ohren. Die Zeit der unschuldigen Spiele mit Nico ging schnell vorbei, und schon bald war ich Mitglied einer sechsköpfigen ‚Gang‘. Pierro und ich waren mit zehn, elf Jahren die Jüngsten, Rob und Rob, die Ältesten, waren siebzehn Jahre alt. Jetzt fing alles an, richtig schiefzulaufen. Ladendiebstähle waren unser Tagesgeschäft, teure Lederjacken, Markenkleidung, alles passend und auf Bestellung. Rob und Rob übernahmen den Verkauf. Nach Sonnenuntergang setzten wir unsere Diebestour fort, indem wir in Häuser, Geschäfte und Firmen einbrachen. Nichts war sicher oder heilig, Fahrräder, Mopeds, alles nahmen wir mit. Viel Geld bekam ich nicht vom Verkauf. Ab und zu steckte Rob mir einen Zehner zu, damit ging ich in die nächste Pommesbude und aß Snacks und fettige Pommes, bis mir übel wurde. Wenn danach noch Geld übrig war, kaufte ich mir vom Rest Wassereis, die doppelten mit den beiden Holzstöckchen, die man in der Mitte brechen kann. Am allerliebsten aß ich die gelben mit Zitronengeschmack. Tja, eine Kinderhand ist leicht gefüllt. Rob und Rob waren in einem Alter, in dem sie schon mit vielen Freundinnen bumsten. Schon bald redete ich in der gleichen Ausdrucksweise, hatte aber inhaltlich keine Ahnung, worüber ich sprach. Wenn ich ein hübsches Mädchen sah, stieß ich Rob an und sagte: „Guck, Rob, da läuft Material.“ „Ja“, lachte Rob dann, „aber das Werkzeug ist noch nicht so weit.“

Weil die elterliche Führung fehlte, trieb ich mich sommers wie winters bis in die frühen Morgenstunden auf der Straße herum. Weihnachten schauten wir durch die Fenster hinein und sahen, wie die ganze Familie gemütlich zusammen um den Baum herumsaß. Das war es, was ich wollte und wonach ich so sehr verlangte. Aus lauter Frust warfen wir Ziegelsteine durch die Scheiben, zielten auf den Weihnachtsbaum, und dann nichts wie weg! Schließlich kamen wir an eine Wegabsperrung, die eine Grube im Boden markierte. Ohne nachzudenken, trat ich einige der Absperrgitter in die Grube. „Hey“, hörte ich eine tiefe Stimme, „hol die Absperrgitter da wieder raus.“ Vor mir stand ein kräftiger, ungefähr fünfzigjähriger Mann, der durch meine Aktion sichtbar genervt war. Ein zweites Mal richtete er das Wort an mich: „Hörst du schlecht, du Rotzlöffel? Hol das Absperrgitter aus der Grube.“, befahl er mir. „Hol’s doch selber raus, du alter Sack.“, hörte ich mich sagen. In zwei Schritten stand er vor mir und schlug mir rechts und links aufs Maul, klatsch, klatsch! Sofort zog Rob einen Eisenpfahl aus dem Boden und machte Anstalten, den Kerl zu schlagen. Der Mann öffnete seine Jacke und provozierte Rob: „Hier, komm, schlag doch!“ Rob stand da und schnaufte wie ein wilder Stier, er war auf 180. Den Pfahl mit beiden Händen fest umklammert, schlug er so fest, wie er konnte, auf die Rippen. Bang… der Mann klappte in der Mitte zusammen, taumelte und fiel in die Grube, neben die Gitter. Rob schmiss den Pfahl weg, und wir rannten, bis wir uns in Sicherheit wähnten. So waren wir einige Jahre zusammen unterwegs und machten die Gegend unsicher, bis Rob irgendwann eine feste Beziehung hatte und unsere Freundschaft einschlief.

An einen schönen Sommertag saß ich im Garten und spielte, als quietschende Autoreifen mich aufschreckten, die mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke kamen und in unserer Einfahrt hielten. Es waren Graad und meine Mutter in ihrem VW Käfer, dicht gefolgt von einem Streifenwagen. Sofort versammelten sich die ersten Schaulustigen, und in no time stand eine Menge von etwa fünfzig neugierigen Menschen vor unserem Haus, die das ganze Geschehen beobachteten. Die Polizei wollte meine Mutter verhaften, weil sie ein Halteschild überfahren hatte und man außerdem vermutete, dass sie betrunken war. Meine Mutter, die sich heftig gegen die Verhaftung wehrte, wurde von den Polizisten auf den Rücksitz des Käfers gezwängt. Halb auf den Rücken liegend, mit zwei Polizisten obendrauf, war es schon gelungen, ihr die Handschellen anzulegen. Es wurde immer bizarrer! Einem Polizisten rammte sie ihr Knie in den Schritt, und er schrie auf vor Schmerzen. Er krallte sich mit seinen Fingern in ihrem hochtoupierte Haar fest und schlug ihr einige Male mit der Faust ins Gesicht. Sofort wurde daraus ein großes Blutbad, weil die Haut auf den Wangenknochen aufgeplatzt war. In diesem Moment kam Janus mit einem Zimmermannshammer in der Hand angerannt. Mit dem Hammer schlug er dem Beamten, der meine Mutter geschlagen hatte, so fest er nur konnte, auf den Kopf. Die zweite und letzte Aktion, für die ich ihm wirklich dankbar bin! Ich stand da und war wie gelähmt. An diesem schönen Sommertag wirkte das alles so völlig unwirklich. Einige Schaulustige, einer von ihnen hieß Freek, mischten sich ein, noch mehr Streifenwagen und ein Krankenwagen kamen… es wurde immer verrückter. Nachdem die Polizei noch einige Leute verhaftet hatte, dauerte es noch Stunden, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Vorläufig!

Der kürzeste Weg zu meiner Grundschule betrug ungefähr 400 Meter und führte über ein Baugelände, auf dem dreistöckige Wohnblocks gebaut wurden. Gerade hatte ein Maurer den frischen Zement einer Stufe geglättet, als mir die Idee kam, dass der Abdruck meiner Hände und Füße darin toll wäre. Ich ließ meiner Kreativität freien Lauf, als mich kräftige Hände von hinten griffen und mir ein paar klatschten. Der Maurer schleifte mich in den Keller und warf mich dort in einen engen, dunklen Raum. Den ganzen Mittag, bis Schulschluss, hat er mich dort in diesem Stromkasten im Dunkeln sitzen lassen. Das letzte Jahr meiner Grundschulzeit war angebrochen, und es lief nicht gut. Am laufenden Band hatte ich Ärger. Ein Junge in kurzen Hosen landete in den Rosenbüschen, ein Mädchen hatte sich einen Dartpfeil im Oberschenkel eingefangen, und einem Dritten stach ich einen Brieföffner durch die Hand. Ein Luftgewehr, das ich einige Tage vorher gestohlen hatte, wurde von der Lehrerin einkassiert. Ich war sauer und beschimpfte die Lehrerin in der gleichen vulgären Art und Weise, wie ich es bei den Erwachsenen zu Hause aufschnappte. So verbrachte ich mehr Zeit auf dem Flur als in der Klasse. Der stellvertretende Direktor muss ein kluger Mann gewesen sein, denn niemals machte er mir Vorwürfe oder schimpfte… er nahm mich mit in sein Zimmer, wo ich in aller Stille Donald-Duck-Comics lesen durfte. Manchmal bekam ich sogar eine leckere Tasse warmen Kakao dazu. Vor meinem Vater hatte ich Angst, denn immer wieder wurde mir von meiner Mutter eingehämmert, dass ich wegrennen solle, falls er an der Schule auf mich wartete. „Er wird dich mitnehmen, und dann sehe ich dich nie mehr wieder.“, so versicherte sie mir. Tatsächlich erinnere ich mich daran, dass er eines Tages einen großen Sack mit Kleidung und Süßigkeiten für mich in der Schule abgab. Das Herz rutschte mir in die Hose, als ein Lehrer mir sagte, dass er draußen auf mich warte. Wie ein aufgescheuchtes Tier rannte ich nach Hause. Einmal nur habe ich in seinem Auto gesessen. Es war ein Ford 17M, und das Armaturenbrett sehe ich so klar und deutlich vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. In der Schule wurde anhand von Tests bestimmt, welche weiterführende Schule für mich in Frage käme. Man beschloss, dass es eine technische Schule auf niedrigem Niveau sein sollte. Auf der LTS Brunssum hatte ich die Möglichkeit, Zimmermann, Maurer oder vielleicht sogar Autoschlosser zu werden. Nach einer vierjährigen Ausbildung sollte ich dann den Rest meines Lebens bis zur Rente arbeiten, brav meine Steuern zahlen und die Gesetze unserer Gesellschaft respektieren. Eventuell später heiraten, dann Kinder, ein Hund und eine Hypothek. Die zwei Wochen Urlaub im Jahr würde ich mit einer Kiste Bier im Regen auf einem Campingplatz verbringen, und während meine Frau auf dem Klo ist, hol ich mir heimlich einen runter, weil ich scharf auf die heiße Nachbarin bin. Irgendwann bin ich dann am Ende oder krepiere an einer Krankheit. An meinem Grab stehend, würde man sich daran erinnern was für ein toller Kerl ich gewesen war… Sand drüber. Amen! Aber es kam alles ganz anders. Nicht besser, aber anders.

 

Es war im Sommer 1974 oder 1976, die Fußballweltmeisterschaft war in vollem Gange, als mich meine Mutter zu einem Einkaufsbummel nach Geleen mitnahm. Meine Schwester, Dolf, der spätere Mann meiner Schwester, und Eddy begleiteten uns. Wir betraten ein Juweliergeschäft, und das Erste, was uns auffiel, war, dass durch das Öffnen der Tür ein Glöckchen berührt wurde und läutete. Der Inhaber, der sich in der Wohnung über dem Geschäft aufhielt, kam hinunter und bediente seine Kundschaft. Erstaunt betrachtete der Juwelier den tätowierten Unterarm meiner Schwester, als sie einige Armbänder anprobierte. Zur damaligen Zeit war das kein alltäglicher Anblick bei einer Frau. Keines der Stücke entsprach ihrem Geschmack, also bedankten wir uns und verließen das Geschäft. Wahrscheinlich lief gerade ein spannendes Fußballspiel, denn sofort ging der Inhaber wieder rauf in seine Wohnung. Schnell öffnete Eddy die Tür und schnitt den Draht des Glöckchens durch. Wieder kam der Besitzer hinunter in sein Geschäft. Als er sah, dass sich keine Kundschaft im Laden befand, machte er kehrt und ging wieder hinauf. Wir warteten noch einige Minuten, schließlich schlichen wir uns in das Geschäft, und mucksmäuschenstill räumten wir den kompletten Laden samt Schaufenster leer. Ich hatte meine Taschen bis zum Bersten vollgestopft mit Gold. Wieder zu Hause angekommen, wurde der Hehler gerufen, der vor Bewunderung anerkennend pfiff, als er die Beute erblickte. Mit Nachdruck wurde mir befohlen, nicht über die Angelegenheit zu sprechen, aber auch ohne diese Drohungen erkannte ich den Ernst der Lage. Ich würde schweigen wie ein Grab! Vom Erlös schenkte mir meine Mutter ein nagelneues Geländemoped, das ich unter ihrer Aufsicht auf einem stillgelegten Gelände fahren durfte. Die Polizei erhielt bei der Befragung des Juweliers sehr gute Täterbeschreibungen und eine exakte, detaillierte Beschreibung des tätowierten Unterarms. Letztendlich gab das Monate später den Ausschlag und führte zur Aufklärung des Falles. Bei einer Shoppingtour in Geleen gerieten meine Schwester und ihr Freund in einen Streit mit dem Verkaufspersonal. Die dazugerufenen Polizisten nahmen sie mit auf die Wache, und hier fiel einem aufmerksamen Gesetzeshüter der Arm meiner Schwester auf. Eine Gegenüberstellung mit dem Juwelier brachte die ganze Sache ins Rollen. Wir wurden alle verhaftet. Ich wurde in der Schule von vier Polizisten festgenommen, die mich in Handschellen vor den Augen meiner Schulkameraden aus der Klasse führten. Zu diesem Zeitpunkt war ich ungefähr zwölf Jahre alt. Ohne Haftbefehl oder Anwalt schloss man mich für die nächsten fünf Tage und Nächte in eine Zelle ein. Wie vorherzusehen gewesen war, spielten die Polizisten ‚guter Cop, böser Cop‘ mit mir. Genauso hatten Rob, meine Mutter und das übrige Gesindel, das bei uns zu Hause ein- und ausging, es mir beschrieben. Der eine war der soziale, einfühlsam Typ, der förmlich triefte vor Empathie. Ein zweiter übernahm die Rolle des aggressiven Polizisten, verbal sehr einschüchternd, und es hatte den Anschein, dass sein netter Kollege ihn nur mit Mühe zurückhalten konnte. Schnell durchschaute ich das Spiel, denn schließlich hatte man mich jahrelang darauf vorbereitet. „Ihr könnt mich mal“, dachte ich mir im Stillen. Außerdem hatte meine Mutter gedroht, mein Geländemoped zu verkaufen, wenn ich redete. Dass ich bei dem Raub dabei gewesen war, stand durch die Aussage des Juweliers hundertprozentig fest, und die Polizisten ließen wirklich nichts unversucht, um mich zu einer Aussage zu bewegen. Einige Male kam „der Nette“ in meine Zelle, setzte sich zu mir und redete in väterlichem Ton mit mir. „Junge, wir wissen doch schon alles, erzähl uns den genauen Ablauf. Komm schon, du verbaust dir so deine ganze Zukunft.“ – „Schau“, sagte er und wies auf die Wand. „Siehst du die Klingel da? Wenn du es mir erzählen möchtest, dann drücke den Knopf, und ich komme zu dir. Du machst eine Aussage, und anschließend darfst du sofort nach Hause!“ Am nächsten Tag kam er wieder. „Na“, sagte er, „ich dachte, du würdest klingeln?!“ – „Ich habe aber nicht zu sagen!“, entgegnete ich. Jetzt drehte „der Böse“ wieder komplett durch und versuchte es mit Beschimpfungen. „Fuck you“, dachte ich. Hier und jetzt konnte ich beweisen, dass ich meine Lektionen gelernt hatte. Nach fünf Tagen durfte ich wieder nach Hause. Ich hatte keine Aussage gemacht, aber es war eine wichtige Lektion fürs Leben gewesen, und stolz wie ein Pfau verließ ich das Polizeirevier. Einer der Polizisten machte meiner Mutter ein Kompliment. „So Mia“, sagte er, „der hat seine Lektion ja schon mit der Muttermilch bekommen!“ Auch den Beamten der Wache war klar, dass es kein gutes Omen für die Zukunft ist, wenn jemand dieses Spiel im Alter von zwölf Jahren schon so gut beherrscht. Für mich war das alles normal. Ich hatte kein Vergleichsmaterial und dachte, alles sei so, wie es sein sollte. Wenn ich nicht mit meiner Mutter unterwegs war, lag ich die ganze Nacht vor dem Fernseher und schaute mir in Schwarzweiß die alten französischen Gangsterfilme auf den deutschen Kanälen an. Alain Delon, Jean Paul Belmondo, Lino Ventura etc. waren meine großen Idole. Ich wollte später ein Gangster sein, das war für mich ganz klar. Ich wollte auch in Nachtclubschlägereien verwickelt werden, wilde Verfolgungsjagden und Schießereien erleben, Champagnerkorken knallen lassen, die Nächte mit ein paar schönen Nutten im Arm durchfeiern und lässig mit einer Zigarette im Mundwinkel die Bühne für mein eigenes psychologisches Drama schaffen. Wieso Maurer oder Autoschlosser? Das überließ ich den anderen Blödmännern. Kriminalität war meine Zukunft, und ich würde es weit bringen, noch vor meinem dreißigsten Geburtstag wollte ich es geschafft haben und ‚drin‘ sein. (Drin war ich… im Gefängnis) Ich würde ein paar Millionen rauben, mich damit in Südfrankreich niederlassen, einen tollen Nachtclub öffnen und wäre ‚the man‘. Tagsüber würde ich mit meinem 1957er Mercedes 300 SL Roadster – für mich der schönste Wagen, der je gebaut wurde – an der Küste entlangfahren, und die Frauen würden sich um einen Platz an meiner Seite reißen.