KAIROS

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Meine Mutter wechselte in dieser Zeit die Männer schneller, als ich blinzeln konnte. Jeden Morgen, bevor ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, fragte ich mich, welche Visage heute wohl wieder unter der Decke hervorkroch. Bei einer Gelegenheit beobachtete sie von unserem Küchenfenster aus ein vorbeigehendes Pärchen, als sie voller Entrüstung rief: „Guck dir das fiese Flittchen an!“ Ich fragte: „Warum, Mam?“ – „Die hat jede Woche einen neuen Kerl!“, sagte sie. Daraufhin ich wieder: „Ja, aber du doch auch!!“ Wie eine Furie griff sie mir an die Gurgel, drückte, so fest sie konnte, zu und schleifte mich durchs Haus. Wie eine Lappenpuppe hing ich in ihren Klauen, bis sie wieder zu sich kam und mich losließ. Ohne ein Wort oder eine Miene zu verziehen, starrte ich sie an und versuchte, diese ungeheure Ungerechtigkeit zu verstehen.

KAPITEL II

Stille, die transformiert

Eine Zeit des Streunens brach an, in der wir schnell und viel umzogen. Sogar in einem Wohnwagen, der aussah, als gehöre er zu einem Wanderzirkus, habe ich eine Weile gewohnt. Von Weert aus musste ich jeden Tag mit dem Zug nach Heerlen zur Schule. In Brunssum hatte ich es nicht länger als ein Jahr ausgehalten, deswegen besuchte ich zurzeit die ITO (Individuelles Technisches Bildungswesen) Heerlen. Hier sollte ich die nächsten zwei Jahre zur Schule gehen, aber kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich wegen Fehlverhaltens der Schule verwiesen. Auf der ITO waren auch einige Jungs vom Wohnwagencamp, die innerhalb der Schule eine feste Gruppe formten und gegen die Bauern rivalisierten. Alle, die nicht vom Wohnwagencamp kamen, waren in ihren Augen Bauern, wobei das Wort „Bauer“ eine stigmatisierende Funktion erfüllte. Für die Bauern, die Bürger also, waren alle Reisenden Zigeuner, denen man nicht trauen konnte und die man besser mied. Sie brachten entweder Ärger oder wollten einem irgendetwas verkaufen, was man gar nicht haben wollte. In meinem Fall war die Sache nicht so klar. Ich war ein Bauer, der im Wohnwagencamp aufgewachsen war. Mein Bruder Janus hatte ein Mädchen vom Camp geheiratet, und mit ihr hatte er zwei Kinder, Jantje und Jowie. Als ich während der Schulpause auf einer Mauer meine Butterbrote aß, geriet ich ins Visier einer Gruppe Reisender. „He, Junge, isst du brav deine Brote!?“, rief der Anführer mir zu. Bevor ich reagieren konnte, hatte er mich am Hals und versuchte mich rückwärts von der Mauer zu werfen. In einem Reflex griff ich nach seiner Kleidung und schleuderte ihn über mich drüber. Er hatte mich nicht losgelassen, und so fielen wir zusammen von der ungefähr anderthalb Meter hohen Mauer und landeten zwischen den Pflanzen im Dreck. Der Reisende schaute mich an, und kurz dachte ich: „Jetzt geht’s los“, aber dann fingen wir beide an zu lachen, denn es war ein wirklich spektakulärer Fall. So wurden wir Freunde, und als er hörte, dass ich oft im Camp war, wurde ich als einer von ihnen akzeptiert. Auf die geplante Klassenfahrt nach London begleitete mich mein neuer Freund nicht, also musste ich alles alleine verderben. Organisiert wurde die Fahrt von unserem Englischlehrer, einem negroiden Mann namens Mister Mathew, a real sophisticated man. Ich musste immer lachen, wenn er mit seinem starken Akzent Niederländisch sprach. Es machte mir einen Heidenspaß, ihn zu imitieren, what a character! Meneer Willems, der stellvertretende Direktor, ein kleiner, korpulenter Fettsack, fuhr auch mit. Zuerst mit dem Bus nach Calais und von dort mit der Fähre rüber nach Dover, England. Schon im Bus spielte ich den Clown, holte mir das Mikrofon und imitierte Mister Mathew: „Wenn wir jetzt bitte alle nach links schauen, dann sehen wir nicht, was rechts passiert.“ Alle Kinder lachten, und ich hatte wieder die volle Aufmerksamkeit. Es war uns ausdrücklich verboten, an Bord der Fähre zu trinken, aber die Leinen war noch nicht los, da hatten Ruud und ich schon die erste Flasche Bier am Mund. Seinem Vater gehörte ein großes Transportunternehmen in Beek oder Spaubeek. Eine Stunde später waren wir krank vom Seegang und dem Bier und hingen kotzend über der Reling. Für unseren Londonaufenthalt hatte Mister Mathew einen straffen Zeitplan aufgestellt. Wir sollten so viel wie möglich von der Stadt sehen, und am gleichen Abend ging es ins Theater, wo ich Chancen bei einem wunderschönen Mädchen hatte; blonde Haare, braune Augen, genau wie Catherine Deneuve. Am nächsten Tag sightseeing, die berühmte Tower Bridge und die Kronjuwelen. Bei der Gelegenheit habe ich an den Big Ben gepinkelt, nur damit ich dann zu Hause erzählen konnte: „He, ich hab an den Big Ben gepinkelt… lustig, oder?“ Danach Buckingham Palace, wo die Guards stehen, die sich nicht bewegen und nicht reden dürfen. Aber ich schaffte es, dass einer von ihnen mich leise anzischte: „Fuck off, you little bastard.“ Ich nahm Ruud beiseite und sagte: „He, Ruud, ich habe keine Lust, den ganzen Tag mit Mister Mathews von einem Museum zum nächsten zu laufen. Komm, wir verlieren die Gruppe und verirren uns!“ Ruud war direkt mit von der Partie. Wir sorgten dafür, dass wir den Anschluss an die Gruppe verloren, und rissen aus. Draußen angekommen, wollte ich wissen, ob das mit den Taxen so funktioniert wie im Film. Ich stellte mich auf die Straße, pfiff laut und rief: „TAXI.“ Tatsächlich stoppte sofort ein Wagen, und ich sagte: „Driver, to the best pub in town!“ Am Ziel angekommen, gab ich dem Fahrer ein gutes Trinkgeld, und wir stiegen im Zentrum von London vor einem gut besuchten Pub aus. Die Engländer fangen schon früh an zu saufen! Ruud und ich hatten extrem viel Spaß und waren blau wie die Haubitzen. Was wir aber nicht wussten, war, dass der Direktor die Polizei eingeschaltet hatte. Alle waren in heller Aufregung und befürchteten das Schlimmste. Wer weiß, vielleicht waren wir ja Jack the Ripper in die Hände gefallen. Abends um elf schließen die Lokale, und wir fuhren mit dem Taxi zurück ins Hotel. Von dem, was danach kam, weiß ich nicht mehr so viel. Vom Direktor kassierte ich ein paar Schläge auf meinen besoffenen Kopf, und den Rest der Zeit über durfte ich das Hotel nicht mehr verlassen. Einige Wochen später machte ich zusammen mit einem Freund blau. Wir saßen in ‚de Tapperij‘, einer Kneipe in Heerlen, tranken Bier und zockten ein bisschen. Mein Kumpel hatte immer Geld in der Tasche, die Familie besaß einen Schrottplatz, und so lief er im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren immer mit ein paar Hundertern in der Tasche herum. Gegen Mittag saßen wir dann betrunken in der Klasse und begriffen natürlich nichts vom Lehrstoff. Auch mit dem Direktor gab es wieder Ärger, weil ich mit dem Mofa zur Schule kam, obwohl ich erst vierzehn war. Nur kurze Zeit später kam es dann endgültig zum Bruch, und ich verließ die Schule. Mein Kumpel folgte mir kurz darauf. „Weißt du was“, sagte er, „du kannst bei uns auf dem Schrottplatz arbeiten.“ Mit seinem Vater hatte er auch schon gesprochen. Ich bekam 200 Gulden pro Woche, und so lernte ich Autos auszuschlachten, Ersatzteile sortieren und Auto fahren. Wenn sein Vater nicht da war, nahmen wir uns alle ein Auto und fuhren auf die hinter dem Schrottplatz gelegenen Felder. Die Regeln waren einfach… es gab keine Regeln. Alles war erlaubt, jeder versuchte, den anderen zu überholen, und wer zum Schluss übrig blieb, hatte gewonnen. Die Brüder meines Kumpels machten auch mit. Der Ältere hieß John, der Jüngere hieß Henk. Ohne Gurt, ohne Helm, einfach ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen, fuhren wir völlig verantwortungslos aufeinander ein und versuchten uns gegenseitig mit hoher Geschwindigkeit aus der Bahn zu drängen. Wir überschlugen uns, die Scheiben gingen kaputt, und voll mit Blut und Glassplittern machten wir die gefährlichsten Kapriolen. Der mit den meisten Überschlägen war der Coolste. Und wir waren alle mächtig cool! Hier lernte ich richtig gut Auto fahren, etwas, was mir später bei Überfällen und Verfolgungen nützlich sein würde. Außerdem lernte ich, wie man ein Auto stiehlt. Ich hatte genug Zeit, die Schlösser zu untersuchen und das Kurzschließen zu üben. Meine Mutter war weniger glücklich mit meinem Job. Ich machte mehr Dreck, als ihr lieb war, immer hatte ich was, der Kopf war voller Platzwunden oder die Hände übersät mit Schnittwunden, und wenn ich dann freitags nach Hause kam, hatte ich außerdem noch keinen Gulden mehr in der Tasche. Alles war draufgegangen für Essen vom Chinesen und Bier. Sie verbot mir den Job, und ich musste aufhören. Mit meinem Schwager sollte ich auf den Bau gehen und dort als Verfugerlehrling arbeiten; mein Verdienst betrug 200 Gulden pro Woche und einen Urlaubsgutschein von 10 Gulden pro Tag.

Und so unternahm ich im Alter von fünfzehn Jahren den letzten Versuch, mich als angehender Bauarbeiter in die Gesellschaft zu integrieren. Ich hatte eine bildschöne Freundin, an die ich meine Unschuld verlor, und außerdem führte ich den Schaufenster-Diebstahl in unserem schönen Limburg ein. Die Arbeit auf dem Bau war eine Enttäuschung. Jeden Tag musste ich morgens um sechs oder manchmal sogar noch früher aufstehen, essen, anziehen und schnell zum Bus, der schon ungeduldig hupend vor dem Haus wartete. Oft saßen die älteren Verfuger schon im Bus, tranken Bier und rauchten ihre selbstgedrehten Kippen. Der Bus stank widerlich nach Alkohol, Rauch und altem Schweiß. Auf der Baustelle verschwanden die Verfuger dann erst einmal im Bauwagen und ließen mich mit einer ganzen Reihe von Aufträgen zurück. Zuerst musste ich den Mörtel anrühren, sechs Karren Sand, Zement, Wasser dazu, gut mischen und fertig. Dann rauf aufs Gerüst, den Arbeitsbereich zuerst mit einem Stein und anschließend mit einer Mischung aus Wasser und Salzsäure säubern. Zum Schluss den Mörtel hinaufbringen und den Verfugern Bescheid sagen, dass sie, wenn es nun beliebt, mit der Arbeit beginnen können… Wenn die Verfuger die ersten Meter fertighatten, musste ich hinterher, um die vertikalen Fugen zu füllen, zwischendurch Hals über Kopf wieder runter, neuen Mörtel anrühren. Nie konnte ich es ihnen recht machen.

 

Das bildschöne Mädchen, das ich kennengelernt hatte, hieß Scarlette und hatte einen französischen Nachnamen. Scarlette war auch fünfzehn, hatte lange, gewellte, blonde Haare und braune Augen, wieder der Catherine-Deneuve-Typ. Ihre Figur war nahezu perfekt, zierliche kleine Füße Größe 37, schlanke Waden und schöne Oberschenkel, einen schöngeformten Po mit zwei kleinen Champagnerkuhlen darüber und am Ende der Gesäßspalte kleine weiße Flaumhärchen. Wir waren beide noch Jungfrau, und an diesem Tag verloren wir unsere Unschuld. Lange hielt die Beziehung nicht, denn ich verwechselte Sex mit Liebe und Glück mit Geld. Ich hatte keine Erfahrung und wusste nichts von Intimität oder Hingabe, die Jagd machte mir mehr Spaß als der Besitz der Beute. Meistens waren es schöne Frauen, die hard to catch spielten, von denen ich mich herausgefordert fühlte, und so habe ich ganz ungewollt doch viele Herzen gebrochen. Aber auch ich verließ das Schlachtfeld nicht immer unversehrt. In schnellem Tempo folgte einer Freundin die nächste, bis ich eines Abends Esmeralda kennenlernte. Der Junge, mit dem ich unterwegs war, kannte sie und stellte uns einander vor. „Gerrit, das ist Esmeralda. Esmeralda, das ist Gerrit.“, so sagte Jacky. Esmeralda war dreiundzwanzig und ich fünfzehn. Wir unterhielten uns, und wie der Zufall so wollte, hatte sie um Mitternacht Geburtstag. Wir redeten, und ich ließ die Uhr nicht aus den Augen. Um Punkt 12 nahm ich zärtlich, aber resolut ihr Gesicht in meine Hände, schaute ihr in die Augen, sagte: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, küsste sie und schob ihr suchend meine Zunge tief in den Mund. Ganz kurz war sie verwirrt, aber dann küsste sie mich leidenschaftlich. An diesem Abend ging ich mit zu ihr, und zwei Tage später zog ich bei ihr ein. Eine Zeitlang habe ich noch gearbeitet, als ich schon bei ihr wohnte, und legt stolz meine 200 Gulden Lohn, für die ich so hart gearbeitet hatte, auf den Tisch. Esmeralda war es nicht wert, wie sich später herausstellen sollte, denn während ich arbeitete, lag sie zu Hause mit anderen Kerlen in unserem Bett und ließ sich durchficken. Auf der Baustelle bekam ich Krach mit ein paar Verfugern, die mich beschimpften, weil ich ihrer Ansicht nach nicht genug arbeitete. Nachdem ich sie als Alkoholiker und Schweinsköpfe beschimpfte hatte, packte ich meine Sachen und ging nach Hause.

Eines Abends stand Janus, mein Halbbruder, vor der Tür. Er hatte den Tipp bekommen, dass beim Postamt in Hoensbroek ein paar hunderttausend Gulden lägen. Der Tippgeber, ein Wohnwagenbewohner aus Heerlen, hatte es mit eigenen Augen gesehen. Janus fragte, ob ich mitmachen wollte; ich sollte nur den Wagen fahren. Die ganze Nacht hat er auf mich eingeredet, bis ich letztendlich sagte: „O.k., ich mach‘ mit.“ Am Morgen schickte ich meinen Schwager, der mich mit dem Baustellenbus abholen wollte, weg, denn mit ein paar hunderttausend Gulden in Aussicht brauchte ich nicht mehr arbeiten, so dachte ich. An einen Wagen, der eigentlich auf den Schrott sollte, montierten wir andere Nummernschilder und machten uns auf den Weg zum Postamt. Janus war schon dreimal vorbeigefahren, und ich fragte: „Worauf wartest du?“ Er wurde zusehends nervöser, und dann, nach kurzem Zögern: „Sollen wir es nicht lieber lassen und nach Hause fahren?“ Und nun traf ich eine Entscheidung, die mein restliches Leben im negativen Sinn beeinflussen sollte. Mit einer gewissen Verachtung schaute ich Janus an und sagte: „Du hast die ganze Nacht auf mich eingeredet, weil du das hier machen willst. Ich treffe die Entscheidung, mitzumachen, schicke den Bus weg, und jetzt machst du einen Rückzieher! Gib mir die Waffe, ich geh rein.“ Janus gab mir die Pistole. „Setz mich vor der Tür ab und warte dort mit laufendem Motor auf mich“, wies ich ihn an. Ohne Angst und ohne Herzklopfen ging ich in das Postamt. Außer mir und der Frau hinter dem Schalter war niemand da. „Guten Morgen“, begrüßte ich sie herzlich. „Guten Morgen“, antwortete sie freundlich. „Könnten Sie 25 Gulden wechseln?“, fragte ich. „Natürlich, kein Problem“, sagte sie und öffnete eine Aluminiumlade, in der ich das Geld von oben sehen konnte. Ich zog meine Waffe und hielt sie ihr vors Gesicht. „Her mit dem Geld. Alles!“ Weil ich es mit einem lachenden Gesicht sagte, dachte die Angestellte, ich machte Witze. Ich begriff, dass ich deutlicher werden musste. „Her mit der Kohle, du Schlampe.“ Jetzt klang ich grob und schnauzte sie an. Es tat mir leid, so gegen die arme Frau vorzugehen, denn sie war sehr nett, aber schließlich war ich gekommen, um ihr das Geld abzunehmen, und das ging nicht auf die sanfte Tour. Ich hätte auch sagen können: „Würden Sie mir bitte das Geld geben.“ Aber so funktioniert das natürlich nicht. Die Angestellte leerte die Lade, und ich steckte das Geld in meine Taschen. Weil ich so unerfahren war, legte ich meine Pistole auf den Tresen, damit ich die Hände frei hatte, um das Geld wegzustecken. Als ich alles verstaut hatte, rannte ich raus und sprang in den Wagen. Mit quietschenden Reifen fuhr Janus weg, nur haarscharf an einem parkenden Lieferwagen vorbei, was uns beide fast den Kopf kostete. Ich beschimpfte ihn als Idioten, und er solle gefälligst langsam fahren. „Relax, Mann, keiner verfolgt uns. Willst du dich für ein paar Kröten umbringen?“ Beim Camp angekommen, fuhr Janus den Wagen sofort bei einem Bekannten in die Schrottpresse. Anschließend fuhren wir zu dem Tippgeber, den ich nun zum ersten Mal sah. Ein kleiner, gedrungener Bartaffe, ungefähr 40 Jahre alt, der, obwohl er nichts getan hatte, sofort nach dem Geld fragte. Ich leerte den Inhalt meiner Taschen in ein Waschbecken, und es war eine riesige Enttäuschung. Alles kleine Scheine, Fünfer, Zehner und Fünfundzwanziger, es sah nach viel aus, aber als wir es gezählt hatten, war es nicht mehr als 6000 Gulden, und das geteilt durch drei… pfff. Von beiden bekam ich auch noch jede Menge Kommentare: „Du hättest dir den Tresor öffnen lassen müssen, du hättest dies und du hättest das…“ – „Du hättest wie verabredet selber reingehen sollen.“ – „Und jetzt seid still!“ Ich rief mir ein Taxi und fuhr nach Hause, nicht ahnend, dass dies vorläufig mein letztes freies Wochenende sein würde. Drei Tage später wurde ich verhaftet. Weil ich ohne Maskierung in das Postamt gegangen war, hatte mich die Angestellte sofort wiedererkannt, aber trotz des eindeutigen Beweises legte ich aus Dickköpfigkeit kein Geständnis ab. Niemals gestehen war mein Motto; gestehen kam einer Bitte um Bestrafung gleich. Weil Esmeralda ausgesagt hatte, dass ich am Wochenende mit Janus unterwegs gewesen war, wurde auch er verhaftet. Beweise gab es nicht, keiner hatte ihn gesehen, und ich hatte kein Wort gesagt. Wenn er sein Maul gehalten hätte, wäre er nach vier Tagen wieder draußen gewesen. Die Kripo hatte uns beide zum Verhör aufs Revier gebracht. Zusammen saßen wir gemütlich mit einem Kaffee vor dem Schreibtisch des Beamten, als Janus das Wort ergriff. Und ich traute kaum meinen Ohren. „Gerrit, du musst ein Geständnis ablegen, die wissen eh, dass du es warst. Aber die denken, dass ich auch dabei war. Du musst sagen, wer wirklich bei dir war!“ Verständnislos schaute ich ihn an. Der Beamte schaute gespannt von Janus zu mir. „Du weißt doch“, redete er weiter und rieb sich das Kinn, „der mit dem Bart.“ Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, es wäre mir auch nie in den Sinn gekommen! Er erwartete also, dass ich ein Geständnis ablegte, den Bärtigen beschuldigte, wodurch seine Unschuld bestätigt war und er ungeschoren davon kam! Typisch Janus – mieses Schwein. Dem Beamten sagte ich: „O.k., fangen Sie an zu schreiben. Ich habe den Überfall begangen, aber er da“ und zeigte dabei auf Janus, „hat den Fluchtwagen gefahren!“ Hätte Janus seinen Mund gehalten, wäre die ganze Sache für ihn straffrei ausgegangen.

Die Arrestzellen lagen auf der zweiten Etage des Polizeibüros, ein langer Gang mit Zellen an beiden Seiten und einem ca. 120 cm hohen Schrank in der Mitte über die gesamte Länge. Um auch Personen mit einer Phobie gegen geschlossene Räume unterbringen zu können, gab es eine Zelle mit einer gläsernen Tür. Als ich hinaufgebracht wurde, sah ich dort im Vorbeigehen eine blonde Frau in der Ausnüchterungszelle sitzen. Durch den Schrank in der Mitte von ihr getrennt, schloss man mich in die Zelle direkt gegenüber ein.

Unser Essen wurde mit einer Abdeckung aus Metall serviert, die ich benutzte, um eine Schraube aus der Freisprechanlage zu montieren. Aus dem Verhörraum hatte ich ein Gummiband mitgenommen, das ich an der Schraube befestigte. Damit schoss ich den Spion meiner Tür kaputt, pulte das Glas heraus und rief der Frau zu: „Hey, ich kann dich sehen!“ Sie glaubte mir nicht, und deshalb rief ich: „Halte ein paar Finger hoch.“ Fehlerfrei nannte ich ihr die Anzahl der gezeigten Finger, und als sie überzeugt war, rief ich: „Zeig mir deine Titten!“ – „Idiot, du hast sie doch nicht alle, ich habe einen Freund.“, rief sie zurück. Gleichzeitig legte sie ihren Zeigefinger auf den Mund, um mir verständlich zu machen, dass ich still sein solle. Sie öffnete ihren Overall, und heraus quollen ein paar gewaltig große Titten mit großen rosafarbenen Nippeln. Natürlich wollte ich mehr und sagte: „Über dir befindet sich ein Gitter, zieh dich daran hoch.“ Sie verstand sofort, was ich wollte, ließ ihren Overall fallen und zog sich splitternackt an dem Gitter hoch. Ganz uncharmant stemmte sie ihre viel zu großen Füße gegen die Glastür und gönnte mir die Aussicht auf ihre dichtbehaarte Weiblichkeit. Dort blieb sie gerade lang genug hängen, damit ich mein eigenes Geschäft erledigen konnte. Als ich fertig war, musste ich lauthals lachen. „Wieso lachst du?“, fragte mein Nachbar. Ich nannte ihm den Grund, legte das Gummiband für ihn zurecht, und in den kommenden Tagen lachten wir zusammen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen alten Bekannten. Freek, der es bei der Sache mit dem Käfer und dem Knie für meine Mutter aufnehmen wollte. Später erzählte er meiner Mutter, dass er noch nie im Leben so viel Spaß in der Zelle auf dem Polizeirevier gehabt hatte!

Wieder musste ich an Janus denken. Hätte er nur seinen Mund gehalten! Nun hatten wir beide ein Ticket ohne Rückfahrt für die U-Haftanstalt Maastricht, in der wir bis zur Gerichtsverhandlung bleiben würden. Das Prozedere verläuft so, dass nach dreimal 30 Tagen Haft die Verhandlung stattfindet. Der Staatsanwalt verliest die Anklageschrift und hält sein Plädoyer. Im Anschluss daran erfolgt nach einer Frist von 40 Tagen der Urteilsspruch des Richters. Ich war nun schon das zweite Mal in Haft, saß aber immer noch in der Zelle auf dem Revier. Das erste Mal wegen der Sache mit dem Juwelier und jetzt das. Ich nahm es gelassen, das Essen war ganz gut, und ich schlief viel. Dann brachte mich der Gefangenentransportbus in die U-Haftanstalt Maastricht. Es war das erste Mal, dass ich in ein richtiges Gefängnis kam, und ich war schwer beeindruckt. Die U-Haftanstalt Maastricht war ein modernes Gebäude, wie ein Hochhaus, und hatte neun Etagen. Mit unserem Bus fuhren wir in das vollautomatische Schleusensystem, bei der die zweite massive Stahltür sich erst öffnete, wenn die erste geschlossen war, und überall hingen Kameras und Stacheldraht. Alles war super gesichert. Neugierig wartete ich, was passieren würde. Einer nach dem anderen wurden wir aus dem Bus heraus in eine kleine Zelle gelotst, von dort aus weiter zum Bademeister, bei dem wir uns ausziehen mussten und alles gründlich nach Waffen und Drogen durchsucht wurde. Ich bekam einen Plastikkorb mit Wäsche. und unter Aufsicht führte man mich in einen großen Aufzug. Die Türen wurden von außen verschlossen, und so rauschte ich wie Fisch in Dose zum Pavillon Nummer 6. Die Pavillons 6 und 7 waren die Abteilungen für die Neuzugänge. Nach einer 14-tägigen Beobachtungsdauer sollte ich von hier aus in die für mich am besten geeignete Abteilung wechseln. Ich bekam eine Zelle zugewiesen. „Mach dein Bett. Ich komme später wieder für ein Aufnahmegespräch.“, brummte der Wärter gefühllos. Klack, klack, die Tür wurde verschlossen, und da stand ich mit meinem gelben Wäschekorb aus Plastik. Ich sah mich um, und detailliert nahm ich die Zelle in mich auf. Es war ein ziemlich neues Gebäude und entsprach so gar nicht dem, was ich eigentlich erwartet hatte. Das hier ähnelte eher einem Hotelzimmer. Ich hatte ein Fenster, ca. 1 m², mit richtigen Gardinen. Die Aussicht war genial, und in der Ferne sah ich das Stadtzentrum von Maastricht. Unten beobachtete ich einige Häftlinge bei ihrem täglichen Hofgang. An der Wand hing eine Freisprechanlage für den Fall, dass man einen Wärter brauchte. Außerdem zwei Radiosender mit akzeptablem Klang und last but not least meine eigene Toilette mit einem kleinen Waschbecken, ein Einzelbett, ein Tisch mit zwei Stühlen, von denen einer zum Essen und der andere als bequemer Stuhl gedacht war, ein Wäscheschrank und ein Hängeschrank, ein Mülleimer, Kehrblech mit Feger und ein Aufnehmer. Die Stahltür hatte ein Guckloch, ca. 10 x 10 cm groß. Ich machte mein Bett und setzte mich an den Tisch. Gedankenverloren starrte ich aus dem Fenster, es war 1980, und vor ein paar Monaten war ich 16 Jahre alt geworden… Klack, klack, die Tür wurde so abrupt geöffnet, dass ich erschrak. Ja, daran musste ich mich erst gewöhnen. Mit einem dicken Stapel Unterlagen in der Hand kam der Wärter herein, setzte sich und fing an, seine routinemäßige Litanei über das Wie und Was in der Anstalt runterzubeten. Er überreichte mir ein Heft mit Regeln, an die ich mich zu halten hatte. Die seltsamste Regel war, dass ich morgens um 7 Uhr geweckt wurde. Um 8 Uhr sollte ich angezogen meinen Kaffee oder Tee mit Brot in Empfang nehmen. „Und dann?“, fragte ich. „Und dann nichts. Du wartest, bis es Abend wird, um 20 Uhr darfst du dich dann wieder schlafen legen.“ Man durfte also den ganzen Tag nicht auf dem Bett liegen! Ob ich alles verstanden hätte, und wenn nicht, durfte ich jederzeit nachfragen. „Versuch das Beste daraus zu machen, Junge.“ Klack, klack, und weg war er. Damals schlief ich noch wie ein Bär; sobald ich meinen Kopf auf das Kissen legte, war ich eingeschlafen.

 

Tag 1, sieben Uhr, klack, klack… die Tür ging auf, und gleich zu dritt standen sie vor meiner Tür. „Guten Morgen!“ Nun wurde von mir erwartet, dass ich aufstand, aber stattdessen blieb ich liegen und schlief wieder ein. Um acht Uhr standen sie wieder vor meiner Tür. „Hey, was ist das denn?“ – „Wie, was ist das?“, gab ich zurück. „Los, aufstehen. Das ist ein Regelverstoß, um 8 Uhr muss das Bett gemacht sein!“ „Ja. und dann“, sagte ich „vorläufig gehe ich nirgendwo hin, und was Besseres zu tun habe ich auch nicht, muss ich den ganzen Tag auf dem Stuhl sitzen und warten, bis es 8 Uhr abends ist?“ – „Ja, genau“, sagte einer der Wärter. „Setz dich doch selber auf den Stuhl, du Idiot“, dachte ich, und kaum hatte er sich umgedreht, war ich schon wieder eingeschlafen. 10 Uhr, klack, klack. „Wie, du liegst immer noch im Bett, raus jetzt oder du bekommst einen Rapport.“ – „Ein Rapport, werde ich dann auch versetzt?“, fragte ich scherzend. In der Schule hatte ich nie einen Rapport bekommen, aber hier sollten Rapports am laufenden Meter für mich geschrieben werden. Jeder Regelverstoß wurde rapportiert, anschließend musste man zum Direktor, der dann eine Disziplinarstrafe verhängte. Das Maximum waren 14 Tage in der Isolierzelle. Die Isolierzelle war ein ca. 3,5 x 2,5 Meter großer Raum, in einer Ecke hing festzementiert an der Wand eine Toilette aus rostfreiem Stahl, außerdem gab es zwei schmale, kugelsichere Fenster mit doppelter Isolation. Die Decke des Raums war eine Stahlplatte mit vielen kleinen Löchern, die, wenn ich auf dem Rücken lag, vor meinen Augen ineinander verschwammen. Dort herrschte absolute Stille; kein einziger Laut von außen drang hinein. Es dauerte nicht lange, bis die Strafzellen mein Zuhause wurden. Meine ganze Jugend sollte ich hier verbringen, mich selber verlieren in dieser Stille, und Jahre später würde ich mich auch genau in dieser Stille wiederfinden. Es dauerte nicht lange, und ich geriet mit den Wärtern aneinander. Noch nie in meinem Leben hatte mir jemand Vorschriften gemacht, und hier in dieser Anstalt wurde jede Minute von Regeln diktiert. Das gefiel mir natürlich gar nicht, und das wiederum führte zu ständigen Konflikten mit den Wärtern. Ich war ein 16-jähriger Rotzlöffel und hatte keinerlei Respekt vor Autorität, aber das würde man mir hier wohl oder übel schon beibringen. „Ihr hirnamputierten Volltrottel könnt mich doch allemal kreuzweise“, dachte ich. „Wir werden noch sehen, wer hier den längeren Atem hat.“ Der Ton war gesetzt und der Ärger vorprogrammiert. Es dauerte keine Woche, und ich bekam den ersten Rapport. Ich hatte unerlaubt auf dem Bett gelegen und das Personal beleidigt. Man brachte mich zum Direktor, was mich aber auch nicht beeindruckte.