Schatten über Fehmarn

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Schatten über Fehmarn
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Schatten über Fehmarn

1  Titelseite

2  Impressum

3  Kapitel 1

4  Kapitel 2

5  Kapitel 3

6  Kapitel 4

7  Kapitel 5

8  Kapitel 6

9  Kapitel 7

10  Kapitel 8

11  Kapitel 9

12  Kapitel 10

13  Kapitel 11

14  Kapitel 12

15  Kapitel 13

16  Kapitel 14

17  Kapitel 15

18  Kapitel 16

19  Kapitel 17

20  Kapitel 18

21  Kapitel 19

22  Kapitel 20

23  Kapitel 21

24  Kapitel 22

25  Kapitel 23

26  Kapitel 24

27  Nachwort

28  Über die Autorin

29  Die Olivia Lawrence-Fälle

Titelseite

Gerda M. Neumann

Schatten über Fehmarn

Olivias vierter Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.

»Schatten über Fehmarn« erschien zuerst 2014 im Prospero Verlag, Münster & Berlin.

Satz: Eleonore Neumann.

Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.

Bild: Reiner Binkowski

www.epubli.de

Verlag: Gerda Neumann

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Olivia, schau! Siehst du da vorn die beiden Stahlbögen? Direkt in den Himmel… nein, sie beschreiben eine Kurve, neigen sich wieder nach unten… gleich einem Regenbogen…«

Olivia schaute durch die Windschutzscheibe und summte leise – wie als Antwort. Amanda horchte auf und begann nach kurzem Zögern zu singen »Somewhere over the rainbow… Way up high… hmm… dreams… hmm… Once in an lullaby…« sie seufzte lautlos. »…once in a lullaby… der Bogen neigt sich für eine geschenkte Spanne Zeit zurück in die Kindheit.« Sie schüttelte ihre langen Locken: »Olivia, da hinter den Bögen, die eigentlich zur Sundbrücke gehören, liegt Fehmarn!«

Olivia lachte. Seit Tagen, im Grunde seit Wochen, seit Amanda an die Tür ihres kleinen Hauses in London geklopft hatte, geisterte der Name dieser Insel wie ein Sesam-öffne-dich durch ihre Gespräche. Damals hatte die Freundin sie eingeladen, mit ihr auf die ferne Ostseeinsel zu fahren.

Amanda sang noch einmal leise den Liedanfang, bevor sie fortfuhr: »Fehmarn, für mich bedeutet das Sommerglück: Meer, Wind, Sonne…« sie seufzte schon wieder, dieses Mal nur fast unhörbar, »…und wundervoller weißer Sand, so viel du willst. Du kannst dich in ihn einbuddeln, du kannst mit nackten Füßen durch die sonnengewärmte Fülle schlurren wie durch Herbstlaub im Park – da trägt man dann allerdings Schuhe. Der Sand jedenfalls rieselt weich und warm seitlich an den Füßen nach hinten. Die werden schließlich so schwer, dass du nachgibst und selber hinuntergleitest. Du streckst dich aus auf dem warmen Sand und schließt die Augen. Und dann beginnen die Hände von allein wieder mit dieser warmen Formlosigkeit zu spielen, sie aufzuheben und durch die Finger rieseln zu lassen, bis der Wind sie wie eine leichte Fahne davonträgt. Ach, du wirst sehen, wie schön es dort ist.«

Inzwischen trat das Land seitlich zurück. Olivia war, als würde es nicht nur nach hinten sinken, sondern auch nach unten. Das schien die Freundin nicht zu empfinden, sie drängte nach vorn. »Jetzt sind wir über dem Meer! Und vor uns – siehst du das grüne Land? Das ist Fehmarn!« Amanda atmete tief durch. »Es ist so leuchtend grün wie es immer war, ganz als hätten wir Sommer und nicht Anfang Oktober.«

In der Tat sah Olivia grün: Land, soweit das Auge blicken konnte, jedenfalls solange man seitlich nach vorn sah. Auf alle Fälle in genügender Menge, um wieder festen Grund unter den Füßen zu gewinnen, und so flach, dass man das umgebende Meer doch keinen Moment vergaß. Dagegen hatten die Fehmaraner Bäume gepflanzt, konstatierte sie dankbar, schon vor Generationen. Eine alte Pappelallee nahm sie auf, schmal und hochaufragend.

Langsam steuerte Amanda ihren Wagen die gewundene Straße entlang: »Acht Kilometer ungefähr, hat Alexander gesagt, dann kommt ein Kreisel. Das ist nicht so lang, Kilometer sind keine englischen Meilen.«

»Nein, bei weitem nicht, du bist jetzt auf dem Kontinent. Zumindest alle Längen und Gewichte sind hier anders als daheim in England.«

»Das mit den Maßen stimmt. Aber den Kontinent haben wir schon wieder verlassen. Zumindest für die Fehmaraner ist ihre Insel ein eigener, der sechste Kontinent. Wenn sie aufs Festland fahren, sagen sie genau wie wir ›Wir fahren nach Europa.‹ Hier kommt der Kreisel, wir sollen geradeaus weiterfahren bis zum Ende der Straße.« Amanda hielt sich an die Anweisung ihres Freundes und rollte langsam in das kleine Städtchen, bis es geradeaus nicht mehr weiterging. »Schau links, die dicke, dicke rote Kirche!« Sie bog ab und rollte genauso langsam weiter: »Hier sieht es auch aus wie immer! Ich rechne es ja nicht gern vor, aber dennoch ist ein Viertel Jahrhundert vergangen, seit ich mit meinen Eltern hier die Sommer verbrachte. Im ganzen waren es vier – vier lange sonnige Sommer am Sand, im Sand, auf dem Sand und im Wasser. Ist es nicht schön?«

Vor Olivias Blick erstreckte sich eine breite kopfsteingepflasterte Straße und wieder alte Bäume auf beiden Seiten, hinter denen rechts und links kleine alte Häuser standen, weißgestrichene oder rote, mit kleinen Fenstern und grünen Türen. Sie sah letzte Rosen an einigen Hauswänden aufgebunden blühen. Ja, es gefiel ihr und sie sagte es auch. Amanda war unterdessen der Wegbeschreibung Alexanders folgend weitergefahren und weiter abgebogen und hielt nun vor einem weißen Haus mit blauer Tür und blauen Fensterrahmen. In dieser Straße standen hohe alte Linden, fast zu Säulen zurückgeschnitten, aber dank des leuchtend gelben Herbstlaubes doch Bäume.

Auf Amandas Klingeln hin öffnete sich die schwere blaue Tür und eine stattliche Frau mit kurzen braunen Haaren und lebhaften Augen streckte ihnen einladend die Hände entgegen. »Kommen Sie herein! Sie können gern Englisch mit mir reden, solange ich Ihnen auf Deutsch antworten darf. Wird das gehen? Ich bin Frau Nüßler.«

Sie traten in die Diele, ein flüchtiger Blick rundum zeigte ihnen weiße Wände, einen weißen Fußboden und ein weißgestrichenes Treppengeländer, der Teppich auf der Treppe war blau. Und Bilder, meist in hellen, oft heiteren Farben: Blumen, das Meer, der Strand und die dicke, dicke Kirche, an der sie vorbeigefahren waren.

Da Olivia sich umschaute, blieb Amanda nicht erspart, ihrerseits auf die herzliche Begrüßung zu antworten: »Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Amanda Cranfield. Ich habe in der Schule ungern Deutsch gelernt, um so lieber in den Sommern hier auf Fehmarn. So weit es möglich ist, werde ich in Ihrer Sprache zu reden versuchen. Das ist,« sie fasste Olivia leicht am Arm und erreichte, dass diese mit einem verschmitzten Lächeln die Füße nebeneinander stellte und sich leicht vor Frau Nüßler verbeugte, »das ist meine Freundin Olivia Lawrence. Sie ist nur zur Hälfte Engländerin, ihre Mutter ist Österreicherin und dort spricht man, glaube ich, auch eine Art Deutsch.« Frau Nüßler lachte und griff nach Olivias nun ausgestreckter Hand. Die war aus dem weiten Ärmel eines großen, dunkelgrünen Rollkragenpullovers zum Vorschein gekommen. Dazu trug sie wie fast immer eine schmale, schwarze Hose und Ballerinas – ohne Schleifen. Schleifen waren an Olivia undenkbar, nicht nur auf den Schuhen. Umstandslos ging Frau Nüßler ihnen voran die blaue Treppe hinauf und zeigte ihnen ihre Wohnung. Mit der einladenden Aufforderung, jederzeit unten bei ihr anzuklopfen, verließ sie ihre Gäste.

Die Freundinnen sanken in die schweren Sessel und fühlten sich recht behaglich. Gelb und weiß waren die Farben des Wohnzimmers, dazu helles Holz mit mehreren Metern Büchern auf den offenen Brettern, vor einem der beiden Fenster ein gewaltiger Flaschenbaum und Bilder an den Wänden in der gleichen leichten Farbigkeit wie unten in der Diele. Olivia betrachtete sie nachdenklich: »Sie sind auf eine unprätentiöse Weise schön, nicht wahr? Wer sie wohl gemalt hat?«

 

Amanda drehte sich nach dem Strand über ihrem Kopf um: »Keine Signatur. Vielleicht hat Frau Nüßler sie gemalt, an langen dunklen Winterabenden, wenn draußen der Sturm tobt und den Regen gegen die Scheiben treibt… Im Winter möchte ich, glaube ich, nicht hier leben.«

»Obwohl wir alles haben, was man für einen längeren Aufenthalt braucht: diesen Wohnraum, spürst du den dicken Teppich unter deinen Füßen? Ein Schlafzimmer – so groß, dass ich darin Handstandüberschlag machen kann, wenn mich der Wunsch danach überfallen sollte, ein Bad, in dem zu allem Überfluss auch noch eine Waschmaschine steht, und eine Küche, in der man vermutlich ein vollständiges Mahl zubereiten könnte. Sie wirkt jedenfalls sehr vollständig und irgendetwas muss ja hinter den vielen Türen sein. Um das Glück komplett zu machen, bin ich so klein, dass ich beim Kochen mit der Schräge über der Arbeitsfläche auch nicht in Konflikt käme. Es lässt sich gut aushalten hier,« schloss sie die Bestandsaufnahme.

»Wir sind in Burg auf Fehmarn!« Amanda sprang auf. »Im Moment fühle ich mich, als würde mir die ganze Welt gehören.«

»Vermutlich fühlt man sich so, wenn einem für einen glücklichen Augenblick die Kindheit zurückgegeben wurde. Was möchtest du mit diesem Glück beginnen?«

Amandas Augen wanderten aus dem Fenster und zwischen den gelben Lindenblättern hindurch ins Weite. »Lass uns eine Runde um den Marktplatz drehen. Dabei kann ich meine Erinnerung spazieren führen und wir können Fischbrötchen kaufen, viele und verschiedene. Wenn deine hausfraulichen Gefühle draußen im frischen Wind andauern, könnten wir Kaffee kaufen und du kochst ihn dann. Starker heißer Kaffee gehört unbedingt zu Fischbrötchen, eigentlich mit Sahne und einem Schuss Rum, aber letzteres ist vielleicht unklug – wir wollen mit dem Tag ja noch mehr machen. Komm!«

So spazierte Olivia Lawrence aus Fulham, einem friedlichen Londoner Stadtteil an der Themse, durch das noch viel friedlichere Burg. Die Breite Straße hieß nicht nur so, sie war es auch. Sie gingen auf der Seite mit dem hohen Gehsteig, der hinter den Bäumen mit einer an die vier Meter breiten Schräge zu Straßenmitte abfiel. ›Ich komme mir vor wie auf einem Deich‹, stellte Olivia bei sich fest, ›und die Steine, die die Schräge halten, sind sicherlich vom Meer so rund gewaschen, am Strand gesammelt und hier dicht an dicht wie Kopfsteinpflaster aufgebracht – völlig unbrauchbar, um darauf zu gehen. Weder auf diesen kleinen Buckeln noch auf den Grashängen der Deiche draußen am Strand sollte man gehen, so ist das wohl, das dürfen nur die Schafe und übermütige Kinder.‹

»Olivia,« unterbrach Amanda ihr schweigendes Erinnern und die Gedanken der Freundin, »der Himmel ist so blau und der Wind so weich und wir haben noch fast einen halben Tag für uns,« sie blieb stehen und deutete mit einer leichten Kopfbewegung nach rechts, »hier in diesem Hotel treffen wir uns heute Abend mit Alexander. Ich nehme mal an, er bringt seine beiden Malerfreunde auch mit. Wir wissen jetzt, dass wir bei zügigem Tempo vermutlich fünf bis sieben Minuten von unserer Wohnung bis hierher brauchen statt einer halben Stunde wie jetzt. Lass uns die Ortsbesichtigung abbrechen, alles notwendige zum Essen kaufen, dazu eine Landkarte. Und während du dich in unserer Küche einlebst und Kaffee kochst, stelle ich eine Inselrundfahrt zusammen.«

Das sagte sich so dahin. Amanda kniete eine weitere halbe Stunde später auf dem weichen Teppich, die Arme auf den Wohnzimmertisch aufgestützt und ließ ihre Augen über die Dörfer und die Küstenlinien laufen. Je länger sie das betrieb, desto mehr gerieten ihre Erinnerungen mit jenen Ortsnamen und Stränden in Konflikt, die sie vergessen hatte. Etwas weniger unternehmungslustig biss sie schließlich in das erste Fischbrötchen.

Als das Schweigen anhielt, machte Olivia behutsam einen Vorschlag: »Wir sollten zuallererst an den Sandstrand fahren. Wo ist er?«

»Ganz nah. Im Süden der Insel.«

»Wunderbar. Wir können dort einen Strandspaziergang machen oder aber, wenn dir das dann besser gefällt, ein Küstenstück im Osten, im Norden und zuletzt im Westen aufsuchen und uns immer vorstellen, was hinter dem Wasser liegt.«

»Das ist gut! Das machen wir.«

Weit streckte sich das Land rechts und links der Straße. Amanda steuerte ihr dunkelbraunes Mercedes-Cabriolet langsam voran, was nicht häufig vorkam.

»Schau mal, da links hinten fährt ein Auto am Horizont…« Olivia war geneigt, das, was sie gerade sah, für einen Taschenspielertrick zu halten.

»Warum nicht, da verläuft sicher die nächste Straße.«

»Wenn du das sagst… Es ist wirklich ein flaches Land. Das nächste Dorf heißt Neue Tiefe. Richtig wohnlich klingt das in meinen Ohren nicht.« Häuser tauchten auf und waren vorbei. »War das alles?« erkundigte Olivia sich überrascht.

»Ja, alles. Was erwartest du? Fehmarn hat zweiundvierzig Dörfer. Wenn man die Einwohner von Burg abzieht, bleiben ungefähr achttausend Leute dafür übrig. Wenn du’s mit Arithmetik versuchst, wirst du rasch einsehen, was du erwarten darfst.«

Sie fuhren bereits wieder auf einem Damm. Links der Straße grasten Pferde auf Weidestücken, die wie Halbinseln ins Wasser ragten, so weit hinaus und so hinein verflochten, dass es Süßwasser sein musste, sonst würden die Pferde das Gras nicht fressen. Irgendwie beruhigte dieser Gedanke Olivia. Rechts waren ernstere Mengen Wasser zu sehen. Sie kamen erneut zwischen Häuser, ziemlich viele sogar und drei Hochhäuser. Amanda parkte ein und stieg aus. »Im Sommer gibt es hier mehr Touristen, oder Badegäste – ein schönes deutsches Wort, nicht wahr? – als Einheimische, jedenfalls hier in Burgtiefe. Komm!«

»Der Strand! Da vorn! Weißer weicher Sand, so weit du sehen kannst…« Amanda verstummte. Zügig ging sie den befestigten Strandweg entlang bis zum nächsten Holzsteg. Er führte zwischen Dünen hindurch und endlich ganz direkt in den Sand.

Olivia blieb ein wenig zurück und ließ die harten schmalen Blätter des Strandhafers durch ihre Finger gleiten. Gräser gefielen ihr, wo immer sie wuchsen und hier am Meer, wo sie das Land gegen Wasser und Sturm verteidigten, empfand sie so etwas wie Respekt vor der Lebenskraft und Durchhaltefähigkeit der Pflanzen. Schließlich ging auch sie weiter vor, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ ihn ganz langsam durch die Finger rieseln. Das wiederholte sie wieder und wieder. Beide Hände griffen in die weiche Fülle und boten sie dem leichten Wind zum Spiel an. »Deine Erinnerung hat Recht, dieser Sand ist perfekt. Ich wüsste nicht, wo man an Englands langen Küsten so etwas finden könnte.«

Das war das größte Kompliment, das Olivia Fehmarn machen konnte, Amanda wusste das und freute sich. »Schau,« rief sie und streckte beide Arme aus, »wie weit du laufen kannst und der Sand hört nicht auf.«

»Sollen wir? Nach rechts oder nach links?«

Nachdenklich und prüfend schaute Amanda in beide Richtungen und dann aufs Meer hinaus. »Ich vermute, beides nicht…«

»Geradeaus ins Wasser hineinzuspazieren, wäre mir zu nass… Ist die graue Linie dort am Horizont Land?«

»Ja, das ist Mecklenburg. Ich glaube, dein Vorschlag von den vier Himmelsrichtungen entspricht meiner lästigen Unrast mehr als ein Strandspaziergang, selbst eine herzhafte Wanderung würde mich nur unruhig machen. Wie blödsinnig man sein kann! Also: auf nach Osten!« Sie ließen noch manche Handvoll Sand durch die Finger gleiten, während sie zum Holzsteg zurückgingen.

Trotz ihrer Unruhe steuerte Amanda langsam über die schmalen Straßen. Beide schauten über das weite Land. Viele Feldränder wurden von Kopfweiden gesäumt. Mit ihrem Herbstlaub standen sie wie durchsichtig in der flachen Weite. Zwischendurch tauchte Burg am Horizont auf. Die sturmtrotzende Kirche überragte die roten Dächer wie eine Festung. Wieder war ein Dorf zu Ende und eine Straße dehnte sich vor ihnen, bis erneut eine Lindenallee sie aufnahm.

»Dieses Land ist so flach, dass ich den Bäumen für ihren Schutz richtig dankbar bin,« stellte Olivia fest. »Eigentlich verstehe ich nicht, warum das Meer nicht einfach darüber hin braust, zumindest in einer Sturmnacht.«

»Die letzte Sturmflut liegt hundertfünfzig Jahre zurück. Warum soll das Wasser auf das Land fließen, wenn es einfacher darum herum strömen kann?«

»Weil das Land so flach ist!«

»Das Land, aber nicht die Küste. Gleich wirst du staunen.«

Sie gingen auf einen schmalen Waldstreifen zu. Amanda bestand auf dem Titel ›Wald‹, Olivia hätte sich eher für ›Hain‹ entschieden, schließlich sah man zwischen den Stämmen hindurch das Meer. Und dann war sie wirklich überrascht. Ein Pfad wand sich zwischen den Bäumen nach unten, er führte unbestreitbar abwärts. Sie traten ins Freie auf ein steiniges Stück Land hinaus. Dahinter lag das Wasser. Mit leisen glucksenden Geräuschen schlug es gegen die Steine, zog sich zurück und kam wieder, ohne Pause und ohne Hektik, beruhigend und freundlich. Sie gingen zwischen Land und Wasser dahin. Olivia schaute zu den Bäumen hinauf, sie standen zehn, wohl auch zwölf Meter über ihr. »Eine richtige Steilküste – die Überraschung ist dir gelungen!«

»Ja, nicht wahr?« Amanda löste den Blick vom Land und wandte sich zum Wasser. »Dieses Mal siehst du kein Land am Horizont, vor dir liegt die freie Ostsee, frei bis hinüber nach Riga und St. Petersburg. Die weite Welt der Hanse, wenn du gerade Lust haben solltest, dir große Segelschiffe und alte Hafenstädte vorzustellen… Und hinter dir eine Steilwand, die sich den Winterstürmen entgegenstellt. Gar so ausgesetzt, wie du zu glauben scheinst, ist diese Insel gar nicht.«

Auf dem Rückweg nahm Olivia den ein oder anderen Stein auf und drehte ihn in der Hand. »Hier könnten die Straßenbauer von Burg ihre Steine gesammelt haben, es gibt genug davon. Baden kann man hier allerdings weniger, oder?«

»Nein, deswegen ist es hier auch im Sommer ziemlich leer, und zum Wandern ziemlich schön. Manchmal sieht man Angler, sie stehen sogar im Wasser, so flach läuft das Land hier unter die Meeresoberfläche.«

»Für Schiffslandungen gänzlich ungeeignet… Eigentlich schade, als Kulisse für Seeräuber könnte ich es mir ganz gut vorstellen.«

Die Karte und ihr Kompass lenkten sie weiter nach Norden. Dieses Mal standen sie auf einem Deich. Dass die Insulaner eine solche Schutzmaßnahme für notwendig gehalten hatten, wertete Olivia als einen erleichternd menschlichen Zug an ihnen. Der Strand vor ihr war eine Mischung aus Sand, Steinen und Algen, und hinter dem Wasser sah man wieder Land, deutlich näher als Mecklenburg.

»Das ist Dänemark, die Insel Lolland. Es gibt den Plan zu einer Brücke zwischen hier und drüben… Die Leute streiten über…« Amanda verstand ganz plötzlich, was der Sonnenstand ihr mitteilte. »Das ist jetzt gleichgültig. Lass uns weiterfahren. Da wir nun mal dabei sind, möchte ich dir auch die Westküste zeigen und das Licht schwindet ähnlich wie der Sand zwischen den Fingern. Ganz klein ist Fehmarn eben doch nicht. Beruhigend?«

»Schon irgendwie. Dieses Burgtiefe auf Sand ins Wasser gebaut weckt den Bergbauern in mir, der Wasser lieber trinkt als hineingerät.«

Der Deich schützte die Insel auch im Westen. Hier grasten sogar Schafe auf ihm und landeinwärts wuchsen in seinem Windschatten niedrige Kiefern. Endlich zeigten sich wieder kleine Kobolde in Olivias Augenwinkeln: »Fehmarn wird nicht untergehen, ich sehe es jetzt selbst – wozu gehören die weißen Häuserblocks dort am anderen Ufer?« Ihr ausgestreckter Arm wies nach Süden.

»Das muss noch Heiligenhafen sein, also das Festland von Schleswig-Holstein. Und wenn du dir eine gerade Linie etwas rechts an der untergehenden Sonne vorbei denkst, triffst du auf Angeln, ein hügeliges Stück von Schleswig-Holstein und die Heimat jener Abenteurer, die in tiefer Vergangenheit aufbrachen, England zu besiedeln.«

»Die Angelsachsen… Amanda, ich beginne allmählich den Namen der Skulptur zu verstehen, die dein Freund für diese Insel geschaffen hat: ›Fehmarn, eine Brücke in Europa‹, ein Denkmal in des Wortes engster Bedeutung: Denk mal – darüber nach. Auf die vielen Steinblöcke voller Namen, die überall in Dörfern und Städten aufgestellt sind, trifft diese Bezeichnung weniger zu, sie müssten Erinnerungsmale heißen, die präzise Übersetzung des englischen ›memorial‹.

 

»Apropos England. Auf der Rückfahrt muss ich dir noch eine Geschichte erzählen.« Während sie auf Burg zufuhren und in ihrem Rücken die Sonne unterging, begann Amanda: »Spring in Gedanken zurück in die Jahre 1945/46. In London tagt eine Konferenz, um das besiegte Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, neunzehn Monate lang. Dabei hätten es zwei weniger werden können, aber der russische Botschafter hatte sich an Fehmarn festgebissen. Die Kornkammer in der Ostsee wollte er auch noch haben. Doch der englische Unterhändler erkannte Fehmarns strategische Lage: Die Russen hätten sich weit in den Nordwesten bis vor die Küste Dänemarks geschoben. Das wog noch schwerer als das Getreide. Und Lord Strang führte die Geschichte ins Feld: Seit Jahrhunderten gehörte Fehmarn zum Norden, mal zu Dänemark, dann zu Holstein, immer abwechselnd, aber niemals zu Mecklenburg. Er blieb stur, obwohl die britische Regierung ihm freie Hand gegeben hatte. Und eines schönen Tages ließ der russische Botschafter seine Forderung fallen, als wäre sie nie ernst gemeint gewesen. Fehmarn verdankt Lord Strang zweiundvierzig Jahre in Freiheit! Auch wenn die Insulaner selbst diese Tatsache erst fünfzehn Jahre später herausfanden.«

»Genau genommen verdankst du diesem Diplomaten die schönsten Sommerferien deiner Kindheit,« spann Olivia die Geschichte fort.

»Du wirst lachen, das ist nicht einmal nur Zufall. Er gehört in die weitläufige Verwandtschaft meines Vaters. Der war damals noch sehr jung, aber da sich das diplomatische Leben von William Strang eineinhalb Jahre nur um Deutschland drehte und davon zwei Monate ausschließlich um Fehmarn, sprach er im privaten Kreise ebenfalls davon und im Kopf meines Vaters setzte der Name sich so fest, dass er Mutter und mich mitnahm, als ihn dreißig Jahre später eine Geschäftsreise nach Hamburg führte. Im Anschluss an eine Woche Stadtbesichtigung verbrachten wir unsere Sommerfrische – noch so ein anschauliches deutsches Wort – das erste Mal auf Fehmarn.«