Die Furt von Windermere Grove

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Die Furt von Windermere Grove
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Die Furt von Windermere Grove

1  Titelseite

2  Impressum

3  Karte von Windermere Grove

4  Kapitel 1

5  Kapitel 2

6  Kapitel 3

7  Kapitel 4

8  Kapitel 5

9  Kapitel 6

10  Kapitel 7

11  Kapitel 8

12  Kapitel 9

13  Kapitel 10

14  Kapitel 11

15  Kapitel 12

16  Kapitel 13

17  Kapitel 14

18  Kapitel 15

19  Kapitel 16

20  Kapitel 17

21  Kapitel 18

22  Kapitel 19

23  Kapitel 20

24  Kapitel 21

25  Kapitel 22

26  Über die Autorin

27  Die Olivia Lawrence-Fälle

Gerda M. Neumann

Die Furt von Windermere Grove

Olivias zweiter Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.

Alle Rechte vorbehalten.

Unter dem Titel »Die Furt« zuerst 2011 in der Edition Octopus, Münster erschienen.

Unter dem Titel »Windermere Grove« 2013 im Prospero Verlag, Münster & Berlin erschienen.

Satz: Eleonore Neumann.

Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.

www.epubli.de

Verlag: Gerda Neumann

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Karte von Windermere Grove


Skizze von Windermere Grove

Kapitel 1

Wie groß ein kleines Haus klingen kann, wenn alles still ist‹, dachte Leonard, ›und leer wie eine taube Nuss.‹ Er nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken, als schon der nächste Ruf des Türklopfers dem ersten folgte. Olivia war sicherlich zu Hause, das wusste er, und einmaliges Klopfen galt ihr, ein Doppelschlag würde ihn meinen. Als kurz hinter dem Hall des zweiten ein dritter Ruf durch das stille Haus knallte, beschloss er, sich stellvertretend gemeint zu fühlen, und stand auf.

In dem herbstlichen Samstagnachmittag stand eine große, schlanke Frau in einem gelben Chanel-Kostüm vor der Tür und warf gerade lange, aschblonde Locken nach hinten.

»Ich muss Miss Lawrence sprechen, es ist einigermaßen dringend«, antwortete sie auf Leonards höfliche Begrüßung.

»Sie kennt Sie?« konnte er nicht umhin, zurückzufragen. Er wusste bestimmt, dass er diese Erscheinung noch nie bei Olivia gesehen hatte.

»Nur flüchtig. Dennoch! Ich bin Laureen Gaynesford.«

Leonard trat mit eine höflichen Geste beiseite und öffnete die Haustür ganz.

An der rückwärtigen Mauer des langen schmalen Gartens stand ein uralter Apfelbaum, er mochte bald hundert Jahre alt sein. Noch immer trug er Äpfel. Und wenn sie inzwischen auch sehr klein waren, pflückte Olivia sie doch gewissenhaft und verteilte sie in alten, flachen Spankörben im Haus. Bis Ende November wurden sie rotwangig und begannen, von Tannenzweigen und Lebkuchen zu erzählen, auch wenn sie in den letzten Jahren einen eher modrigen Duft verbreiteten.

Die Kiste mit der Ernte dieses Herbstes stand etwas abseits im Gras. Olivia hatte feste Gartenhandschuhe übergestreift und prüfte mit der Säge in der Hand, wo sie die beiden kränklichen Äste am besten aus dem Baum heraus-nehmen sollte, als das ungewohnte Geräusch hoher Damenabsätze auf ihrer Terrasse sie für den Augenblick davon abbrachte.

Die schlanke gelbgekleidete Gestalt, aufrecht und fremd, brachte die Erinnerung an Greystone Manor zurück, ein kleines Herrenhaus in den Hügeln von Buckinghamshire, das der Bildhauerin Viktoria Gaynesford gehörte. Die alte Dame hatte Olivia vor einem halben Jahr gebeten, ihre Monographie für die Kunstzeitschrift ›Arts and Artists‹ zu schreiben. Olivia hatte angenommen und einige Tage im Herrenhaus gewohnt und war dabei in die Aufklärung eines Mordfalles hineingeraten. Im Speicher des alten Hauses über Figuren von Viktoria Gaynesford gebeugt, war zwischendurch eine schlanke Gestalt in schwarzem Anzug an ihr vorbeigesaust, die Lady Gaynesford im Nachhinein als die zukünftige Frau ihres Sohnes vorgestellt hatte.

Während die Erinnerungen im Geiste an ihr vorbeizogen, hatte Olivia Gartenhandschuhe und Säge ins Gras gelegt und stand nun vor ihrem Gast: »Lady Laureen, Sie bringen keine schlechten Nachrichten aus Greystone Manor?« Laureen verneinte. »Dann freut es mich, Sie zu sehen!« Sie sah auf ihre Hände: »Ich fürchte, ich muss mich erst waschen, bevor ich Ihnen die Hand geben kann.«

Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, in dem Leonard gerade ein Feuer im Kamin entfachte. »Mr Kilpatrick«, stellte sie ihn vor.

Als Olivia mit sauberen Händen und frischer Kleidung zurückkam, fand sie die beiden in lebhafter Unterhaltung vor einem fröhlichen Feuer sitzen. Die Besucherin hatte herausgefunden, dass Leonard an der London School of Economics lehrte und schnell gemeinsame Bekannte entdeckt. Ruhig setzte Olivia sich dazu und folgte dem Gespräch. Schließlich verstummte es und Laureens Augen blieben an ihr hängen. Sie sagte kein Wort.

»Welche interessanten Fälle gibt es unter den neuen Verbrechen?« Olivia war neugierig, ob sie den Grund für Laureens Besuch richtig einschätzte.

»Mr Hobart, Anwalt aus Windermere Grove in Norfolk, hat mich um die Verteidigung seines Neffen gebeten, angeklagt wegen Totschlag oder Mord an Charlotte Hewitt, Frau des Arztes in eben jenem kleinen Ort in Norfolk.«

»Warum hat er sie denn aus diesem Leben hinausbefördert?«

»Er tat es gar nicht.«

Die Menschen in der kleinen Runde schwiegen und für eine Weile hörte man nur das Zwiegespräch von Holz und Flammen aus dem Kamin.

Schließlich ergänzte Laureen: »Mein Klient beschwört, Charlotte Hewitt bereits tot aufgefunden zu haben.«

»Und sein Onkel glaubt ihm nicht?«

»Oh, ich hoffe doch, obwohl er ein alter Fuchs ist, der niemals zu viel sagt. Halten wir einfach fest, dass er mir den Fall übertrug, um seinen Neffen frei zu bekommen – Tatsache ist, dass Charlotte Hewitt mit einem stumpfen, runden Gegenstand niedergeschlagen wurde, mit dem Gesicht in die Furt fiel und umgehend starb. Der Schlag war so schwer, dass sie wohl kaum mehr atmete, als Nase und Mund unter Wasser gerieten, so weit der polizeimedizinische Befund.«

»Und wie sieht diese Furt aus?«

»An der Stelle, an der der kleine ruhige Fluss die womöglich noch ruhigere Straße kreuzt, ist sein Bett mit roten Ziegelsteinen gepflastert. Die flache Senke ist etwa fünf Meter breit und das Wasser stand in der Mordnacht an ihrer tiefsten Stelle vielleicht bei 20 cm.«

»Trotzdem wollte Mrs Hewitt sicher nicht zu Fuß hindurchgehen…«

»Vom Ort aus gesehen rechts führt eine hölzerne Fußgängerbrücke hinüber. Mrs Hewitt hatte einen Besuch im Dorf gemacht. Kurz nach halb zehn verließ sie Mrs Upton. Von dort zur Furt brauchte sie keinesfalls länger als sieben bis acht Minuten. Nach den polizeilichen Ermittlungen überquerte sie die Brücke, wurde unmittelbar dahinter mit einem schweren runden Holzstück auf den Hinterkopf geschlagen und stürzte nach vorn ins Wasser…«

»Kann das sein? Sie hatte die Furt doch gerade hinter sich gelassen. Vielleicht legte der Täter sie mit dem Gesicht hinein?«

»Das ist die Alternative – Schlag zehn erschien Pierre-Archibald Hobart-Varham, so heißt der unter Mordanklage stehende junge Mann, auf der Szene. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits tot. Der Obduktionsbericht bestätigt seine Aussage.«

»Ich nehme an, Mr Hobart-Varham weiß das so genau, weil in Windermere Grove die Kirchturmuhr die Stunden zählt?«

Laureen lachte: »Genauso ist es.«

 

»Woher kam er?«

»Er hatte auf der Farm von Ian Culley einen Besuch gemacht. Wann er dort aufbrach, kann niemand genau sagen. Die Familie blieb noch ein wenig sitzen und unterhielt sich über den jungen Mann, bevor sie zu Bett ging. Mrs Culley erinnert sich lediglich, dass ihr Wecker auf halb elf zulief, als sie die Nachttischlampe ausknipste.«

»Wie weit ist die Farm von der Furt entfernt?«

»Ich bin genau zwanzig Minuten gegangen.«

Olivia rechnete: »Dann hätte Hobart-Varham die Farm etwa zwanzig Minuten vor zehn verlassen – genau zu dem Zeitpunkt, als Charlotte Hewitt an der Furt den Schlag auf den Kopf bekam.« Laureen schwieg sie aufmunternd an.

»Es kann aber auch sein, dass er etwas früher dort wegging…«

»Kann auch sein.«

»…und um ein weniges schneller ging…«

»Möglich.«

»In dem Fall wäre er zum richtigen Zeitpunkt an der Brücke gewesen.«

»Stimmt.«

»Wie ging die Geschichte weiter?«

»Wenige Minuten nach zehn, wir haben uns zwei, maximal drei Minuten vorzustellen, bog Mr Walter Ellis, Farmer aus der Nachbargemeinde, von der Hauptstraße in unsere Straße ein und sah in der Furt, schätzungsweise hundertzwanzig Meter vor sich, einen Mann über einen anderen Menschen gebeugt, so seine Worte. Er vermutete einen Unfall und eilte zu Hilfe.«

»Sprachen Sie vorhin von einer mehr als ruhigen Straße?« für einen kurzen Augenblick saß Olivia das Lachen in der Kehle.

»Ja, das tat ich. Aber damit meinte ich natürlich nicht, dass sie überhaupt nicht benutzt wird. Farmer Ellis«, fuhr Laureen ruhig fort, »berichtete, dass Pierre Hobart halb im Wasser kniete, das Gesicht der Frau war ihm zugewandt, ihr Kopf und Oberkörper lehnten gegen sein anderes Bein. Während der Farmer heranfuhr und aus seinem Wagen sprang, schaffte es Pierre Hobart, den Körper richtig zu greifen und aufzustehen. Er legte ihn unmittelbar hinter der Furt auf der rechten Seite der Straße ins Gras, bat den hinzugekommenen Ellis, ohne ihn genauer anzuschauen, bei der Frau zu bleiben, und rannte die Straße hinauf. Sein Weg war kurz. Im nächsten Haus, verborgen hinter großen Hecken, wohnt der Arzt und Ehemann der toten Frau, den er holte – das nun folgende menschliche Drama können wir uns vorstellen.« Laureen schwieg.

Olivia sah über Leonards Schulter hinweg in den Garten, vor ihrem inneren Auge allerdings stand die Szene aus Norfolk. »Mal angenommen, Pierre Hobart wäre der Täter, hätte er zwischen dem Mord und der Szene, die Mr Ellis vorfand, nur sehr wenig Zeit gehabt, sich vom Tatort zu entfernen. Fand die Polizei die Waffe?«

»Nein, das tat sie nicht. Dem gleichen logischen Faden folgend wie Sie durchkämmte die Polizei dorfauswärts das Gebiet, welches man laufend in zehn Minuten erreichen kann plus fünfzig Meter geschätzter maximaler Wurfweite. Es ist ein erstaunlich weites Stück Landschaft, das nach dieser Berechnung durchkämmt werden musste. Zwischen Furt und Dorf suchte man den Anger auf der einen Straßenseite und das Grünland auf der anderen ab, dazu den Fluss und seine Ufer und schließlich das halbe Dorf. Mancher hübsche Vorgarten hat gelitten.«

»Aus diesem negativen Ergebnis könnte man den Schluss ziehen, dass der Mörder samt seinem stumpfen Gegenstand vom Tatort verschwunden war, bevor unser Mann dort auftauchte.« Olivia sah fragend zu Laureen hinüber. Sie stimmte schweigend zu.

»Fand die Polizei irgendwelche Spuren an der Leiche selber, die aufschlussreich sind?« forschte Olivia weiter.

»Keine.«

»Gibt es Fußspuren? Angenommen, Mrs Hewitt war nicht so entgegenkommend, selbst kopfüber in die Furt zu fallen, muss der Täter, indem er nachhalf, nasse Schuhe bekommen haben. Die müssten eigentlich auf der Straße oder im Gras daneben Spuren hinterlassen haben?«

»Die Polizei fand wieder nichts. Diesen Tatbestand wertet der Staatsanwalt übrigens besonders schwer.«

»Gibt es in Norfolk nicht lebendigere Gespenster als im übrigen England? Vielleicht suchen wir überhaupt in der falschen Richtung«, schlug Olivia trocken vor.

»Gespenster sind vor englischen Gerichten als Täter nicht zugelassen.«

»Schade«, kommentierte Olivia, »jedenfalls für dieses Mal. Die kläglichen Indizien überzeugen mich ganz und gar nicht. Vielleicht hat Mr Hobart-Varham wenigstens ein eindrucksvolles Motiv!«

»Er hat überhaupt kein Motiv.«

»Fabelhaft! Ist schon jemand auf die Idee gekommen, es könnte ein Unfall gewesen sein?«

»Diese Möglichkeit ist aufgrund des medizinischen Gutachtens auszuschließen.« Laureen wirkte weiter abwartend.

»Lady Laureen!« Für einen Augenblick war Olivia ehrlich empört. »Man kann einen Menschen bei dieser Beweislage doch nicht verurteilen. Das ist völlig absurd!«

Laureen blieb vollständig ruhig: »Der Angeklagte wurde mit der Leiche im Arm angetroffen. Ihr Tod war gewaltsam herbeigeführt worden und unmittelbar vor dem Auftauchen des einzigen Zeugen eingetreten. Der Angeklagte hat nach eigener Aussage niemanden gesehen, während er die Straße heraufkam, was mit der Tatsache übereinstimmt, dass die Polizei keine Fußspuren gefunden hat. Auch sonst gibt es keine einzige Spur von irgendwem, der mit Mrs Hewitt vor unserem Mann an der Furt zusammengetroffen sein könnte.«

»Fand man Fußspuren von Mrs Hewitt und Mr Hobart-Varham, die auf die Furt zuführten?«

»Ja, die fand man.«

Olivia schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre dunkelbraunen Haare mal wieder waagerecht in der Luft standen. Sie sah zu Leonard hinüber, der, entspannt zurückgelehnt, das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. Ihr Blick hing kurzzeitig an den weiterhin murmelnden Flammen, bevor er zu dem Gast wanderte und ihn eindringlich musterte. Laureen erwiderte den Blick. Sie wartete ganz offensichtlich, dass Olivia das Gespräch wieder aufnahm. Endlich tat sie es dann auch.

»Lady Laureen, warum sind Sie zu mir gekommen?«

»Ich möchte Sie um Ihre Hilfe in meinem so rätselhaft-simplen Mordfall bitten!«

»Du lieber Himmel, wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Miss Lawrence, der Fall stellt sich vor Gericht so simpel da, wie ich ihn zusammengefasst habe, und es besteht die große Gefahr, dass er auf dieser ruhigen Schiene bis zur Verurteilung weiterfährt. Ich sehe es den Geschworenen an. Daran wird auch die schlichte Aussage von Pierre Hobart-Varham, er sei es nicht gewesen, nichts ändern. Ich bin seine Verteidigerin, ich muss entlastendes Material beibringen oder wenigstens überzeugende Argumente für seine Unschuld. Ich kann das aber nicht! Zum ersten Mal finde ich keinen einzigen Ansatzpunkt, um eine Gegenargumentation aufzubauen. Deshalb ist die scheinbare Tatsache des fehlenden Motivs ungefähr soviel wert, wie die Unschuldserklärung des Angeklagten. Nichts! Damit darf und kann ich nicht zufrieden sein.« Laureen rückte auf ihrem Sitz etwas vor und setzte sich sehr aufrecht, bevor sie fortfuhr: »Sie wissen so gut wie ich, dass Sie den Mord im Hause meiner Schwiegermutter aufgedeckt und ihr selbst damit das Leben gerettet haben. Oft haben wir über Ihre enorme Klarsicht gesprochen, über Ihre Unabhängigkeit, menschliche Beziehungen zu betrachten. Da ist es ganz natürlich, dass ich mich jetzt an Sie erinnere.«

»London hat sicherlich viele hervorragende Privatdetektive.«

»Richtig. Üblicherweise sind sie auch nützlich. Im vorliegenden Fall sprechen zwei Punkte dagegen. Wie Sie sich denken werden, habe ich mehrere Gespräche mit Anwalt Hobart geführt, gestern ein sehr eindringliches. Erstens sieht er keinen Ansatzpunkt für einen Privatdetektiv, weil wir keinen konkret zu formulierenden Auftrag haben. Zweitens will er nicht, dass der Fall wieder Dauergesprächsthema in Windermere Grove wird.«

»Was ist das denn für ein Grund?«

»Ernsthaft betrachtet, überhaupt keiner. Aber Sie kennen Anwalt Hobart nicht. Er ist konservativ in seiner Lebenshaltung, eng in seinem Blickwinkel und durchdrungen von der Vorbildfunktion des Adels; lebten wir hundert Jahre früher, wäre er Squire in seinem Dorf. Er hat mit dem Mord nicht mehr zu tun, als dass er mit dem Tatverdächtigen verwandt ist. Doch er hegt die Sorge, ihrem gemeinsamen Familiennamen könnte ein Makel angehängt werden.«

»Aber daran ändert doch Totschweigen nichts.«

»Nein! Er aber scheint zu hoffen, dass die Uhren in Norfolk anders gehen als in der übrigen Welt und die Leute diesen jungen Mann, der ja nur vorübergehend da war, einfach vergessen werden.«

»Selbst wenn sie das täten, würden sie doch Charlotte Hewitt nicht vergessen!«

»Das habe ich ihm auch begreiflich zu machen versucht, vergeblich. Wissen Sie, Mr Hobart ist sechsundsechzig Jahre alt, auf mich wirkt er um viele Jahre älter. Mein Vater kennt ihn beruflich, seit er 1989 zum ersten Mal einen Fall von ihm übernahm. Er hält ihn für sehr korrekt, aber etwas schwerfällig. Es ist denkbar, dass der Schock, seinen Verwandten und Namensträger in einen Mordfall, noch dazu vor der eigenen Haustür, verwickelt zu sehen, seine zunehmende Unbeweglichkeit dramatisch gesteigert hat. Bei unserem ersten Gespräch vor drei Monaten war ihm der Schock noch sehr deutlich anzumerken.«

»Das heißt, Anwalt Hobart will den Dingen ihren Lauf lassen, um seinen Familiennamen so unbeschädigt wie möglich zu halten.«

»So könnte man es sehen.«

Olivia schluckte ihre Empörung hinunter: »Damit gibt er indirekt dem Verdacht Raum, sein Neffe sei tatsächlich der Täter.«

»Formal ist das richtig, er selbst will nicht glauben, dass dieser Neffe überhaupt in Gefahr ist.«

»Lady Laureen, halten sie Ihren Mandanten für schuldig oder unschuldig?«

»Ich neige entschieden zu der Annahme, dass er unschuldig ist.«

»Warum lassen Sie sich dann von einem alten Mann aufhalten, einen Privatdetektiv zu beauftragen, hinter dieser glatten Oberfläche herumzustochern?«

»Weil ich möchte, dass Sie mir helfen!« Laureens Haltung straffte sich erneut. »Bitte lassen Sie mich vorweg sagen, dass Sie natürlich einen ordentlichen Tagessatz und alle Unkosten ersetzt bekommen. Das ist selbstverständlich und vollkommen unabhängig vom Ergebnis. Ich bin mir bewusst, wie kostbar Zeit ist.«

»Ich bin kein Detektiv!« Olivia unterbrach Laureen energisch. »Und ich will ganz bestimmt keiner werden. Vielleicht können Sie sich nicht vorstellen, wie froh ich war, wieder ruhig schlafen zu können nach den Problemen in Buckinghamshire. Meine journalistische Arbeit im Haus von Lady Gaynesford hat mich mit in den Mordfall verwickelt. Aber ich versichere Ihnen, Schreiben ist mir sehr viel lieber als Detektivspielen! Und ich kann es auch besser.«

Laureen blieb unbeirrt: »Sie müssen mir helfen, weil Sie der einzige Mensch sind, der das kann. Die Polizei hat fast das halbe Dorf vernommen, ohne klüger zu werden. Ich habe die Zeugen vor Gericht befragt. Ergebnislos. Dabei beobachtete ich wieder diese seltsame Simplizität: Die Befragten waren meiner Überzeugung nach wirklich so ratlos, wie sie antworteten, ich stimme da mit der Einschätzung der ermittelnden Beamten überein. Aber irgendwo muss es eine Erklärung geben. Es kann nicht anders sein. Ein Mord kommt nicht über die Menschen wie Hagelschlag. Auch Totschlag nicht. Sie mit ihrem ausgeprägten Ohr für Sprache fangen vielleicht in einem Geplauder über einen völlig mordfremden Inhalt irgendeinen Gedanken, einen Halbsatz auf, mit dem wir doch noch etwas anfangen können. Das ist meine Hoffnung. Mögen Sie sich nicht das eine oder andere Thema für einen Zeitungsessay suchen und nach Norfolk aufbrechen?«

»Haben Sie mit Anwalt Hobart schon über mich gesprochen?«

»Nein. Ich kam zuerst zu Ihnen!«

Dieser Bescheid erleichterte Olivia, ohne dass sie weiter darüber nachdachte. »Warum glauben Sie, Anwalt Hobart werde mich eher akzeptieren als einen Privatdetektiv?«

Laureen zögerte kurz, während sie in Olivias offenes Gesicht blickte. »Ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich zu der Taktik greifen möchte, Sie als Journalistin in Windermere Grove einzuführen. Wir sollten uns der Unterstützung von Mr Hobart versichern. Neben dem, was ich über ihn bereits gesagt habe, ist er ein kluger und angesehener Mann, dessen Meinung in jener überschaubaren kleinen Welt dort oben von großer Bedeutung ist. Die Leute werden viel bereitwilliger mit Ihnen reden, wenn sie sehen, dass Sie im Manor House empfangen werden. Ihm selbst erleichtern wir seine Gastfreundschaft, wenn er sich wenigstens anfangs nur über Norfolk unterhalten muss. Zu meiner moralischen Entlastung kann ich anführen, dass Mr Hobart auch ein einsamer alter Hagestolz ist. Wenn Sie sein Vertrauen gewinnen und ihn zum Sprechen über unser Problem bringen können, helfen Sie ihm, den Schock zu verarbeiten.«

Olivia schaute Laureen belustigt an: »Und außerdem dient alles einer guten Sache… Ich sehe den Hasen laufen. Ob ich Lust habe, den Wettlauf mit ihm aufzunehmen, bezweifele ich aber doch sehr. Zumindest muss ich das Ganze überschlafen.«

 

Laureen Gaynesford erhob sich: »Mehr darf ich heute von Ihnen auch nicht erwarten. Ich wünsche inständig, Miss Lawrence, dass Sie einen Weg wählen, der meinen Klienten und mich wieder hoffen lässt. Darf ich Sie morgen gegen Abend anrufen?«

Olivia war einverstanden. Gemeinsam mit Leonard geleitete sie ihren Gast bis zur Gartenpforte; und gemeinsam sahen sie der aufrechten, schlanken Gestalt in dem gelben Kostüm nach, wie sie in der Dämmerung der herbstlichen Platanenallee davonging. »Ist sie wirklich oder bilde ich mir das alles nur ein?« wandte Olivia sich an Leonard. Als sie die Straße wieder hinunterschaute, war die Gestalt verschwunden. Noch einmal sah sie in Leonards Gesicht – er war ganz sicher wirklich. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, drückte ihm einen festen Kuss auf den Mund und verschwand durchs Haus im Garten. Als erstes holte sie die Kiste mit den Äpfeln auf die Terrasse und anschließend die alten Spankörbe aus dem Lagerraum an der Gartenmauer. Behutsam legte sie einen Apfel nach dem anderen in die Körbe. Als sie damit fertig war, verteilte sie sie im Haus, wie sie es immer um diese Jahreszeit tat. Die leere Kiste trug sie zurück und verräumte sie zusammen mit der Säge und den noch im Gras bei dem alten Apfelbaum herumliegenden Geräten im Lagerraum. Ihr Großvater war Schreiner gewesen und ein paar übriggebliebene Bretter lehnten hier noch immer an der Wand. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, schloss die Tür zum Garten und schnupperte, ob nicht schon das erste Aroma von den Früchten aufstieg.

Leonard hatte indessen Tee gekocht und ein paar Crumpets geröstet, beides wartete vor dem Kamin. Olivia setzte sich, zog die Füße unter sich und wärmte die klamm gewordenen Finger an dem heißen Teebecher. »Leonard, was denkst du über Pierre Archibald Hobart-Varham?«

»Ich denke, dass er unschuldig ist!«

»Donnerwetter! Und was macht dich so sicher?«

»Stell dir einen Mörder vor, der an der Furt auf sein Opfer wartet. Es kommt, er schlägt zu, legt die zu Boden gegangene Gestalt mit dem Gesicht ins Wasser und wartet, bis sie ganz sicher tot ist. Dann hockt er sich daneben und wartet auf einen Zeugen. Hältst du eine solche Geschichte für plausibel?«

»Nein! Genau genommen ist sie albern. Und doch hat sie Pierre Hobart eine Mordanklage eingebracht. Aber das habe ich die ganze Zeit schon nicht verstanden.«

»In meinen Augen ist seine schwerste Hypothek der eigene Onkel, der sich angesichts der unerwarteten Situation verhält wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gestoßen wurde. Dieses Verhalten ist um so merkwürdiger, als er von Beruf Anwalt ist: Unerwartete Situationen sollten für ihn Routine sein. Durch den fehlenden Gegenwind machte er es der Polizei besonders leicht, sich auf ihrem raschen Ermittlungserfolg auszuruhen. Im Grunde ganz einfach.«

»Es ist alles so schrecklich einfach, nicht wahr? Als wäre dieser Mord eine spontane Mutwilligkeit des Schicksals gewesen, das sich anschließend mit einem Flügelschlag wieder darüber erhob und spurlos verschwand.« Olivia stellte ihren Teebecher ab und sprang auf. Nachdem sie einige Male im Zimmer auf- und abgelaufen war, ging sie hinaus in den dunklen Garten. Eine Weile lang stand sie konzentriert mitten auf ihrem Rasen. Plötzlich löste sich die gespannte Körperhaltung in zwei aufeinander folgende Handstandüberschläge. Sie hielt inne, roch an einer späten Rose und kam gelassen zurück zum Kamin.

»Leonard, das ›spurlos‹ ist der Beweis für die Unschuld von Pierre Hobart! Der Mord wurde vom Dorf aus gesehen hinter der Brücke verübt, dort gibt es aber nur die Spuren von Charlotte Hewitt. Pierre Hobart kam wie sie vom Dorf, seine Spuren beweisen es. Er musste also ebenfalls über die Brücke, wenn er sie dahinter erschlagen wollte. Aber er ging nicht über die Brücke, sondern direkt ins Wasser – verdammt noch mal, darauf hätte doch jemand kommen müssen!« Sie setzte sich. »Totschlag dürfen wir damit ausschließen, weil der Mörder so spurlos agierte, wie das nur bei perfekter Planung denkbar ist. Ein perfekter Mord aber muss einen Grund haben und das heißt, Charlotte Hewitt war für irgendjemanden so gefährlich, dass er sie tötete – da alle Zeugen ratlos waren, warum ausgerechnet ihr ein solches Unglück zugestoßen ist, wage ich zu schließen, dass sie ein umgänglicher, friedlicher Mensch gewesen ist. Die Gefährlichkeit eines solchen Menschen kann nur in seinem Wissen liegen. Sie wusste etwas, das nur sie allein wusste – und der Mörder…« Olivia seufzte leise: »Immerhin löst sich aus der irritierenden Simplizität der Anfang einer Geschichte…«

Leonard runzelte die Stirn: »Diese Mrs Hewitt war verheiratet. Ist es nicht das Nächstliegende, mit dem Partner über seine Gedanken zu reden? Wenn sie etwas Belastendes über jemanden gewusst hat, wird sie es zuerst mit ihrem Mann besprochen haben. Und er hätte spätestens nach dem Mord gewusst, wie belastend das Wissen seiner Frau für die fragliche Person gewesen ist. Kannst du dir denken, warum er seinen Verdacht der Polizei nicht mitgeteilt haben sollte?«

»Eher nein… Vielleicht hat er es doch nicht gewusst. Über das Verhältnis der Ehepartner zueinander wissen wir nichts.«

»Stimmt.«

»Trotzdem ist dein Einwand berechtigt – was für Gründe könnte es noch geben, einen friedlichen Menschen zu erschlagen?« Die beiden knobelten, bis ihre Mägen sie zum Abendessen in die Küche trieben.