Athene auf Abwegen

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Athene auf Abwegen
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Impressum

2021 Eigenverlag

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

Umschlaggestaltung: Marcel Fenske-Pogrzeba

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.


PROLOG

Aus der Erkenntnis entsteht die Wahrheit. Wahrheit jedes Einzelnen, so unterschiedlich wie der Mensch selbst.

Unterspickt kann diese Wahrheit mit Illusionen, Fantasie, Erlebtem, Erwünschtem, Begehrtem, Verwehrtem sein.

Freude, Hoffnung, Liebe, Glück, Spaß, Ernst, sowie Trauer, Unglück, Sehnsucht und diverse Tugenden machen die Wahrheit zu dem, was sie für jedes menschliche Individuum auf mannigfachste Weise bedeutet.

Also ist die Wahrheit ein subjektives Empfinden für jedermann. Träume können Wahrheit sein, Unbewusstes wird im Traum wahr, gelebt, erlebt, bearbeitet, verarbeitet, erinnerlich und fantasievoll umrahmt.

Vorstellungskraft verschwimmt mit der Wahrheit, verwebt sich mit allen Sinnen, lässt Türen öffnen, die fest verschlossen waren. Sie ist imstande, Berge zu versetzen.

Lassen wir trotzdem fantasievoll unser Leben gestalten, was schadet bisschen Schöpferkraft unserem Dasein? Sie schmückt es höchstens aus, verziert und verschnörkelt es, lässt dadurch Seilsprünge der Freude zu, denn das Leben ruft oftmals dann und wann eh immer nach seiner Ordnung, wenn es ihm zu viel an Einbildungskraft oder Übertreibung wird.

Die Protagonistin Brigitte lebt nach diesen, ihren Werten, und sie hat ihre Imagination bis zur Perfektion geschärft und ist dabei glücklich geworden.

Es war kein kurzer Lernprozess, dem ihre ureigenste Wahrheit entsprang, aber bekanntlich macht Übung den Meister.

Zu diesen Zeilen passt hervorragend Hebbels Gedicht, weshalb ich es nicht vorenthalten möchte:

Erleuchtung

In unermeßlich tiefen Stunden

Hast du, in ahnungsvollem Schmerz,

Den Geist des Weltalls nie empfunden,

Der niederflammte in dein Herz?

Jedwedes Dasein zu ergänzen

Durch ein Gefühl, das ihn umfaßt,

Schließt er sich in die engen Grenzen

Der Sterblichkeit als reichster Gast.

Da tust du in die dunkeln Risse

Des Unerforschten einen Blick

Und nimmst in deine Finsternisse

Ein leuchtend Bild der Welt zurück;

Du trinkst das allgemeinste Leben,

Nicht mehr den Tropfen, der dir floß,

Und ins Unendliche verschweben

Kann leicht, wer es im Ich genoß.

Friedrich Hebbel

(* 18.03.1813, † 13.12.1863)

1. Kapitel

Es war im Moment nicht ihre Zeit.

Das Leben in der Enge ihrer Ehe nahm ihr öfter als ihr lieb war den Atem, obwohl sie sich meistens zu helfen wusste. Der immer heftiger werdende spürbare Freiheitsdrang machte sie mitunter zornig und ungerecht.

„Lass dich nicht unterkriegen, du schaffst das, wie du es immer geschafft hast“, war zwar ihr Leitspruch geworden und zeitweise gab er ihr Stärke und Zuversicht, doch heute, gerade jetzt, benötigte sie einen Anker, einen Hafen, wo sie anlegen konnte, um die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten in jene Tatkraft umzuwandeln, die ihr den Freiraum schaffte, den sie dringend benötigte.

„Paolo wird mich auf andere Gedanken bringen, da bin ich mir sicher“, dachte sie bei sich. Paolo, jung, stark, draufgängerisch und nicht so mühevoll wie ihr alternder Mann. Paolo nahm das Leben leicht, konnte noch jedes Mal ihre aufkeimenden bitteren Gedanken zerstreuen. Einige Stunden mit ihm und ihre kaputte Ehe ward vergessen. Mehr brauchte sie nicht, um wieder energiegeladen und erwartungsfroh in den Tag zu leben.

„Ich brauche unbedingt mehr Abwechslung in meinem Leben, mir fällt die Decke auf den Kopf, wenn ich hier nicht raus komme“, dachte sie sich und sah dabei aus dem Fenster der Villa in den wunderbaren Garten. Ein Gärtner war gerade dabei, neue Pflanzen zu setzen.

„Das alles hat mein Mann erwirtschaftet“, dachte sie bitter. „Er lässt mich das immer wieder spüren, dass kein Cent von mir kam. Nein, er sagt es mir in seiner arroganten, sarkastischen Art bedenkenlos ins Gesicht. Dabei war er es, der auf Kündigung meines Jobs, gleich nach unserer Verehelichung, bestand.

„In meiner Position muss die Frau zu Hause sein, stets gewappnet, mit Honneurs meinen Geschäftsfreunden dienlich zu sein, Geschäftsessen zu Hause vorzubereiten, oder bei Geschäftsessen außer Haus mit anwesend zu sein“, waren seine Argumente. „Denn, hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau“.

Diese Worte ließen ihr Kälteschauer auf der Haut zurück, machten sie wütend und enttäuscht. Der Satz degradiert die Frauen, macht sie unselbstständig, abhängig, erklärt sie zu Marionetten, die nach dem Takt der Männer zu tanzen haben.

„Doch bin ich nicht selbst an meiner Situation mitschuld? Es wäre ein Leichtes gewesen, Ludwig dahingehend zu beeinflussen, dass ich wieder ins Berufsleben einsteige. Ich tat es nicht, weil mir das Leben im Goldenen Käfig ja gefiel“. Sofort verwarf sie diese Gedanken, weil sie nur dazu dienten, ihr den Tag zu verderben, und sie an ihrer verpfuschten Ehe mitverantwortlich werden zu lassen.

Natürlich war das anfangs für sie neu und interessant. Sie zählte durch ihren Mann gesellschaftlich zu den gehobenen Kreisen, viele beneideten sie darum. Sie kam sich neben ihm bevorzugt vor, elitär sozusagen, ein Mitglied der „besseren Gesellschaft“.

Dieser Mythos der Auserlesenen verpuffte rascher, als ihr lieb war. Die Eintönigkeit machte ihr Angst. Sie begann viel zu lesen, um ihren Horizont zu erweitern, um nicht gänzlich zu verblöden. Sie besuchte Seminare über dies und jenes, die ihren Alltag ein wenig aufmöbeln sollten. Sie musste für ihren Mann eine Herzeigefrau vom Feinsten sein, gut aussehend, klug, belesen, charmant, damit er mit ihr reüssieren konnte. Sie pflegte seine diesbezügliche Ideologie, indem sie munter und ergeben sein Verlangen stillte. Kaum zu glauben, dass ihr das sogar Spaß bereitete.

Man war gerne in ihrer Gesellschaft, denn es umgab sie ein gewisser Luxus, nicht zu dick aufgetragen, keinesfalls zu latent. Die richtige Dosis eben, damit die anderen Damen nicht zu sehr ins Hintertreffen gelangten. Zwietracht in der gehobenen Clique ist sehr leicht gesät, was wiederum dem geschäftlichen Interesse ihres Mannes nicht gedient hätte. Sie fühlte sich als typisches Opfer manipulativer Persönlichkeiten und wusste es in jener Zeit nicht einmal. Ihr Mann sagte ihr immer auf subtile Weise, was sie wie zu tun hatte. Und sie tat es. Sie schränkte ihren freien Willen ein, weil sie sich dieses unnatürliche, akquirierte Verhalten nicht realisiert hatte. Ihr war nicht bewusst, dass sie ihre eigenen Entscheidungen drastisch reduzierte. Sie war von einer Spinne im Netz gefangen, die ihre Beute eingewickelt hatte, und sich, wann immer die Spinne Lust hatte, sukzessive davon ernährt. Es war ihr nicht klar, dass ihre emotionalen Defizite durch die manipulative Persönlichkeit ihres Mannes hervorgerufen wurden.

Sie war Gliederpuppe, die nach seinen Handfertigkeiten, indem er gekonnt die Schnüre bewegte, an denen sie hing, hin und her taumelte. Nur sie ließ das zu, das war die Kehrseite der Medaille.

Und dann … plötzlich … ward ihr das gewahr geworden. Genau so plötzlich, änderte sie ihre Situation.

Das war geraume Zeit her.

*

„Meine Anwandlungen vergehen genau so rasch wieder, wie sie gekommen sind.

Das war immer schon so“, beruhigte sie sich selbst. „Paolo hat es immer noch geschafft, mich aufzuheitern, mich umzustimmen. Ich müsste halt die Möglichkeit haben, ihn öfter zu sehen“…

Vor Monaten noch befand sie sich in einer euphorischen Stimmung, es passte einfach alles. Sie nannte es sogar zaghaft Glück. Und sie war davon betroffen, sie, die sich nach Anzahl an Lebensjahren zu urteilen, in einem nicht mehr ganz so taufrischen Alter befand. Obwohl sie sich so jugendlich fühlte, gesund, munter, hübsch. Die Männer drehten sich nach ihr um. Ebenso junge Männer, was ihr sehr schmeichelte. Wo immer sie hinkam, wurde sie mit den Worten begrüßt: „Du siehst blendend aus, immer jünger, wie machst du das nur?“

Genau so fühlte sie sich, wie sie die anderen sahen. Sie spürte bei manchen Frauen die Bitterkeit, wenn sie von ihnen betrachtet wurde. Sah zuweilen die Eifersucht in ihren Augen, wenn zumeist Männer ihre Bewunderung aussprachen. Oft waren die Damen um vieles jünger als sie selbst.

Sportlichen Aktivitäten war sie bereits als Einzelkind, nicht immer zu ihrer Freude, verpflichtet gewesen. Allein der Schulweg war eine Herausforderung, der sowohl im Sommer als auch im Winter teilweise zur Qual werden konnte. Die strengen Winter damals, die es oftmals mit kindshohen Schneewechten galt, zu überwinden, um alsdann in der Schule in den nassen Kleidern dem Unterricht ohne Wenn und Aber beiwohnen zu müssen. Die Eltern waren zu der damaligen Zeit finanziell ganz gut gestellt. Sie war Einzelkind und hervorragend behütet.

Der Frühjahrsübergang in den Sommer hatte bereits sehr heiße Tage zu bieten, und der lange Marsch mit Freundinnen nach Hause machte unendlich müde. Wenn dies heute viele belächelten, es war Sport pur. In den Ferien die Mithilfe bei den Eltern, sei es im riesigen Gemüsefeld, sei es am stets zu erweiterten, bzw. fertig zu gestaltendem Einfamilienhaus, wo seinerzeit die Hilfe der Kinder sämtlicher Familien eine der Not gehorchende Tugend sein musste. Auch das war Leibesertüchtigung pur.

 

Später gesellte sich, nach ihrer Verehelichung, der Nobelsport Tennis, in ihren Anfängen wirklich noch der Nobelsport par excellence, hinzu, weil der Mann ebenfalls längst diesem Wettspiel huldigte, dem Bergwanderungen, Klettersteige, Skitourengehen und Golf nachfolgte. Und als der Mann anfangs die Alterspension in vollen Zügen genoss, wurde speziell und ausschließlich auf Golf und anspruchsvolle Kletterwanderungen umgesattelt. Im Winter wurden die Tiefschneepisten unsicher gemacht und das Tourengehen natürlich nicht vernachlässigt.

Diese Tatsachen waren wohl ausschlaggebend, ihr das reife Alter nicht anzumerken, die tadellose Figur tat das übrige dazu.

Bereits als Kind wurde sie von fremden Müttern eifersüchtig betrachtet, denn allgemein galt sie als sehr hübsches Kind. Ihr Aussehen hatte sich im Laufe ihrer Lebensjahre noch sehr verbessert, in ihren Zwanzigern nannte sie ihr Vater gerne Gina Lollobrigida, weil er in seiner Tochter eine Ähnlichkeit mit dem berühmten und bekannten Filmstar sah. Aber das war wohl die Verliebtheit des Vaters zu seinem einzigen Kind und daher auch verständlich.

Ihre Heirat – eine Liebesheirat – hatte aus ihr eine strahlende junge Frau werden lassen, deren Glück sich in jeder Phase ihrer Gestik, ihrer Mimik, ihrer Ausdruckskraft widerspiegelte. Sie war für die Liebe geboren, und ihr Mann war sich dessen bewusst und bewunderte sie zu Beginn ihrer Ehe voller Achtung und Stolz, nicht ohne den Anflug von Beobachtung oder sogar geringfügiger Kontrolle.

Sie betrachtete sich im Spiegel nachdenklich, strich sich eine ihrer blond gefärbten, dicken Haarsträhnen aus dem Gesicht, wobei sie selbst anerkennend ihren schlanken Körper betrachtete.

„Wann habe ich aufgehört, in meiner Ehe glücklich zu sein? Was war der Grund, für meine Affären mit jeweils viel jüngeren Männern, die sich ihr gerne anboten? War es die Angst, plötzlich etwas zu verpassen, die Angst vor dem eigenen Alter, die Angst, nun vielleicht die Freiheit wegen eines alternden Mannes aufgeben zu müssen, den man nicht mehr liebte?“

Rasch wandte sie sich ab, ihre Gedanken störten sie, außerdem musste jeden Moment ihr Mann erscheinen.

Und da war er schon.

„Die Leute sind alle blöd, was glaubst, was mir heute beim Tanken passiert ist?“

„Wie soll ich das wissen?, nehme jedoch an, dass du es mir gleich einmal sagen wirst“, dabei verzog sich ihre Miene, und sie schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Haare wild auseinanderstoben.

„Deine hormongesteuerten Launen, wie ich die hasse“, bemerkte Ludwig und verzog ebenfalls sein Gesicht, wodurch sich die Falten um Mund und Augenpartie noch drastisch verstärkten. Mit dir ist ein vernünftiges Wort nicht mehr möglich“.

Ohne sich weiter um die Tankgeschichte zu kümmern, stob er in sein Zimmer, um sich in seine Hauskluft zu werfen.

„Entweder hat ein anderer Autofahrer die von ihm angepeilte Zapfsäule beansprucht, oder es hat ihm beim Tanken aus einem fremden Auto ein Hund angekläfft, oder der Tankwart hat ihn böse angesehen, oder die Zapfsäule hat ihn, aus welchen Gründen auch immer, geärgert. Das sind in letzter Zeit die besonderen widerwärtigen Erlebnisse, mit denen er sich herumquält, und mich ebenfalls“, dachte Brigitte und verlegte ihm trotzig noch rasch seine Tageszeitung, die er sicherlich die nächsten Stunden studieren wollte, und um ihr daraus jene Passagen vorzulesen beabsichtigte, die ihn besonders aufregten.

„Er regt sich überhaupt gerne auf, beim Autofahren, waren alle Trottel, selbst wenn er durch seine sehr defensive Fahrweise die anderen Verkehrsteilnehmer bis zur Weißglut bringen kann“. Brigitte verstand ihren Mann immer weniger. „Er ist alt geworden, und ich werde jünger“, bemerkte sie zu sich selbst, das passt hinten und vorne nicht mehr zusammen“.

„Ich komme mir vor, wie Athene auf Abwegen“. Athene, die Göttin der Weisheit, war immer schon jene Gottheit, zu der sie sich sehr hingezogen fühlte.

Brigitte war der griechischen Mythologie verfallen. Athene, die Schwester des Apollon. Eigentlich war jene eine jungfräuliche Göttin, was ganz und gar nicht zu Brigitte passte. Eher ähnelte sie Aphrodite, der Göttin der körperlichen Liebe und Schönheit, die ihren Gatten Hephaistos mit zahlreichen anderen Göttern betrog, sogar mit dem sterblichen Adonis. Ihr Idol schien in dieser Beziehung nicht sehr wählerisch gewesen zu sein, war sie überzeugt. Deshalb verlieh sie ihrem weiblichen Götzenbild jene Eigenschaften, die ihr grade passten. Und auf die Klugheit der Athene wollte sie einfach nicht verzichten. Sie wandelte auf Athenas Spuren, die zusätzlich jener der Aphrodite glichen. Trotzdem wollte sie unter keinen Umständen auf ihren Bruder Apollon verzichten, den sie sehr verehrte. Apollon, der Repräsentant von Maß, Ordnung, Schönheit, Ernst und Würde, der Heilgott, der ebenso Verderben bringen kann.

Das Pendant zu Athene, was seine zahlreichen Liebschaften anbelangte, die ihm alle kein Glück brachten. Jede einzelne endete für ihn unglücklich. Deshalb war Athene zur Stelle, um ihn zu trösten, bestenfalls im Schlafgemach, was jedoch eher der Illusion Brigittes entsprach, denn von Athene waren solche Ausschweifungen nicht bekannt. Die Götter waren doch allesamt nicht sehr sittenstreng, da ging es drunter und drüber. Bedenken wir nur, Zeus heiratete sogar seine Schwester Hera. Ein verfallenes Sittenbild bietet das Göttergeschlecht der Griechen. Jedoch das gefiel Brigitte, und deshalb verhalf sie ihrer Athene zu enormen Fehlgängen, eine neue, von Brigittes Gnaden konstruierte Athena. Eben eine Athena auf Abwegen. Sie war stolz, diese Verwandlung so gekonnt geschafft zu haben. Denn auf die Weisheit wollte und konnte sie nicht verzichten, weil sie selbst von ihrer Klugheit überzeugt war, was auch in gewissem Maß stimmte. Sie war belesen, sehr interessiert am Weltgeschehen, kulturell am Laufenden, aufnahmebereit, was die Weltgeschichte betraf, besonders empfänglich für die jüngste Zeitgeschichte. Und sie war ein Luxusweibchen, das zwar finanziell von ihrem Göttergatten abhängig war, trotzdem keine Dünkel hatte, aus dem Vollen zu schöpfen. Der ambivalente Charakter konnte ihr nicht abgesprochen werden.

Wie sollte unter diesen Umständen Ludwig zu ihr passen, der zwar in seiner tätigen Zeit ein anerkannter Architekt in einem Multiunternehmen war. Später sogar durch spekulative Aktieneinkäufe Miteigentümer einiger Firmen, sich jedoch nach seiner Pensionierung anfangs nur noch auf sportliche Aktivitäten konzentrierte. Je länger jedoch der Ruhestand andauerte, umso träger wurde er in jeder Hinsicht. Lediglich seine endlosen Monologe wurden noch endloser. Beim kurzen Innehalten oder Atemholen wollte Brigitte dennoch hie und da etwas hinzuzufügen, wurde sie sofort entsprechend angeschnauzt: „Unterbrich mich doch nicht ständig mit deinen leidigen Einwänden, denen es an Hand und Fuß mangelt.“ Du verstehst davon nichts. Auf diese besonders liebevolle Art angesprochen, war die Debatte erledigt.

Die Schere zwischen den beiden klaffte immer weiter auseinander, die Brigitte gekonnt versuchte, durch ihre Liebeleien nicht zu stumpf werden zu lassen.

Hie und da probierte sie noch, Ludwig ein wenig an ihrer beiden Sexualleben teilhaben zu lassen, aber seine Libido war mit zunehmenden Alter ihr gegenüber geschrumpft. „Ein Vollblutliebhaber war er nur anfangs, und wenn nicht ich so oft angezeigt hätte, dass ich Lust auf ihn habe, bzw. auf körperliche Liebe, von ihm ist später kaum der Anstoß ausgegangen. Und selbst dann ließ er sich gerne zu sehr bedienen. Schuften mussten immer die anderen, er hat sich sein Leben ganz gut, für ihn passend, gestaltet“.

Ihr kam gar nicht die Idee, dass auch sie keine große Arbeitsbiene war, die sich im Schweiße ihres Angesichtes abmühte. Diese Tatsache stand für sie auf einem anderen Stern, den sie sehr gerne in die dunkle Materie verbannte.

Neuerlich schüttelte sie den Kopf über ihre Erkenntnisse, die sich immer häufiger in ihr ausbreiteten. Ihre Ehe war am Ende, das war sonnenklar.

Ihr kam plötzlich eine wunderbare Idee! Eine göttliche Eingebung als Atheneduplikat.

„Wie wär`s, wenn ich ihm eine passende Partnerin suchte? Damit wäre uns beiden geholfen. Es wird doch in der Mythologie eine Göttin geben, die zu ihm passt. Das werde ich sicher in den Griff kriegen, wie so manches in meinem Leben“, lautete ihre Devise.

Sie schnappte sich ein Buch über griechische Mythologie und begann darin zu lesen.

„Das gibt es doch nicht“, hörte sie in einer sie sehr interessant findenden Passage ihren Hero keifen. „Alles Trottel, diese Politiker, keinen Anstand, keine Moral, nur Gier und kriminelle Energie“.

„Oh je“, jetzt wird es wieder kritisch. Jetzt kommt eine Suada über Politik, da kann ich meine Suche nach einer passenden Göttin für ihn vergessen. Jetzt hört er nicht mehr auf zu reden, selbst wenn ihm keiner zuhört“.

Dass sie die Situation durch ihr Desinteresse an Politik und auch an Dingen, die ihren Mann so sehr interessierten, durch vollkommene Gesprächsverweigerung verschärfte, ließ Brigittes Egozentrik nicht zu. Sie dachte nicht daran, ihre Einstellung ihm gegenüber auch nur ansatzweise zu verändern. Sie verhielt sich ihrem Mann gegenüber wie eine verwöhnte Frau, deren Göttergatte zu ihren Füßen liegen musste, ihr jeglichen Wunsch zu erfüllen hatte. So spielte sich aber das Eheleben nicht ab.

„Aber aus dem Zimmer kann ich ebenfalls nicht raus, sonst wird er noch grantiger, und der Tag ist komplett versaut. Dabei muss ich jetzt diplomatisch vorgehen, sonst kann ich mir keine drei Stunden rausschinden, um mich mit Paolo zu treffen“.

Ihre Miene wurde ernster, die Denkfalten gruben sich stärker auf ihrer Stirn ein, und in süffisantem Ton meinte sie ihrem Mann gegenüber: „Soll ich dir vielleicht ein Glas Bier bringen, du siehst überaus durstig aus“?

„Wie sieht denn deiner Meinung nach ein durstiger Mann aus“?, fragte er mürrisch zurück. „Steht auf meiner Stirn geschrieben: Ich habe Durst?“ Sein selbstgefälliges Lächeln dabei kannte sie zur Genüge. „Heute war nicht gut Kirschen essen mit ihm.

Wahrscheinlich war die Tankgeschichte wesentlich ernster, als ich ursprünglich vermutete. Vielleicht hat ihm jemand den letzten Tropfen Diesel aus der Zapfsäule entwendet“.

Scheinheilig fragte sie ihn: „Was ist denn beim Tanken passiert? Du hast wohl damit begonnen, allerdings die Geschichte nicht weiter erzählt“.

„Was soll an der Tankstelle gewesen sein?“, fragte er nachdenklich leise.

„Du sagtest …“

„Blödsinn, du hörst mir einfach nicht zu, wenn ich was erzähle. Und jetzt mag ich nicht, du siehst, dass ich lese“.

„Weil er sich gar nicht mehr an diese nichtssagende Geschichte erinnern kann“, dachte sie bei sich. „Seine Erinnerungsfähigkeit ist genau so geschrumpft, wie seine Agilität aus früheren Zeiten. Ich glaube, heute muss ich Paolo absagen, das wird nix mehr“.

Paolo hatte sie in einer Vernissage kennengelernt. Er war ein Freund des Meisters der Ausstellung. Spanischer Herkunft, rassig, über 15 Jahre jünger als sie selbst, obwohl sie ihm anfangs ihr wirkliches Alter nicht verraten hatte. Warum sollte sie etwas aufs Spiel setzen, das an Wichtigkeit zu entbehren war? Später, wenn sie einander näher kannten, würde er keine Lust mehr haben, ihr Verhältnis deswegen zu lösen. War immer so gewesen. Die Männer wussten, was sie an ihr hatten, da zählte das fortgeschrittene Alter keinen Deut. „Alter ist lediglich eine Zahl“, war ihr Credo.

Rasch zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um in ihren Büchern nach einer passenden Göttin zu suchen, um diese Eigenschaften an einer Frau aus ihrem unermesslichen Bekannten- und Freundeskreis zu entdecken. Danach konnte das Spiel beginnen. Sie war fest von ihrem Vorhaben überzeugt, ihrem Mann eine für ihn entsprechende Frau zu suchen und zu finden.

Lange musste sie nicht suchen. „Ha, ich hab’s, das ist die Richtige. Hestia, eine jungfräuliche Göttin, die Beschützerin des Herdes, des Feuers, des Hauses. Fremde und Verfolgte behütet sie, indem sie ihnen Zuflucht gewährt. Das ist das, was für Ludwig in Frage kommt, flüsterte sie leise. Beschützerin des Herdes – die kann für ihn kochen, das Haus in Ordnung halten, ihn hüten, bemuttern, versorgen“.

Sie stand vom Stuhl auf, setzte sich an ihren Schminktisch, und begann, nach dem Adressbuch in einer der Laden zu suchen. Die alphabetisch geordneten Namen ging sie präzise der Reihe nach durch. „Anna?“ – nachdenklich versuchte sie, die Eigenschaften Hestias auf Anna zu projizieren.

 

„Anna ist dick und faul, die geht nicht, da müsste ja Ludwig für sie die Arbeit verrichten. Nein, zwei ebenbürtige Charaktere, das ist zum Scheitern verurteilt. Er braucht eine emsige, quirlige Frau, die auch ein bisschen eine Wohltat für sein verwöhntes Auge sein soll. Sonst gibt es da kaum eine Möglichkeit, sie näher an ihn heranzubringen, er würde sie sofort ablehnen. Sie könnte durchaus ein wenig geistlos sein, wenn sie bisschen Humor hat, um ihn aus seiner Lethargie zu lösen.“

Seite um Seite blätterte sie das Buch durch. Ihre Hoffnung war am Schwinden, als sie bei „W“ fündig wurde. „Waltraud“ murmelte sie, „das ist sie, Waltraud Leiner, kurz geschieden, weil ihr Mann sich eine Jüngere nahm, sicherlich einer neuen Verbindung nicht ganz abgeneigt.“

Waltraud war lange Zeit in ihrem Freundeskreis mit unterwegs. Das Ehepaar Leiner hatte keine Kinder, genau so wie Brigitte und Ludwig. Aus diesem Grund gab es demzufolge keinen Gesprächsstoff über Erziehung und Kinderkrankheiten, was sowohl Brigitte als auch Ludwig hassten. Mit Ehepaaren, die zugleich Eltern waren, auszugehen, war zermürbend. Den ganzen Abend wurde über nichts anderes gesprochen, als über Schule, Kindergarten, Aufgabe, während die Männer sich über Fußball ausließen.

„Verlorene Stunden“, dachte sie laut, „ich muss mit der Zeit sparsam umgehen, sonst geht es mir bald wie Ludwig. Keine Freude an irgendetwas, außer Zeitung lesen. Eine schreckliche Vorstellung, sprudelte sie zu laut hervor“.

„Was ist eine schreckliche Vorstellung?“, hörte sie hinter sich die bekannte Stimme ihres Mannes, leidend, leidenschaftslos, fad. Sie erschrak, weil er in ihrem Schlafzimmer stand, das kam schon lange nicht mehr vor. „Er will doch nicht etwa?“…Weiter kam sie nicht. „Wo hast du die heutige Tageszeitung gelassen?“, fragte er besorgt, weil er offensichtlich der Meinung war, sie sei nicht gekommen.

„Im Kühlschrank“, erwiderte sie. „Im Kühlschrank?“, wiederholte er irritiert. „Was tut eine Zeitung denn im Kühlschrank?“.

„Sie kühlt sich ab, was macht denn ein Kühlschrank? Er kühlt“. Warum muss eine Zeitung gekühlt sein?“, fragte er verstört. Sekundenlang war Schweigen angesagt. Sie hatte tatsächlich die Zeitung im Kühlschrank versteckt, weil es einfach ein gutes Versteck war. Wer sucht denn eine Zeitung im Kühlschrank?

„Warum nicht im Kühlschrank“, antwortete sie gelangweilt und musste sich umdrehen, damit Ludwig nicht sah, wie es sie vor Lachen durchschüttelte.

„Bist du denn bereits auf dem Wege zur Demenz?“, fragte ihr Mann beinahe besorgt.

„Das wäre gar nicht gut, Brigitte, du musst zum Arzt, wenn du öfter solche Anwandlungen hast. Außerdem antwortet man auf eine Frage nicht mit einer Gegenfrage, noch dazu auf diese“. Verunsichert legte er ihr noch einmal den Gang zu einem Arzt ans Herz.

„Arzt“…das war für sie das Stichwort. „Ich gehe ein paar Tage ins Krankenhaus und lasse mich durchchecken. In dieser Zeit bitte ich Waltraud, auf Ludwig aufzupassen“.

Ihren Mund umspielte ein spöttisches Lächeln. Die Idee mit Zeitung und Kühlschrank war allerdings gar nicht so schlecht. „Aufpassen“, das hört sich beinahe an, als müsste Waltraud Babysitten. Jetzt lachte sie sogar über ihre Gedankengänge.

Ludwig war jetzt zerknirscht, er sah Brigitte bereits im Gitterbett, wie sie vor sich hin dämmerte.

„Jedoch bis es so weit ist mit dem Gitterbett, komme ich noch zum Handkuss“. Er fuhr sich mit seiner Rechten durch sein dünn gewordenes braunes Haar, so dass sich unbewusst ein paar Strähnen hochstellten und er aussah wie einer der Gebrüder Max oder Moritz. Das wiederum veranlasste Brigitte zu einem Lachanfall.

Er überkam sie so plötzlich, wie ihr Mann so jäh vor ihr stand. Sie konnte sich nicht beherrschen. Der Anblick war zu komisch.

„Brigitte“, schrie jetzt Ludwig nicht nur besorgt, sondern ziemlich erzürnt. „Brigitte, was ist denn los mit dir? Du machst mir Angst und bange. Solche Anwandlungen kenne ich nicht von dir. Das ist ganz und gar nicht lustig. Also bitte hör auf mit dem Theater, sonst …“

„Was sonst?“, konterte Brigitte und ihr Lachen war zu einem Grunzen geworden.

„Willst du mir etwa drohen?“ Sie wandte sich zu ihrem Schminktisch um, begann etwas zu suchen, das es nicht gab, nur um ihn aus dem Zimmer zu kriegen. „Es ist alles mit mir in Ordnung, ich musste nur an die eingekühlte Zeitung denken“ und neuerlich bekam sie einen Lachanfall, dass ihr das Adressbuch aus der Hand zu Boden fiel. „Eine eingekühlte Zeitung dient dazu, die hitzigen Beiträge für die Leser nicht zu heiß werden zu lassen“, erklärte sie unter einem neuerlichen Lachanfall, weil diese Begründung so gut zu ihrem cholerischen Mann passte.

Jetzt musste sogar Ludwig lachen, was in letzter Zeit sehr selten vorkam, so spaßbefreit wie er sich seit Monaten gab. Sein Bauch, durch das Nichtstun zu einer ordentlichen Kuhle geworden, schwabberte dabei auf und ab. Lachend drehte er sich um und verließ das Zimmer.

„Wenigstens ist seine Laune wieder passabler, und ich muss mir nicht mein Date mit Paolo abschminken. Und Waltraud habe ich gefunden. Ein richtiger Glückstag für mich.“ Sie schmiedete bereits Pläne, wie sie im Haus alleine wohnte, während ihr Göttergatte mit seiner Göttin Hestia in deren Wohnung lebte. „Sie wird ihn richtiggehend einkochen“, lächelte sie bei dem Gedanken. Von Kochen hielt Brigitte schon ursprünglich nie sehr viel, manches Mal hatte sie sich dieser Kunst hingegeben, erfolglos, wie sie selbst zugab. Mit der Zeit erarbeitete sie sich auch hier einige Lorbeeren, weil Ludwig darauf bestand, seine Firmengäste zu Hause zu hoffieren.

„Dieses Kohlgemüse einst hatte es in sich“, wieder lachte sie laut auf, als sie sich in diese Erinnerung begab.

Ludwig liebt Kohl, vor allem wenn ein schönes Stück Fleisch dazu serviert wird.

Damals war ihre Ehe noch so halbwegs in Ordnung, obwohl die Tendenz zu deren Ende bereits an manchen Tagen spürbar war. Sie wollte ihm eine Freude bereiten und ihm nach seiner anstrengenden Arbeit etwas Gutes zum Essen bereiten, damit sie nicht noch ein Restaurant aufsuchen mussten.

Genau nach Rezept ihrer Mutter begann sie mit den Vorbereitungen. „Ist eh ganz einfach, die Kocherei“, murmelte sie vor sich hin, während das Gemüse vor sich hin köchelte.

„Jetzt noch die Einbrenn, alsdann müsste es hinhauen“, dachte sie und nahm einen Löffel, um zu kosten.

„Oh mein Gott“, schrie sie, das ist so was von versalzen, da ist mir glatt das Salzfass in die Brühe gerutscht. Macht nichts, Mutter sagte einmal, wenn etwas versalzen ist, kann man unter Umständen mit Essig retten.“

Rasch suchte sie nach dem Essig. Zum Glück wurde sie fündig, denn ihr Haushalt war kein richtiger Haushalt im Sinne einer ordentlichen Hausfrau. Sie leerte eine große Portion hinein, danach machte sie sich an die Einbrenn.

Als diese nach ihren Vorstellungen die Farbe hatte, die sie haben musste, rührte sie die Einmach in den Kohl und rührte, wie sie es von Mutter wusste, gut durch, damit keine Klumpen entstehen konnten. Damit hatte sie sich allerdings verschätzt, denn das ganze Kunstwerk wurde zu einem Klumpen. Ein dicker Knödel tat sich vor ihren Augen auf.

„Offensichtlich habe ich zu viel von diesem Mehlpapp gemacht“, tröstete sie sich, wegen diesem Fauxpas. Werde ich halt mit Wasser aufgießen, dass der Knödel zu einem Brei wird. Ist nicht so schlecht wegen dem vielen Salz, wenn Wasser hinzu kommt. Dann haben wir noch länger davon, friere was ein, und Ludwig freut sich, wenn er noch einmal Kohl kriegt.“

Der Knödel wurde tatsächlich zu einem dicken Brei, einem richtigen Mehlpapp, vom Kohl war nicht mehr viel zu sehen, aber das abgebratene Fleisch dazu würde dem Gericht sicherlich die nötige Note verleihen. „Vier Hauben werde ich dafür nicht kriegen, es reicht auch eine“, bemerkte sie zu ihrer Zufriedenheit.

Liebevoll richtete sie Ludwig einen Teller voll mit dem Kohlgemüse, bzw. Mehlpapp an. Ludwig sah etwas irritiert auf seinen Teller, wollte allerdings die Arbeit seiner Frau noch mit keinem Wort herabwürdigen.