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Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Aus der Laudatio, gehalten anlässlich der Preisverleihung der Vontobel-Stiftung, Zürich, für …des Lied ich sing‘:

Da ist der tief verschneite Feldweg

Der alte Mann lehnt sich – Stunden später – aufatmend in seinen Sessel zurück.

Der alte Mann am Frühstückstisch

Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch

Der alte Mann,

Der alte Mann liegt in seiner Badewanne

Der alte Mann steigt aus der Wanne

Der alte Mann steigt langsam

Der alte Mann begleitet Stapelfeld an die Haustür

Der alte Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer

Der alte Mann hat sich ins Wohnzimmer gesetzt

Der alte Mann steht im Ankleideraum

Der alte Mann steht in einer Traube von Menschen

Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch

Der alte Mann hat seine Brille aufgesetzt

Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch

Der alte Mann sitzt noch immer reglos hinter seinem Schreibtisch

Der alte Mann klingelt ungeduldig nach der Peters

Der alte Mann liest den neuen Redetext in Raten

Der alte Mann sitzt reglos

Der alte Mann steht immer noch am Fenster seines Büros

Der alte Mann wendet sich

Der alte Mann setzt sich doch noch an seinen Schreibtisch

Der alte Mann sitzt zusammengesunken

Der alte Mann war in seinem Sessel

Der alte Mann sitzt am kleinen Esstisch,

Der alte Mann liegt wach

Der alte Mann war schließlich doch noch eingeschlafen

Georg Schäfer lacht und reckt sich

Impressum neobooks

Aus der Laudatio, gehalten anlässlich der Preisverleihung der Vontobel-Stiftung, Zürich, für …des Lied ich sing‘:

Gerd Pfeifer erzählt den Aufstieg eines charakterarmen Profiteurs spannend und mit hoher Formulierungs- und Gestaltungskunst. Behend bewegt sich der Opportunist, Lebenskünstler und Schwerathlet Georg Schäfer durch die deutsche Vorkriegs- und Kriegszeit. Er läuft bei den Nationalsozialisten mit, obwohl ihn Politik wenig angeht. Aber es dient dem Geschäft. Auch bei den Frauen hat er Glück.

Die Biographie dieses anpasserischen, keineswegs simplen Protagonisten, der sich auch dem Kriegsdienst erfolgreich zu entziehen weiss, lässt die Anfänge der Judenverfolgung und die Zeitstimmung auf subtile Weise erkennen.

Zu Wort kommt später auch die Stimme eines alten, illusionslos zurückblickenden Mannes. Dabei versteht es Gerd Pfeifer, die verschiedenen Zeitebenen dieser fesselnden Schelmengeschichte virtuos zu verbinden.

Da ist der tief verschneite Feldweg

Im Vordergrund ein dichtes Gebüsch, dessen Zweige sich unter der Schneelast biegen. Dahinter die Landstraße mit dem vereisten Kopfsteinpflaster. Zwei Lastzüge mit Militärkennzeichen haben gerade Reifenspuren in die Schneedecke gezogen. Vor den offenen Türen ihrer Fahrerhäuser liegen verglühte Zigarettenreste. Es schneit. Ein böiger Wind treibt scharfe Eiskristalle vor sich her. Sie schmerzen im Gesicht. Die Landschaft versteckt sich hinter einem wabernden Schleier frostigen Nebels. Auf den Motorhauben wird der Schnee zu Wasser, sammelt sich in Tropfen, die über das heiße Blech rollen, auf den verschneiten Boden perlen und wieder gefrieren.

Zwei Schritte entfernt liegt die entsicherte Waffe. Sie ist unbenutzt. Der alte Mann, in seinem Traum noch jung und ungeduldig, stößt sie mit dem Fuß in den vom Schnee verwehten Graben. Neben den Toten. Auf dessen schwarzer Uniform kommen die stiebenden Kristalle zur Ruhe. Die silbernen Knöpfe sind vereist. Nur das Gesicht ist noch warm. Auf ihm taut der körnige Schnee. Die Wassertropfen sehen aus wie Schweiß. Der offene Mund entblößt reparierte Zähne. Kleine schwarze Fehlstellen in gelblichweißem Schmelz. Ein Auge hat sich wieder geöffnet. Es starrt den Zivilisten an, scheint ihn zu beobachten, verfolgt ihn. Auch jetzt, da er den Gehstock nimmt und die Dienstmütze mit dem Totenkopf neben die verkrampfte Hand des Toten rückt.

Dann ändert sich die Perspektive. Der Blick hebt sich vom Boden, versucht das Schneegestöber zu durchdringen. Aber es gibt nur Nähe. Nichts Fernes. Keinen Horizont, keinen Himmel, keine Weite. Die Welt besteht aus Vordergrund und treibendem Schnee. Die Bäume sind Schemen. Kein Laut. Nur diffuses Licht und weiße Flocken.

Wirklichkeitsfern schiebt sich die nächste Szene in den Traum: Schwarze Nackenhaare direkt vor seinen Augen. Er glaubt, den Duft des allgegenwärtigen Birkenwassers der Schutzstaffel in seiner Nase zu spüren. Für eine skurrile Sekunde wundert er sich, wie wenig Blonde die arische Elite der Nation in ihren Reihen zählt. Dann hält er konzentriert die Luft an. Auch im Traum. Alle Kraft legt er in diesen Augenblick des brechenden Halswirbels. Doch er horcht vergeblich. Der Traum ist lautlos. Einen entsetzten Moment hält er inne, atmet heftig aus und nimmt staunend wahr, wie schwer der tote Körper plötzlich ist. Er lässt ihn angeekelt fallen. In dieser gläsernen Sekunde wird ihm bewusst, dass der Mann, der da zur Erde fällt, von einem Augenblick zum anderen eine Sache geworden ist, ein Gegenstand, ein Ding, eine Leiche, ein Problem. Lästig. Hässlich. Tot. Doch im gleichen Atemzug ist er, der junge Mann in seinem Traum, überwältigt von einem unbändigen Triumph, von seinem Sieg, dem Jubel:

Ich lebe.

Es ist die pure Euphorie. Ein Glücksgefühl, das keinen Skrupel kennt und keine Scham. Keine Schuld. Keinen Zweifel:

Ich lebe.

Und wieder ändert sich das Bild: Zornig fährt er auf vereister Straße seinen Lastzug, eingekeilt in ein Heer armseliger menschlicher Kreaturen, die mit Koffern, Säcken, Beuteln, Kisten und Kartons auf Handwagen, Karren, Fahrrädern, Pferden, Leiterwagen, mit Kindern an der Hand, Kleinvieh in Käfigen, Tieren am Strick, Säuglingen im Arm stumpfsinnig, halb erfroren, angstgetrieben, todesmutig in langer Reihe nach Westen trotten, einer ungewissen, trostlosen Zukunft entgegen. Er hupt ungeduldig, drängt die langsameren Wagen wütend zur Seite, schimpft, flucht, sieht sich nicht um, schaut in keinen Rückspiegel, will nicht sehen, dass er einen Pferdewagen mit den Menschen und ihren ärmlichen Habseligkeiten in den Straßengraben gedrückt hat, blickt nur nach vorn, um ein Ende, einen Anfang des schier unendlichen Zugs zu erreichen.

Dann hört er die Flugzeuge. Sie kommen, tief geflogen, direkt auf ihn zu. Im Traum sieht er die hämischen Gesichter der Piloten, die jeden Einschlag ihrer Granaten, jeden neuen Toten mit einem Grinsen feiern.

Augenblicklich fährt er schneller. Rücksichtsloser noch als vorher. Wer vor ihm nicht zur Seite springt, wird überfahren, aus dem Weg katapultiert, zerschmettert, zerschlagen, zerstört, getötet. Der Lastzug schlingert, er fängt ihn ab, hupt, die Räder drehen durch. Die Flugzeuge kommen zurück, schießen auch diesmal daneben. Nur ein Seitenspiegel wird getroffen. Seine Finger krampfen sich um das Lenkrad. Tief drücken sich die Fingernägel in seine Handflächen. Blut quillt. Er brüllt und flucht unflätig, will den dumpfen Aufprall der zur Seite geschleuderten Körper nicht wahrnehmen, die Schreie der Überfahrenen nicht hören.

 

Er fährt um sein Leben.

Endlich erreicht er das kleine Waldstück, fährt hinein. Immer tiefer. Fragt sich, ob er jemals wieder hinausfinden wird, ob er wenden kann, bleibt schließlich vor einem umgestürzten Baum stehen, schaltet den Motor ab.

Und dann wird ihm die Stille bewusst, in der nur sein Schluchzen zu hören ist. Sonst gibt es keinen Laut. Nur Stille. Waldesstille. Totenstille.

Davon erwacht er.

Der Traum hat ihn freigegeben. Wieder einmal.

Für eine Weile bleibt der alte Mann reglos liegen. Er spürt den Schweiß auf seinem Rücken, setzt sich auf, schüttelt unwillig den Kopf und streicht fahrig mit den Handflächen über das weiße Bettzeug, wendet sie, betrachtet sie und erkennt die Abdrücke der Fingernägel zwischen den Furchen seiner Greisenhände. Kein Blut diesmal. Tief holt er Luft. Es klingt wie Seufzen.

Dann beruhigt er sich. Der Traum ist vorbei. Die Vergangenheit bewältigt. Er grinst aufsässig. Ihm fällt ein, dass er seinen Blutdruck messen sollte. Vielleicht sind Träume für sein krankes Herz gefährlicher als die alltägliche, gewohnte Routine.

Noch immer mit dem Trotz auf seinen Lippen lässt er sich zurück in die Kissen fallen, verschränkt die Hände hinter seinem Kopf und starrt an die Zimmerdecke, ohne sie zu sehen. So liegt er ein paar Minuten. Dann schaut er zur Uhr. Einen Moment zögert er, wie um zu überlegen, ob es die richtige Entscheidung ist. Schließlich nimmt er das Buch vom Nachttisch, blättert, bis er die Seite findet, über der ihm gestern Abend die Augen zugefallen sind, und beginnt zu lesen.

Ein neuer Tag hat seinen Anfang genommen.

Der alte Mann lehnt sich – Stunden später – aufatmend in seinen Sessel zurück.

Er legt das Buch beiseite, in dem er seit dem Morgengrauen liest, erst im Bett und später am großen Wohnzimmerfenster, dessen Flügeltüren bis zum teppichbelegten Fußboden reichen. Für eine Weile schaut er gedankenlos auf Utas Bild, das an der gegen­überliegenden weißen Wand hängt. Dann stemmt er seinen unwilligen Körper schwerfäl­lig aus dem Sessel, richtet sich vorsichtig auf, atmet tief durch und entspannt sich, als er nur den üblichen Rückenschmerz spürt. Schleppend geht er ins angren­zende Arbeitszimmer. Er macht kein Licht. Die Helligkeit des frühen Herbstmorgens reicht aus, um sich in dem kleinen Zimmer mit den Bücherregalen an den Wänden zu orientieren. Wahrscheinlich brauchte er überhaupt kein Licht. Al­les steht seit Jahrzehnten an seinem gewohnten Platz.

Teilnahmslos blättert er in den Papieren auf dem Schreibtisch. Er weiß nicht, was er finden will, oder ob er überhaupt etwas sucht. Ziellos stellt er sich ans Fenster, öff­net es einen Spaltbreit, schaut hinaus in den Garten und weiter in den Stadtpark, der gleich hinter einer breiten Hecke beginnt.

Vor Jahren führte dort ein öffentlicher Spazierweg vorbei. In Herbst und Winter, wenn nur noch blätterlose Zweige die Sicht versperrten, konnten die Passanten, falls sie gute Augen besaßen oder ein Fernglas benutzten – das kam öfter vor als die Anlie­ger dachten –, bis ins Wohnzimmer sehen. Erst wenn Schnee gefallen war, ließ die allgemeine Neugier nach. Die Angestellten des städtischen Gartenbauamts schaufel­ten nur die Hauptwege frei. Auf die verschneiten schmalen Pfade am Rand des Parks verirrte sich kaum noch jemand. Dennoch störte das öffentliche Interesse die Grundstücks­eigentümer. Der alte Mann mobilisierte seine Nachbarn. Einer von ihnen war ein bekannter Verwaltungsrechtler. Er sorgte dafür, dass die Stadtverwaltung die Grenzpfade mit blickdichten Sträuchern bepflanzte und verwildern ließ. Gegenüber der Presse ließ das Gartenbauamt etwas von Rückbau verlauten. Das war eine bewusste Irreführung, mit der die Lokalpolitiker noch die unsinnigste Straßenbaumaßnahme begründeten. Jedenfalls war der störende Weg nach einiger Zeit zugewachsen. Die auserlesenen Grundstücke der zu den größeren Steuerzahlern der Stadt zählenden Anwohner waren auch von der rückwärtigen Seite nicht mehr einsehbar.

Der alte Mann steht lange bewegungslos am Fenster und beobachtet, wie ein kräftiger Wind die letzten Blätter von den Zwei­gen weht. Auf der Terrasse bildet sich ein Wirbel, der das regenfeuchte Laub in eine Ecke fegt.

Gedankenverloren wendet er sich ab, geht zu seinem altmodi­schen Stehpult, das ihm die Mühe des Hinsetzens und Aufstehens erspart, und schreibt eine Notiz für den Gärtner. Vielleicht denkt er sogar daran, sie ihm rechtzeitig auszuhändigen. Manchmal vergisst er Dinge. Das Laub muss, bevor es zu verrotten beginnt, vom Ra­sen gekehrt werden. Wahrscheinlich weiß das der Gärtner. Aber es kann nicht schaden, ihn daran zu erinnern.

Früher hat er gelegentlich Arbeiten im Garten eigenhändig erledigt. Er liebte den Herbst, wenn er in der Morgendämmerung leichtfüßig im Stadtpark durch den Bodennebel lief. Nach einer halben Stunde kam er durch eine versteckte Gartenpforte zurück und freute sich auf eine heiße Dusche; von Zeit zu Zeit auch auf eine Gelegenheitsbekanntschaft, die im Bett auf ihn wartete.

Inzwischen sind die wilden Zeiten vorbei. Endgültig. Er hat sich mit den Unzulänglich­keiten seines Alters abgefunden. Auch die Nachmittage mit der Peters sind längst Ver­gangenheit. Seine verbrauchten Organe spielen nicht mehr mit. Und ein Übriges bewir­ken die Medikamente, die er regelmäßig nimmt.

Das Alter ist eine lästige Angelegenheit und Altersweisheit eine erlogene Erfindung der Resignation, von einer doppelbödigen Biedermeier-Gesinnung zur Tugend erhoben, um dem sinnlosen Dahinsiechen eine erhabene Bedeutung zu verleihen. Er bemüht sich nach Kräften, Sartre, Wilde, Cocteau, Shaw oder Bierce – er weiß nicht mehr, von wem das Bonmot stammt – nicht zu oft zu zitieren, von denen einer beklagte, dass die Jugend an viel zu junge Leute verschwendet werde.

Er schaut auf die Uhr. Es ist Zeit für sein Frühstück. Die neue Haushälterin gibt sich alle Mühe, leise zu sein. Er hört sie trotzdem. So leise kann niemand sein, dass er den Schlaf eines alten Mannes am Morgen durch das Öffnen der Haustür nicht stören würde.

Sein Frühstücksritual ist in all den Jahrzehnten, die er in diesem Haus lebt, so gut wie unverändert geblieben. Selbst die Tageszeitungen, die er kauend liest, sind weitgehend die gleichen. Und noch immer mag er die bittere Orangenmarmelade aus Südafrika, viel Butter – sein Cholesterinspiegel ist noch in Ordnung, sehr zur Verwun­derung der Ärzte, die seinen Fettverbrauch kennen –, gebratene Eier mit knusprigem Speck, Käse – dünn geschabten Tête de Moine – und frische Brötchen, die splittern, wenn er sie aufbricht. Nur auf den starken, süßen Kaffee früherer Tage verzichtet er. Auf Anraten seiner Ärzte gibt es jetzt dünnen Tee ohne Zucker und die unvermeidlichen Obstsäfte. Und natürlich eine Vielzahl von Tabletten. Gegen Bluthochdruck, zur Be­handlung von Ödemen bei Herzleistungsschwäche, gegen die Entstehung von Blutgerinn­seln, zur Hemmung des Zusammenhaftens von Blutplättchen, gegen zu hohen Sauer­stoffverbrauch des Herzens und andere Fehlfunktionen seines Körpers.

Noch vor weni­gen Jahren hat er sich über die Akribie lustig gemacht, mit der bereits jüngere Zeitge­nossen ihre bunten Pillen allmorgendlich neben den Frühstückstellern aufreihten. Heute führt er selbst sorgfältig Buch über seinen Medikamentenkonsum und fühlt sich schul­dig, wenn er – was häufiger vorkommt – die abendliche Einnahme seiner vorsorglich verschriebenen Lipidsenker vergisst. Falls er williger auf seine Ärzte einginge und der Pharmaindustrie weniger misstraute, würde sich die Zahl der Arzneimittel leicht verviel­fältigen lassen. Aber er glaubt nicht an die Allheilmacht der Chemie und die besserwisserische Weisheit der Medizin und ihrer Adepten. Zu oft hat er statt einer vernünftigen Antwort die rhetorische Frage gehört:

"Was erwarten Sie? In Ihrem Alter!"

Inzwischen ist er sicher: niemand kann heilen; Ärzte sind Reparateure mechanischer Unregelmäßigkeiten. Bestenfalls. Überhaupt werden seine Urteile, stellt er mit einem sich selbst verzeihenden Lächeln fest, immer apodiktischer. Ebenfalls eine Alterserscheinung. Widerspruch nimmt er äußerlich gelassen entgegen, beachtet ihn aber nicht. Er hält seine Auffassungen für durchdacht, wohlerwogen und abgeklärt, vielleicht nicht gera­de unumstößlich, aber doch feststehend und beispielgebend. Seine Meinung ist unverrückbar. Den Vorwurf des Altersstarrsinns lässt er an sich abprallen. Er will niemand überzeugen und nicht über­zeugt werden. Er hat sein nahezu biblisches Alter erreicht, ohne sich um die Meinung Anderer zu scheren. Es wäre unsinnig, ausgerechnet jetzt mit liebedienerischer Rück­sichtnahme auf die Jüngeren zu beginnen.

Dennoch hält er ausgesuchte Höflichkeit für unverzichtbar. Schroffheit liegt ihm nicht. Allerdings: je höflicher er wird, desto finsterer sind nicht selten seine Absichten. Das hat Utas Mutter in einem der wenigen Augenblicke behauptet, da sie eigene Überzeugungen preisgab. Er hat viel von ihr gelernt. Auch dass es sich weder ziemt noch besondere Vorteile bringt, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Dass er nun, im hohen Alter, mit diesem Grundsatz bricht, hat ihn selbst überrascht. Vielleicht ist es tatsächlich ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis alter Männer, über den eigenen Tod hinaus in der Nachwelt präsent zu sein – mit Kindern und Kindeskindern, mit wohltätigen Stiftungen oder Ehrenmalen, die allerdings ein wenig aus der Mode ge­kommen sind, mit Gebäuden, die den eigenen Namen tragen oder eben mit Alleen, die nach einem benannt werden.

Jedenfalls wird morgen die Georg-Schäfer-Allee feierlich dem öffentlichen Verkehr übergeben.

Angefangen hat das alles mit ein paar Mehrfamilienhäusern des sozialen Wohnungsbaus in der Vorstadt. Damals sollte er mehr als die Hälfte seines Einkommens der nichtsnutzigen Politikerkaste als Steuern überlassen. Da hielt er es für legitim, mehr Gedanken auf die Möglichkeit, Steuern zu sparen zu verwenden, als auf seine Einkommensmehrung. Es brachte mehr ein. Seine Berater waren – mit einigen Vorbehalten – der gleichen Meinung.

Allerdings musste er lernen, dass Steuersparen ein weites Feld für Scharlatane war. Mit der ihm eigenen Vorsicht vermied er die gröbsten Fehler. Aber es dauerte länger als zwei Jahre, ehe er sich endlich entschloss, eine größere Summe zu investieren. Er begann, steuer­begünstigte Sozialwohnungen zu bauen.

Im Laufe der Jahre wiederholte er die Transaktionen. Sie wurden zu einem Routine­geschäft und Georg Schäfer zu einem stadtbekannten Bauherrn, der gute Werke tat, indem er die Wohnungsnot linderte. Die erzielten Über­schüsse schwankten. Die Steuergesetzgebung änderte sich fast von Monat zu Monat. Und nach ein paar Jahren war der lokale Wohnungsmarkt gesättigt. Es war an der Zeit, den Inve­stitionsort zu wechseln, vielleicht sogar Wohnimmobilien als Kapitalanlage zu meiden. Einmal noch ließ er sich von den politischen Beamten der Stadtverwaltung überreden – gegen weitreichende Garantien für öffentliche Zuschüsse und Mieterzuweisungen –, ein ziemlich weitläufiges Areal im Einzugsbereich der Universität zu bebauen. Es war allen klar, dass es seine vorläufig letzte Wohnungsbauinvestition in der Stadt sein würde.

Dann waren die Bauten errichtet, die Wohnungen bezogen, Georg kassierte die Mieten und seine Steuervorteile, und jetzt war es an der Zeit, die Wohnanlage wieder zu verkaufen. Seine Makler suchten im Stillen, wenn auch nicht unbemerkt, nach einem geeigneten Investor.

Vielleicht war dies der Grund für das Angebot der politischen Platzhirsche, ihn mit einer Straße, die nach ihm benannt würde, zu ehren. Möglicherweise hatten sie mit seiner Weigerung gerechnet, auf diese Weise doch noch zu einer Art öffentlicher Person zu werden. Ohnehin ist es selbst hier in der Provinz unüblich, Straßen nach lebenden Persönlichkeiten zu benennen. Und bisher hatte er sich auch standhaft geweigert, Orden und Ehrenämter anzunehmen, selbst wenn sie mit einem Sold oder anderen Einkünften dotiert waren – der einzigen Ver­suchung, die ihn beeindrucken konnte.

Aber nun hat er sie alle – hoffentlich – ebenso gequält wie versteckt aufstöhnen lassen, als er die schmeichelhafte Ehrung unverhofft annahm.

Der alte Mann stützt sich immer noch mit beiden Händen am Rand des antiken, mit zahlreichen Gebrauchsschrammen verunzierten Stehpults ab und schaut milde lächelnd in den plötzlich hell gewordenen Garten. Die Sonne hat sich durch die dicke Wolken­decke gekämpft, und er versucht sich einzureden, dass es ausschließlich das fassungs­lose Entsetzen der korrupten lokalen Politikerbande über seine unerwartete Zusage war, das ihn zur Annahme der Ehrung bewegte. Aber so recht ist er davon nicht überzeugt. Allein aus kindlicher Schadenfreude zu handeln, ist nicht seine Art. Er glaubt sich zu kennen. Vermutlich hat auch ein Großteil Geltungssucht seine Entscheidung be­einflusst. Niemand ist frei von dem Verlangen, öffentlich und über den Tod hinaus geliebt, geehrt, be­wundert oder wenigstens gekannt zu werden.

 

Er hört die neue Haushälterin im Esszimmer mit Tellern und Schüsseln klappern und geht aufrecht und mit bemühter Lockerheit zum Frühstück.

"Guten Morgen!", sagt die Neue und scheint bestrebt, eine etwas angestrengt wir­kende Fröhlichkeit zu verbreiten. Er antwortet mit einem undeutlichen Brummen. Chronisch heitere Menschen sind ihm ein Gräuel. Wortlos setzt er sich. Die Brötchen sind nur aufgewärmt, aber kross. Zufrieden grummelnd nickt er und legt sich Eier und Speck auf den Teller. Während er kaut, schlägt er die Lokalzeitung auf. Die Ankündigung der feierlichen Einweihung seiner Straße hatte die Pressestelle der Stadt in der gestrigen Ausgabe veröffentlicht. Heute schweigt sich der Lokalteil aus. Warum sollte die Redaktion auch eine Sensation daraus machen? Namensgebungen sind ein alltäglicher Verwaltungsakt.

Was sein Vater wohl zu einer Straße gesagt hätte, die nach seinem Sohn benannt wird? Der Senior stellte zu seinen Lebzeiten keine hohen Ansprüche an den einzigen Sohn. Ihm reichte es, wenn er seinem Vater nicht auf der Tasche lag. Alles andere schien ihn wenig zu interessieren.

Sie hatten beide – Vater und Sohn – keine einfache Kindheit gehabt. Beide waren Gastwirtssöhne. Das bedeutet: sie wurden bereits in frühester Jugend mit den eher abstoßenden Seiten der mensch­lichen Existenz konfrontiert, und das wiederum lehrte sie, Menschen geringschätzig zu betrachten. Ihre Verachtung richtete sich gegen jedermann. Auch gegen die eigenen Eltern. Gegen die Väter, weil sie betrunkene Säufer betrogen; gegen ihre Mütter, weil sie den Zoten der Zecher noch eins draufsetzten; und gegen die Trinker, weil sie sich willig übervorteilen ließen. Sie lebten beide zu ihrer Zeit in einer seltsam leeren, bier­dunstgeschwängerten Welt ohne erkennbaren Halt.

Sein Vater war ein kräftiger Mann. Wenn er hemdsärmelig mit gezwirbeltem Schnurr­bart, wie es damals Mode war, nach Art seines Kaisers, ohne jemals eine Miene zu ver­ziehen am Zapfhahn stand, stellte er einen respekteinflößenden Patron dar, dem die Trun­kenbolde vor dem Tresen glaubten, dass er sein Lokal sauber halten konnte.

Seine Kundschaft bestand am frühen Morgen, noch bevor die Bierkutscher und Block­eislieferanten kamen, aus den Arbeitern der umliegenden Fabriken, den Handlangern aus dem Hafen und den Boten aus den Handelshäusern, aus den Handwerksgesellen, die auf dem Weg zur Arbeit statt eines Frühstücks ein schnelles Bier mit einem Korn hinunterspülten, und aus angetrunkenen Bordellbesuchern, die als letzte Freier aus den Hafen-Etablissements geworfen worden waren. Es war eine ernüchternde Atmosphäre, geprägt von der Hast, trotz des Aufenthalts am Schanktisch noch rechtzeitig am Arbeitsplatz zu erscheinen.

Etwas später, dann war es fast schon Vormittag, kamen die Handwerksmeister und kleinen Angestellten, deren Stellung es zuließ, dass sie ein ausgiebiges mitgebrachtes zweites Frühstück mit einem sorgfältig gezapften Bier zu sich nahmen. Mit ihnen unterhielt sich sein Vater wie mit seinesgleichen, und sie waren die Einzigen, denen Wilhelm senior gestat­tete, anschreiben zu lassen.

Nach ihnen kamen die Bierkutscher. Ihre vollen Bierfässer ließen sie vom Bierwagen, deren Pferde die Lieferorte mindestens ebenso gut kannten wie die Fuhrleute, auf ein mitgeführtes Lederpolster rollen, um sie anschließend im Bierkeller unterzubringen. Die leeren Holzfässer – das war für seinen Vater eine Frage der Ehre – wurden eigenhändig vom Kopfsteinpflaster der Fahrstraße auf die Ladefläche des Bierwagens gehoben. Und im Übrigen erhielten nur die Bierkutscher – und sonst niemand – Freibier, wenn sie fer­tig geladen hatten.

Anschließend legte sein Vater sich schlafen. Für das Mittagsgeschäft – ein paar Arbeiter, die ihre mitgebrachte Suppe aus einem Blechnapf löffelten oder Wurstbrote aßen, band sich seine Mutter eine Schürze um und animierte ihre Gäste mit einem Lä­cheln unter der sorgfältig ondulierten Frisur zu einem zweiten Bier oder einem zusätz­lichen Schnaps.

Als er etwa acht Jahre alt war, erinnert er sich, durfte er seiner Mutter, wenn er rechtzeitig aus der Schule heimkam, am Zapfhahn, den er mit Hilfe eines leeren hölzernen Bierkastens erreichen konnte, zur Hand gehen.

Nachmittags war der Schankraum meist leer. Hin und wieder setzte sich ein geplag­ter, oft misstrauisch beobachteter Hausierer – trotz des unübersehbar angebrachten Emailschilds Hausieren verboten – an einen der Gästetische, um bei einem Bier ein paar Minuten auszuruhen. Kaffee oder eine Limonade zu bestellen, wäre unmännlich gewesen.

Gewöhnlich war dies die Zeit, da die Fußbodendielen gefegt, gewischt und manchmal gewachst wurden. Dann saß Georg an einem der gescheuerten Tische und machte seine Hausaufgaben. Der Geruch von schalem Bier, billigem Pfeifentabak und desinfizierten Männerlatrinen begleitete seine Kindheit. Er bedeutete Heimat und Sicherheit. Der Sohn des Gastwirts Wilhelm Schäfer kannte es nicht anders.

Ein gewisses Ansehen hatte sich sein Vater durch die Mitgliedschaft im Altonaer Rasenkraftsportverein Teutonia erworben, dem nach einiger Zeit eine Gewichtheber-Abteilung angegliedert wurde. Georg begleitete seinen Vater zum wöchentlichen Training. In dieser Zeit stand seine Mutter allein hinter dem Tresen und wurde von Martha, einer drallen Blondine mit losem Mundwerk, bei der Bedienung der Gäste unter­stützt. Sie sorgte für jüngere Kundschaft – ein Vorgang, den sein Vater mit Misstrauen beobachtete. Er hielt auf den guten Ruf seiner Gastwirtschaft, in der er käufliche Frauen­zimmer nicht zuließ. Martha schwängerte er selbst. Es gab einen lautstarken Ehe­krach, und 'die Hure' verschwand. Seine Mutter blieb, und Georg hatte etwas über eheliche Treue, angeblich nicht zu unterdrückende vitale männliche Bedürfnisse und – vor allem – über weibliche Verhandlungskunst gelernt. Denn nach der zuerst polternd und dann wochenlang schweigend geführten ehelichen Auseinandersetzung wurde klar, dass sein Vater nun doch die gutgehende Eckkneipe aufgeben und seine Mutter endlich ihren langgehegten Wunsch erfüllt bekäme: sie würde ein Frühstücks- und Nachmittags-Café eröffnen, und zwar 'in einer unvergleichbar vornehmeren Gegend', wie sie meinte.

Das Geld für die Finanzierung des Vorhabens hatte Wilhelm während der Inflation verdient. Er befolgte den Rat eines heruntergekommenen Trinkers, der einmal ein Nationalökonom gewesen war und plausibel erklärt hatte, dass nur Schuldner, die sich 'gutes' Geld leihen, um es mit 'schlechtem' zurückzuzahlen, an der Inflation, die damals zu galoppieren begann, profitieren könnten. Und als danach die Reichsmark zu einer halbwegs stabilen Währung wurde, hatten beide Elternteile zusätzlich eisern gespart. Zwar mit unterschiedlichen Zielen, wie sich nun herausstellte, jedenfalls aber mit sichtlichem Erfolg.

An einem trostlosen Nachmittag des schweigend geführten ehelichen Machtkampfs seiner Eltern hielt Wilhelm die hartnäckige Sprachlosigkeit nicht mehr aus. Er redete mit seinem Sohn über das bisher verschwiegene Ziel seines Lebens: 'spätestens mit fünfzig' wolle er sich zurückziehen, die Gastwirtschaft verkaufen oder verpachten, ein gutbür­gerliches Mietshaus erwerben und sich einen sorgenfreien Lebensabend von seinen Mietern finanzieren lassen. "Ich habe in meinem Leben genug gearbeitet", sagte er, "mir die Nächte mit Säufern um die Ohren geschlagen und meine Gesundheit ruiniert. Damit wird dann endlich Schluss sein."

Georg konnte sich erinnern, dass sein Großvater ähnliche Wunschvorstellungen ge­habt haben sollte. Seine Mutter hatte ihm davon erzählt.

"Aber bevor er seine Pläne verwirklichen konnte, ist er an einem Schlaganfall ge­storben." Georg wusste damals nicht, ob sie Großvaters frühen Tod bedauerte oder eine Art Schadenfreude empfand. Und nun würde Wilhelm kein Mietshaus kaufen, dachte Georg, sondern seiner Mutter ein Café einrichten.

Aber vorläufig konnten sie kein geeignetes Objekt finden.