Der Tod zwischen den Inseln

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Der Tod zwischen den Inseln
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George Tenner

Der Tod zwischen den Inseln

Die Lasse Larsson Reihe, 7. Band

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

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Herstellung


Neuauflage 2020

George Tenner

Der Tod zwischen den Inseln

Usedom-Krimi

1. Kapitel

25. Juni 2007

Gaston Lloyd fuhr hinter die weiße Ferienanlage, die unmittelbar vor dem Becken des Hafens von Karlshagen auf Usedom lag. Er stieg aus dem silbergrauen BMW, einem Mietwagen von Europcar mit einer Wiesbadener Registriernummer aus, und schlenderte seelenruhig zum Eingang.

Die Haustür war geschlossen.

Lloyd zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Türe mit dem durch einen roten Kunststoffring gekennzeichneten Schlüssel. Es begegnete ihm niemand auf der Treppe. Das herrliche Sonnenwetter hatte die Gäste in ihrer Mehrzahl an den Strand gezogen, oder zu Wanderungen ins Usedomer Hinterland verführt. Aus der Wohnung neben seinen Räumen hörte er leise Musik.

Als er die Tür der Ferienwohnung geschlossen hatte, schaute er sich in aller Ruhe um. Die Wohnung bestand aus einer kleinen Pantry, dem Wohnraum mit dem faszinierenden Ausblick auf den Hafen sowie einem Schlafzimmer. Er schaute in die Schränke des Schlafzimmers, des Wohnraumes und des Flurs. Zu seiner Zufriedenheit waren sie leer. Nur in der Pantry fand er komplett vor, was ein vierköpfiger Haushalt brauchte. Außer dem modernen Herd verfügte sie über einen Geschirrspüler, ferner eine Kaffeemaschine. In den Hängeschränken fand er die notwendigen Töpfe nebst Pfannen. Von der Wand ließ sich ein kleiner Tisch abklappen, der zwei Menschen ausreichenden Platz zum Essen bot.

Gaston Lloyd ging zum Fahrzeug zurück. Er entnahm dem Kofferraum des Wagens eine Reisetasche, eine längliche Lederhülle im Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern und einer Länge von einem Meter. Sein Blick überflog den Rest der mitgebrachten Habseligkeiten. Er beschloss, sie vorerst zurückzulassen.

Er ging zur Ferienanlage zurück, blieb einen Augenblick stehen, als wolle er die Tasche in die andere Hand nehmen. Seine Blicke suchten den Hafen ab.

Vor ihm an der Pier, offensichtlich kurz vor dem Ablegen, zog eine Frau die Leine vom Poller auf das Vorschiff. Die Maschine arbeitete bereits, was er an dem leisen Motorengeräusch und dem Wasserausstoß bestätigt sah, der in unregelmäßiger Folge eine runde Aussparung an Backbord verließ. Plätschernd ergoss sich das Kühlwasser in den Hafen. Eilig ging die Frau zum Achterdeck, um dort ebenfalls die Vertäuung einzuholen, die das Schiff an Land festhielt. Auf dem erhöhten Steuerstand überwachte ein braun gebrannter Mittvierziger das Manöver. Als er sah, dass das Boot frei schwamm, ließ er es langsam anziehen. Dabei justierte er die ersten Meter mit dem Bugstrahlruder, um nicht die geringste Möglichkeit einer Kollision mit einem der anderen Boote zu gestatten. Majestätisch bot sich der Anblick der weißen Jacht, wie sie auf die Mitte des Hafenbeckens, dann in Richtung Norden Fahrt aufnahm.

Ein Stück begleiteten Lloyds Blicke die Stella Maris aus Hamburg. Abrupt wurde seine Aufmerksamkeit von einem Auto beansprucht, das kurz vor ihm zum Halten gezwungen war. Er machte eine entschuldigende Geste zu dem maulenden Fahrer, gab den Weg frei. Der Wagen rollte an ihm vorbei. Lloyd schaute zurück, zu dem zu dieser Stunde mäßig besuchten Lokal Veermaster. Dort werde ich essen gehen, bevor der Mittagsansturm einsetzt, dachte er.

Im Treppenhaus piepte das Handy. Er stellte das Gepäck kurz ab. Skagerrak Mélisande 25/14/15 Salamander.

Er schob das Handy in seine Tasche. Dann setzte den Weg zur Wohnung fort.

In der Wohnung angekommen, warf er die Tasche auf das Doppelbett im Schlafzimmer. Er packte ein Gestänge aus, steckte es im Wohnzimmer zusammen, sodass es dem Ständer einer Kameraausrüstung glich. Lloyd ging zum Schlafzimmer zurück. Er entnahm der Tasche ein kleines Bündel. Seitlich des Wohnzimmerfensters wickelte er ein Richtmikrofon aus, steckte es auf den Gestängeständer. Er ließ einen Sicherungsbügel über dem Mikrofon einrasten, das ein hochauflösendes Einrohrfernglas tragen würde, sofern er es aufsteckte. Er schaute auf seine Seiko-Astron-GPS-Weltzeituhr, einen 2.400 Euro teuren Solar-Herrenchronografen, den er sich von einem Teil der Entlohnung des letzten Auftrages gekauft hatte. Lloyd glaubte, sich das gönnen zu müssen. Wer weltweit operiert, sollte auch stets auf die weltweite Zeit zurückgreifen können. Schließlich pendelte er ständig zwischen seinem Geburtsort Wellington sowie London, seinem derzeitigen Hauptwohnsitz, hin und her. Da war eine solche Uhr von Nutzen. Eine halbe Stunde würde es ein warmes Essen geben.

Gaston Lloyd freute sich auf eine Mahlzeit mit einem schönen Stück Fisch. Zum Schluss prüfte er, ob der Akku des Aufzeichnungsgerätes für Tonaufnahmen über eine ausreichende Ladung verfügte. Das war der Fall.

Probehalber steckte er das Einrohrfernglas auf; er ließ seinen Blick durch das Glas über den Hafen gleiten, suchte durch Verstellung des Okulars die jeweils beste Auflösung zur erreichen. Wie genau es war, konnte er ermessen, wenn es ihm gelang, den Kassenbon, den die Verkäuferin in der Fischverkaufsstelle, die ein ortsansässiger Fischer mit seiner Familie betrieb, und die linksseitig zum Hafenbecken lag, mühelos zu entziffern. Ein Lächeln huschte ihm übers Gesicht. Ihm entging nichts. Nicht einmal die Fliegen, die sich auf die Fischreste stürzten, die einem Kind aus dem Brötchen gefallen waren. Bei der Wärme gäbe es bald ein Gewimmel von Maden.

Gerade als er das Stativ durch ein Tuch abdecken wollte, fiel ihm ein, das nur wenige Meter neben seinem Domizil befindliche Restaurant in Augenschein zu nehmen. Er sah ein jüngeres Pärchen den Veermaster verlassen. Es lief auf eines der nahe liegenden Segelboote am Pier zu. Zurück blieb die Bedienung des Restaurants. Der Anblick der Brünetten regte seinen Jagdinstinkt an. Es dauert nicht mehr lang, da setzt der Mittagsansturm ein, dachte Lloyd. Es ist besser, ich gehe gleich.

Gewissenhaft schloss er die Türe des Appartements ab, lauschte, ob er noch Musik der Nachbarwohnung hören könnte. Das war nicht der Fall. Beherzt setzte er den Weg fort. Kurze Zeit später stand er vor dem Veermaster. Auf einer der Segeljachten tingelte die Musik einer vergangenen Hitparade und hallte zu ihm herüber. Nicht übermäßig laut, dennoch konnte er ABBAs Hit Dancing Queen erkennen. Schon lange hatte er die Gruppe nicht mehr gehört. Leise summte er die Melodie mit. Eine Familie mit zwei Kindern kam auf ihn zu. Er wandte sich ab. Als sie an ihm vorbei waren, zog er eine Sonnenbrille mit sehr dunklen Gläsern aus der Brusttasche des Hemdes und setzte sie auf. Er ging die sechs Stufen hoch.

Durch vier polygonale Kantsäulen wurde der Anbau an das Haupthaus, einem zweistöckigen rotgrau melierten Ziegelanbau, getragen. Im Parterre lag das Außenrestaurant, das wegen der unmittelbar davor am Pier liegenden Boote ein überaus begehrter Sommerplatz war. In diesem Moment wurde gerade wieder einer der Tische besetzt. Er beschloss, ins Innere des Restaurants abzutauchen. Beherzt betrat er die Speisewirtschaft. Sein Kalkül, dass er in dem dunklen Raum um diese Zeit auf wenige Gäste treffen würde, ging auf.

Das gleißende Sonnenlicht, dem er entkommen war, machte ihn für einen Augenblick fast blind. Einen Augenblick drängte es ihn, seine Brille abzusetzen. Er entschloss sich, das zu unterlassen.

»Suchen Sie etwas?« Es musste die Stimme der jungen Frau mit dem brünetten Haar sein, die er zuvor durch das Glas so bewundert hatte. Er empfand ihre Stimme als äußerst sympathisch.

»Einen Tisch.«

»Es ist nahezu alles frei. Sehen Sie das nicht?«

»Nein.«

»Wie wär es, Sie setzten die Brille ab«, sagte die Frau lachend.

»Das würde ich gern, aber …« Er hörte ihre Schritte, die auf ihn zukamen. Dann sah sie schemenhaft. »Ich hatte eine Augenoperation. Die Brille ist derzeit noch notwendig.«

Von einem der Nebentische kamen leise Stimmen. Eine junge Frau lachte auf.

»Kommen Sie.« Beherzt fasste sie seine Hand, und führt ihn zu einem großen runden Tisch.

»Ist Ihnen der Platz hier recht?«,, fragte sie.

»Wenn Sie in meiner Nähe sind.« Umständlich nahm er Platz. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Er konnte das Gesicht der jungen Frau deutlich erkennen. Er fand, dass sie ihn hinreißend anlächelte. Was für ein Jammer, dachte er, dass sie eine Art Fata Morgana bleiben wird.

»Können Sie mir etwas zu essen empfehlen«, fragte Lloyd.

»Hirschsteak an sautierten Kräuterseitlingen und Rosmarinkartoffeln. Medaillons vom Schwein mit Kürbis-Chili-Kruste, mit Möhrenstiften in Butter-Macaire …«

»Nein«, beschied er knapp.

 

»Wie ist es mit Rinderhüftsteak mit Kürbis-Kruste und Kräuterseitlingen an getrüffeltem Kartoffelstampf?«

»Fisch. Ich bin am Meer, da möchte ich Fisch essen.«

Von der Tür kam eine rufende Stimme.

»Ich muss erst einmal draußen nach dem Rechten sehen«, sagte sie. »Hausgebeizter Lachs mit einer Senf-Dill-Soße, frischem Gemüse und Kartoffelrösti.« Sie stand auf.

»Das klingt schon besser.«

»Ich bin gleich zurück.«

Während die junge Frau dem Außenbereich zustrebte, schob er die Brille ein wenig hoch. Er musterte die Umgebung. Zufrieden ließ er sie erst auf die Nase zurückgleiten, als er sie kommen hörte. Durch ein Fenster zur Küche gab sie eine Bestellung auf. Sie kam zum Tisch zurück.

»Keinen Lachs?«

»Haben Sie nichts Besseres, etwas Typisches für den Veermaster?«

Sie war versucht, ihn nach seinem Dialekt zu fragen. Dazu fehlte ihr der Mut.

»Natürlich. Gebratene Ostseescholle Finkenwerder Art mit Gurken-Dill-Schmand an Bratkartoffeln.« Sie spürte seine Unschlüssigkeit. Darum ergänzte sie. »Ostsee-Zanderfilet mit Bordelaiser Kruste, Rieslingsoße und Stampfkartoffeln, oder …«

»Oder?«

»Ostsee-Dorsch im Speckmantel mit geschmorten Römersalatherzen an Rahmlinsen.«

»Das nehme ich. Sagen Sie bitte dem Koch, er möchte eine besonders große Fischportion reichen. Ich zahle das.«

Sie stand auf. Doch bevor sie sich abwenden konnte, fragte er: »Wie heißen sie eigentlich?«

»Conny.«

»Conny?«

»Das kommt von Cornelia.«

»Von Cornelia«, stellte er lapidar fest. »Man könnte ebenso gut Nele sagen, oder?«

Sie nickte. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Nur zu!«

Das Klingelzeichen aus der Küche zeigte, dass die Bestellung für den Außenbereich des Lokals fertig war.

»Dorsch im Speckmantel. Ist das in Ordnung?«

»Okay.«

Die Serviererin entfernte sich.

Sie wird neugierig, dachte er. Gut, soll sie nur.

Als sie zurück an den großen, runden Tisch kam, an dem er saß, sagte sie leise: »Sie haben mich nach meinem Namen gefragt, ich habe ihnen den gesagt.«

Lloyd lächelte. »Gaston, nach meinem französischen Großvater … mütterlicherseits«, sagte er. »Mein Vater wiederum stammt aus Südafrika und hieß Lloyd. Also heiße ich Gaston Lloyd. Zufrieden?«

»Interessant, aber ihr Dialekt.«

»Südafrika«, log er.

»Wow«, entfuhr es der Frau anerkennend. »Sie sind ein faszinierender Mann. Und was arbeitet so ein abwechslungsreich lebender Mann?«

»Ich bin Journalist … Freelancer. Im Augenblick arbeite ich an einer Reportage über Bootsflüchtlinge, die in Italien ankommen.«

»Lampedusa?«

»Die Zahl der afrikanischen Flüchtlinge, die per Boot auf der Insel anlanden, steigt und steigt«, sagte Lloyd bedeutungsvoll. Seine Worte unterstreichend hob er die Augenbrauen. »Allerdings erfüllt sich für die meisten Menschen die große Hoffnung auf ein besseres Leben nicht. Ich schreibe jetzt ein Buch darüber.«

Als der Ton der Küchenglocke anzeigte, dass wieder ein Essen bereitstünde, sagte die Serviererin: »Es sind Ihre Linsen.«

Wenig später war die junge Frau mit anderen Gästen beschäftigt, die nach und nach, zuerst die Plätze draußen mit dem unmittelbaren Hafenblick einnahmen, dann auch ins Lokal kamen.

Lloyd hasste Menschen. Er fühlte sich als Menschenfeind par excellence. Hin und wieder ließ er eine Frau für einige Tage näher an sich heran. Aber es würde ihm nicht einfallen, es mit einer länger auszuhalten als zwei, drei Tage über ein Wochenende. Wenn es hochkam, waren es zwei Wochen am Stück. Doch das hatte bisher nur eine der Frauen geschafft. Als er fertig gegessen hatte, zahlte er.

»Werden Sie wiederkommen?«, fragte sie.

»Vielleicht, wenn sie so schön lächeln wie im Augenblick, Nele … bestimmt sogar.«

Er ging hinaus. An den Liegeplätzen der Steganlagen des größten Hafens im deutschen Teil der Insel lag abends Boot an Boot. Einige Boote waren schon unterwegs, um das Sonnenwetter auf See zu genießen. Zwei der Schiffe machten ihre Eigner gerade fertig, um auszulaufen. Er lief auf der linksseitigen Seite des Hafens entlang. Im Fischladen, bei dem er zuvor mit dem Fernglas den Rechnungsbon gelesen hatte, bewunderte er das Angebot. Tatsächlich aber war er dabei, sämtliche Liegemöglichkeiten für Schiffe in sich aufzunehmen. Jene, die er erwartete, fanden nur an dieser Längsseite des Hafens Platz. Beruhigt ging er nach dieser Feststellung zu der angemieteten Wohnung zurück.

2. Kapitel

Ralswiek, 23. Juni 2007

Die vier Männer landeten am Vortag auf dem kleinsten Flugplatz Deutschlands, in Fehmarn Neujellingsdorf.

Drei wiesen ihre afrikanische Herkunft mittels ihrer Hautfarbe aus. Sie war unverkennbar … schwarz.

Zwei von ihnen wurden erst am 20. Juni mit British Airways via Nairobi in London Heathrow eingeflogen. Der erst zweiundzwanzigjährige Aaron Chandu, Sohn des Gründers der Kiliwhite Ltd., Juma Chandu, jenes sagenumwobenen Multimillionärs aus Nairobi, der auf mysteriöse Weise über ein, für afrikanisch Verhältnisse, unverhältnismäßig hohes Kapital verfügte, und Taabu Zahran, ein großgewachsener, dürrer Massai, die rechte Hand des afrikanischen Moguls, der die Überseegeschicke in der Hand hielt, gleich, auf welchem Kontinent der Welt sie der Kiliwhite Ltd. angeboten wurden. Der dritte Kenianer, Yakubu Uhuru, ein 45-jähriger Internetunternehmer kam aus dem Stamm der Kikuyu. Der Mitbegründer der Kiliwhite Ltd., dessen Tätigkeitsfeld als Stationsleiter des wichtigsten Außenstandortes der Gesellschaft in London lag, unterstützte mit Internet-Ambition die Arbeit. Er kam damit den Interessen aller Beteiligten sehr entgegen.

Nur der vierte Mitreisende, der stellvertretende Stationsleiter der Kiliwhite Ltd. in London, Hector Limas, war der einzige Weiße der Bootsbesatzung. Er verfügte über ein Patent, das ihn zur Führung eines solchen Bootes über die Meere befähigte, und eine Anmietung des Motorseglers erst ermöglichte.

Der zweiundvierzigjährige Limas war bei einer Großwildsafari Juma Chandu begegnet. Er hatte ihn an der Bar des Norfolk Tower getroffen, einer Institution in Nairobi, in der schon der alte Hemingway gewohnt, und an der Bar bis zum Abwinken gesoffen hatte. Bis zum Morgengrauen führten sie ein interessantes Streitgespräch über den Niedergang verschiedener Tierarten Afrikas. Gegen sechs Uhr verabschiedeten sie sich, um wenigstens einige Stunden Schlaf zu bekommen. Sie waren übereingekommen, dass Limas mit seinen Kontakten in der Wirtschaft, die weit über Großbritannien hinausgingen, in die Dienste der Kiliwhite Ltd. eintreten würde.

Am Mittag des Vortages war der seegängige Motorsegler Venus, eine in Deutschland gebaute Stahljacht von der Charterfirma verproviantiert worden. Noch am Nachmittag starteten die Männer die rund 80-Seemeilen-Reise.

Am Abend bereitete Taabu Zahran, Steaks vom Springbock vor, die er eingeschweißt mitgebracht hatte, um einen Hauch ostafrikanischer Heimat zu genießen. Nahezu jeder erkannte die Stammeszugehörigkeit des Mannes an seiner Körperlänge von mehr über zwei Metern. Doch spätestens, wenn er mit den wippenden Armen rennt, oder die Gangway eines Jets benutzt, identifizierte man ihn als Massai.

Nach Mitternacht übernahm Yakubu Uhuru das Ruder. Bis zu diesem Zeitpunkt war Hector Limas, bis auf wenige Minuten allein am Steuer gestanden. Zu gefährlich war der rege Schiffsverkehr innerhalb der Kadetrinne, in der Mecklenburg, zwischen der deutschen Halbinsel Fischland-Darß-Zingst und der Insel Falster auf dänischer Seite, die ihren Ruf als eines der schwierigsten und gefährlichsten Gewässer der gesamten Ostsee alle Ehre machte.

Zahlreiche Frachter jeder Größe, zwei gewaltige Tanker sowie die Fähren, die von Deutschland nach Dänemark und Schweden unterwegs waren, begegneten ihnen. Die weißen Fährschiffe mit dem roten Schornstein der Stena Line, die Kiel Göteborg und zurück bedienten, Moltzaus graue Armada, die Travemünde mit Gedser verband, und die Schiffe der TT-Linie.

Gleich, als sie ihre Schiffsreise begannen, waren sie einem Geschwader russischer Kriegsschiffe begegnet, das ihnen aus der östlichen Ostsee entgegenkam und in den Belt einlief, um über Kattegat und Skagerrak die Nordsee zu erreichen. Die Flotte bestand aus einer Reihe kleinerer Begleitschiffe, dem U-Boot-Jagdschiff Cевероморск der Nordflotte, dem Raketenkreuzer Варягs sowie dem großen U-Boot-Abwehrboot Маршал Шапошников. Gemeinsam hatten sie in der Region um die Insel Остров Мощный bis Церковь Святой Троиц an einer Übung teilgenommen. Nun waren sie auf der Reise zu ihren Stützpunkten außerhalb Russlands. Bis die Nacht hereinbrach, war Hector Limas immer nur für wenige Augenblicke zum Schlafen gekommen, denn er hatte jeden der Männer, die für kurze Zeit das Ruder übernehmen durften, eingebläut, ihn ja anzustoßen, wenn eines der Schiffe sie passierte, oder gar auf sie zukam. Sehr gefährlich wäre es gewesen, hätte eines der Riesenschiffe sie überlaufen. Limas wusste nur zu gut, dass sie jämmerlich ersaufen müssten, gäbe es eine solche Kollision.

Nach elf einhalb Stunden, um vier am Morgen, gewahrten sie das zuckende Licht des Leuchtturms vom Darßer Ort. Sechs Stunden später kam Hiddensee in Sicht. Gegen zwei Uhr am Nachmittag, nach rund 22 Stunden Fahrt lag die Insel querab. Sie näherten sich der Einfahrt in den Vitter Bodden, die sie gleich passieren müssten. Noch gut drei Stunden durch den Vitter und den Jasmunder Bodden; nur mit der Motorkraft des 80-PS-Diesels waren sie dabei, ihr Ziel Ralswiek auf Rügen anzusteuern.

Yakubu Uhuru, der Stationsleiter der Kiliwhite Ltd. in London, hatte den Spätdienst in der winzigen Pantry übernommen. Er bereitete ein typisches kenianisches Abendessen vor, einen ostafrikanischen Geflügelsalat. Wie die von Taabu Zahran vorbereiteten Steaks vom Springbock, so brachten sie auch das gekochte eingeschweißte Huhn mit. Wenngleich die in Europa lebenden Männer problemlos die Gerichte westlicher und internationaler Küche genossen, war es Taabu Zahran und der Junge Aaron Chandu, die heimische Gerichte vorzogen.

»Mach, dass du rauskommst, Aaron«, sagte Yakubu Uhuru. »Es ist ohnehin zu eng hier.«

»Aber ich bin hungrig«, widersprach Aaron Chandu.

»Ich habe dich niemals anders gesehen. Also raus.« Uhuru wischte die fettigen Hände an einigen Servietten ab, die er von der Küchenrolle gezogen hatte. Er nahm die geöffnete Dose mit den Ananasstücken, goss die Flüssigkeit in den Ausguss. Dann zerschnitt er die Stücke fingergroß. Er nahm nacheinander eine Dose Keniabohnen und eine Dose mit kleinen Champignons, goss deren Flüssigkeit ebenfalls ab. Er filetierte eine Orange, schnitt zwei Frühlingszwiebeln in dünne Ringe. Er schichtete alles in Lagen in eine große Kunststoffschüssel. Zwei Esslöffel Mayonnaise und zwei Esslöffel Mango Chutney, von einer halben Zitrone den Saft, eine Messerspitze Cayennepfeffer sowie einen Teelöffel Currypulver gab er hinzu. Dann rundete Yakubu Uhuru den Geschmack mit Salz und etwas Pfeffer aus der Mühle ab, bedeckte die Schüssel.

Im Bodden lag die Venus ruhig im Wasser. Dünungsfrei glitt sie leicht dahin. Gut, dachte Limas, dass ich von Fehmarn aus einen Liegeplatz bestellt habe. Jetzt, wo das Störtebekerfest in Ralswiek begonnen hat, sind die Liegeplätze ausgebucht. In das Gewühl des Festes abzutauchen, gehörte zu dem Plan, den Limas seinem Chef unterbreitet hatte. Sein Blick ging nach Steuerbord zum Schloss Ralswiek und der vorgelagerten Seebühne, auf dem die Störtebeker Festspiele stattfanden. Minuten später machten sie am Kopf des mittleren der drei Stege fest. Es war der Liegeplatz, den man Limas zugeteilt, und per Mail bestätigt hatte.

Wie aus dem Nichts tauchte der Hafenmeister auf, um die ungewöhnliche Crew des Schiffes auf die Gepflogenheiten des Hafens aufmerksam zu machen und die Liegegebühr zu kassieren.

Limas erledigte die Formalitäten, während die drei Männer unter Deck munter in Kisuaheli palaverten, was weder der Hafenmeister noch Limas verstand. Zum Schluss gab der Hafenmeister Limas eine Broschüre mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Insel – Störtebeker Festspiele, den Bahn, die Schiffsverbindungen und die Telefonnummer der örtlichen Taxizentrale. Der Mann verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war.

Der Himmel zeigte mäßige, graue Schlierenwolken. Limas beobachtete den Hafen. Er sah ein lebhaftes Treiben, was zu dieser Jahreszeit keineswegs etwas Besonderes war. Schließlich war Mitte Juni für viele schon der Urlaubsanfang. Die Störtebeker Festspiele waren ein faszinierender Anziehungspunkt. Exakt heute, dem 23. Juni war der Beginn der diesjährigen Festspiele. Verraten und verkauft war, nach In Henkers Hand 2006, die erste Inszenierung der neuen Episoden. Die Festspielleitung hatte diesen Zyklus für die nächsten sechs Jahre geplant.

 

»Ich möchte, dass wir immer eine Wache an Bord haben«, begann Limas, der mit Interesse wahrnahm, dass Uhuru den Tisch deckte, während sich die beiden anderen Männer um irgendetwas stritten, was Limas nicht verstand. »Habt ihr es gehört«, setzte Limas nach.

Die beiden Männer verstummten.

»Wir teilen Wachen ein. Nie wird unser Boot aus den Augen gelassen.«

»Gibt’s dafür einen Grund«, maulte der junge Aaron Chandu.

»Es ist eine alte Weisheit, Aaron. Lasse nie dein Schiff aus den Augen, es könnte gestohlen werden«, mischte Taabu Zahran sich ein. »Dein Vater würde dir das ebenfalls sagen.«

»Wir wollen doch zu diesem sherehe gehen«, begehrte Aaron auf.

»Es ist kein gewöhnliches Fest«, stellte Limas richtig. »Es sind Festspiele.«

»Tamasha«, sagte Taabu Zahran in Kisuaheli.

»Umso lieber gehe ich da hin.«

»Einer von euch sollte hierbleiben«, erklärte Limas.

»Warum?«, fragte Aaron.

»Weil Hector mitgehen sollte«, ließ Uhuru sich vernehmen.

»Weshalb sollte Hector mitgehen?«, fragte Aaron.

»Falls es Probleme gibt.«

»Probleme? Was für Probleme?«

»Wir sind in Deutschland«, sagte Limas.

»Und?«

»Da wird ab und zu ein Nigger totgeschlagen«, sagte Taabu Zahran lapidar.

»Du solltest nicht so respektlos von deinem Volk sprechen«, sagte Limas leise.

»Aber es stimmt.«

»Was stimmt?«, fragte Aaron nach.

»Dass es in Deutschland Fremdenhass gibt. Ganz vorn trifft er die schwarze Haut. Die kommt noch vor den Türken, denn die erkennt man erst richtig, wenn sie den Mund aufmachen«, sagte Yakubu Uhuru.

»Ich will da hingehen«, beharrte Aaron.

»Taabu …« Limas meinte das als Aufforderung an den Massai, ein Machtwort zu sprechen. Er wusste, dass Zarahn wohl der Einzige war, auf den Aaron hören würde.«

»Limas hat recht«, sagte Zahran. »Einer bleibt hier. Du wirst, der heute die erste Wache übernimmt, Aaron.«

Aaron schäumte. Doch er wusste, wie der Vater reagierte, würde der Massai über seine Widerspenstigkeit berichten.

Sie setzten sich in der Messe an den Tisch.

»Es sieht gut aus«, sagte Limas, als Yakubu Uhuru das Essen auf den Tisch stellte.

»Und es riecht schon verführerisch«, gab Aaron zu bedenken.

»Dabei könnte es wohl gerade für dich reichen«, sagte Yakubu Uhuru mit einem breiten Grinsen.

»Wir lassen ihm den Hauptanteil«, beschied Taabu Zahran kurz. Er legte sich einen Löffel des auch für ihn köstlichen Geflügelsalates vor. Dann brach er ein großes Stück eines der drei Baguettes ab, die ihre knackige Frische bereits verloren hatten. Doch das störte den Mann nicht.

»Der Hafenmeister hat uns eine Übersicht der Möglichkeiten gebracht, die uns die Insel bietet«, sagte Limas. »Wir werden sie wohl kaum nutzen können. Wir werden hier nur eine Nacht liegen, und müssen morgen am Spätnachmittag verschwunden sein.«

»Ist das ein Problem?«, fragte der Massai.

»Wir fahren, bis es dunkel wird, ankern draußen im Wieker Bodden«, sagte Limas. »Dann haben wir noch immer eine rund 10-Stunden-Reise bis zum Treffpunkt.«

Einen Augenblick schwiegen sie kauend.

»Wenn wir allen Unbilden aus dem Wege gehen wollen«, sagte Taabu Zahran nachdenklich, »bleiben wir gemeinsam an Bord bis morgen.«

»Glaubst du, dass es Ärger geben kann?«, brauste Aaron auf.

»Ich will es gar nicht darauf ankommen lassen. Was meinst du, Hector?«

Limas zucke mit der Schulter. »Jeder von uns brauchte zwar ein wenig Landgang. Doch müssen wir vermeiden, was die Operation gefährdet.«

»Dann bleiben wir heute alle an Bord«, beschied Taabu Zahran.

Aaron brauste auf. »Ich werde mit meinem Vater telefonieren.«

»Tu das«, sagte der Massai ruhig. »Aber er wird nicht sonderlich begeistert reagieren. Hat er doch ausdrücklich angeordnet, nur im äußersten Notfall Kontakt mit ihm aufzunehmen. Einen Notfall kann ich nicht erkennen.«

Aaron erkannte die aussichtslose Lage.

»Du kannst dich nützlich machen. Hilf Yakubu beim Abräumen, Aaron.« Taabu Zahran stand auf. Lass uns hochgehen«, sagte er zu Limas.

Die beiden Männer gingen ins Ruderhaus.

Der Massai schaute hinaus zum Horizont. Die Sonne ging glutrot unter. Es ist fast wie zu Hause, dachte er. Nur das Brüllen der Löwen fehlt, und der schnelle Wechsel vom Tag zur Nacht.

Limas steckte sich eine Zigarette an. Zweimal glühte sie auf, bevor er sagte: »Wir haben den Termin morgen elf Uhr. Die Frage ist, wer geht hin?«

»Ich denke, dass wir beide das machen werden«, sagte der Massai.

»Wie erklärst du das Yakubu? Er ist der Europachef.«

»Ich werde ihm sagen, dass er zusammen mit Aaron hier sein muss, weil wir gezwungen sind, nachzutanken.«

»Ich bin der Einzige mit einem Patent.«

»Wer weiß das außer uns? Yakubu ist schon mit seinem Vater auf dem Victoriasee zwischen Muhuru und Kisumu hin und her geschippert. Wusstest du das nicht? Der Alter war dort Kapitän. Yakubu kann das.«

Später, als der Massai über das Wasser des Jasmunder Boddens schaute, sah er in der Abenddämmerung ein großes Motorboot näherkommen. »Wir kriegen Besuch.«

Limas justierte das Fernglas. »Es ist ein umgebauter Fischkutter«, sagte er ruhig. »Solche Schiffe gibt es ebenfalls bei uns in Großbritannien, seegängig, zuverlässig. Sie bieten viel Raum.«

»Ein Fischkutter?«

Limas antwortete nicht. Er beobachtete, wie der Kutter am Kopf des linken Stegs festmachte.

»Es ist eine Frau an Bord«, sagte er nach einer Weile. Beruhigt legte er das Glas weg.

Yakubu Uhuru und Aaron spielten Scrabble. Aaron war ganz scharf darauf. Yakubu hingegen ließ es über sich ergehen. Sie mussten so die Zeit totschlagen, um den Jungen daran zu hindern, Unruhe wegen seines Wunsches zu verbreiten, die Störtebekerfestspiele nicht ansehen zu dürfen.

Kurz nach zehn ging Yakubu Uhuru, der eine der beiden Kojen im Vorschiff benutzte, und legte sich hin. Limas ging kurz nach ihm. Er war geschlaucht von den überlangen Wachen, die er während der Fahrt am Ruder gestanden, oder zumindest wach daneben aufgepasst hatte, dass keiner von den anderen ihr Schiff versenkte.

Aaron Chandu räumte das Spiel zusammen. Legst du dich gar nicht hin?«, fragte er.

Taabu Zahran schaute auf. Er schob das kleine Buch beiseite, in denen er stichartig Tagesereignisse notierte. Später würde er sich Erinnerungsanstöße holen, wenn er die Berichte für Juma Chandu, seinen Boss schreiben würde.

»Ich brauche wenig Schlaf«, sagte er. »Da ich keine Ruhe finde, solange du nicht im Bett bist, bleibe ich, bis auch du müde sein wirst.«

Aaron schluckte einen Fluch herunter. Dann ging wortlos ins Achterschiff, wo er sich die Kabine mit dem Massai teilte.

Taabu Zahran ging noch einmal hoch zum Steuerstand des Bootes. Er setzte sich und beobachtete in die Dunkelheit hinein, ob er im fahlen Licht der Laternen Bewegungen auszumachen konnte. Auch der umgebaute Fischkutter, der wenige Stunden zuvor ankam, lag im Dunklen. Er konnte keine Bewegung an Bord des Schiffes feststellen. Als er überprüft hatte, dass die Außentüren des Motorseglers verschlossen waren, ging auch er hinunter zu seiner Koje in der Heckkabine. Er bewegte sich wie ein Gepard beim Anschleichen an eine Beute. Bevor er die Schiebetür öffnete, lauschte er hinein. Was er vernahm, befriedigte ihn. Aaron stieß ein gedämpftes Röcheln aus, das der Massai schon aus anderen Nächten kannte. Sehr leise legte er sich auf die Koje. Er hatte sich nicht ausgezogen, um jederzeit sprungbereit zu sein, falls Aaron ihn erfolgreich getäuscht hatte. Seine Vorsicht war unbegründet.

Aarons gleichmäßiges Atmen zeigte ihm, dass der Sohn des Chefs der KW schlief. Doch wenn er versuchte, ihn zu täuschen, um von Bord zu schleichen. Er würde nicht einmal bis zur Messe kommen, denn der Massai war es aus vielen Nachtjagden und Wachen bei den Zelten während der Safaris in der ostafrikanischen Savanne gewöhnt, selbst die spärlichste Regung wahrzunehmen. Der kleinste Laut, den ein Löwe von sich geben würde, oder das Knacken eines Astes, wenn ein Springbock in der Nähe äste, wären ihm nicht entgangen. Hier lagen die Situationen anders. Doch die zarte Welle, die von einem Paddelboot übertragen, sich an der stählernen Wand des Schiffes leicht plätschernd brach, das leiseste Geräusch eines eintauchenden Paddels, – keiner der Mitreisenden könnte sie bemerken. Der Jagdinstinkt eines Massai aber schläft nie.