Der Tod zwischen den Inseln

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»Was für ein Boot war das?«, fragte Larsson. »Können Sie sich daran erinnern?«

»Nein. Bis zu der Steganlage sind es fast hundert Meter. Im Zwielicht ist da nicht allzu viel auszumachen. Nachdem es angelegt hatte, wurden auch die Beleuchtungen sofort ausgemacht.«

»Dass es groß war, daran erinnern Sie sich«, stellte Larsson fest.

»Viel größer jedenfalls als das, wonach Sie gefragt haben. Auch viel breiter. Ich dachte, es wäre ein Fischereischiff.«

Larsson schaute den Hafenmeister an. »Sie haben das Schiff nicht bemerkt?«

Neumann schüttelte den Kopf. »Nicht, als es hier lag. Wie ich am Morgen kam, war der linke Außenanleger des Steges leer. Gegen elf fuhr ich schnell mal mit dem Rad zum Räucherschiff rüber. Ich hatte Aale für meine Sommergäste bestellt, die ich abholen wollte. Da bemerkte ich etwa vierhundert Meter querab der Naturbühne einen Fischkutter, der bewegungslos dort vor Anker lag.«

»Das hat Sie nicht neugierig gemacht?«

»Nee, warum auch. Wenn ick wegen jedem Schipp, dat hier mol vor Anker geit, neugierig sin würde, käme ich aus der Neugier gar nich mehr ut.«

Larsson schaute die Frau wieder an, und knüpfte an ihre letzten Sätze an. »Die Beleuchtung des Schiffes ging aus.«

»Ja. Sie haben angelegt, das ging ruckzuck. Kurz darauf ging die Beleuchtung aus. Selbst das Kartenhaus blieb finster. Als ich meinen Blick von dem Schiff löste, sah ich auf dem weißen Schiff, das ja auf halber Strecke am mittleren Anleger festgemacht hatte, Licht in der Kajüte. Aber das ist auch alles, was ich Ihnen dazu sagen kann.«

Wir haben zwei Schiffe, die mysteriös sind. Eines ist spurlos verschwunden. Das Zweite hat hier gelegen und war am Morgen ebenfalls wieder verschwunden, wurde später auf Reede liegend gesichtet.

Larsson gab der Frau seine Karte. »Würden Sie mich anrufen, wenn Ihnen noch etwas dazu einfällt, Frau Ballach? Es ist auch die kleinste Kleinigkeit wichtig.«

Die Männer verließen das Schiff. Unterwegs zum Büro des Hafenmeisters versuchte dieser immer wieder, eine Verbindung mit dem Handy zustande zu bringen. Aber jeder Versuch blieb erfolglos.

»Ich versuche, die Josephine zu erreichen«, sagte der Hafenmeister erklärend, als er den fragenden Blick Larsson sah. »Entweder hat Eisenhardt das Handy abgeschaltet, oder er befindet sich in einem Funkloch. Letzteres kann ich mir aber kaum vorstellen.«

Die Windflaute schien wie eine Ruhe vor dem Sturm gewesen zu sein. Der Blick zum Himmel zeigte eine dunkle Wolke, die sich zwischen die weißen Quellwolken geschoben hatte.

»Braut sich da was zusammen?«, fragte Frielingsdorf.

»Sieht ganz so ut«, antwortete der Hafenmeister. »Ein wenig Wind würden die Segler ja begrüßen. Ick glof, mehr wird das auch nich hergeben.«

»Ich möchte mit diesem Eisenhardt sprechen«, sagte Larsson. Dann schaute er den Kollegen an. »Ich brauche eine Übernachtungsmöglichkeit in Bergen. Ich werde erst mit diesem Mann sprechen, bevor ich wieder abreise.«

»Sie haben ein Zimmer im Parkhotel in Bergen. Es ist für Sie reserviert«, sagte Hauptkommissar Frielingsdorf. »Das ist nur um die Ecke vom Revier.«

Vor dem Büro des Hafenmeisters trennten sich die Männer. Larsson gab dem Hafenmeister Neumann noch eine Visitenkarte, bat ihn, anzurufen, falls er etwas von dem Segler hören würde. Dann fuhren die beiden Kommissare nach Bergen zurück.

Frielingsdorf dachte zufrieden, dass Larsson auch nicht mehr erfahren hatte als er selbst.

Larsson wiederum tat, was er immer zu tun pflegte, wenn er einen neuen Fall übernahm. Er ging in Gedanken noch einmal alle Details durch, die er in den wenigen Stunden erfahren hatte. Später würde er sie mittels Tablet, das er mitgebracht hatte, manifestieren, damit er jedes auch noch so kleinste Teilstück behielt, und es zusammensetzen konnte wie ein Puzzle.

Larsson setzte Frielingsdorf in der Breitsprecherstraße 11 ab, fuhr dann weiter zur Stralsunder Chaussee Nummer 1, der Adresse, an der das 150-Zimmer-Hotel lag. Er checkte ein. Anschließend brachte er den Wagen in die Tiefgarage, nahm den roten Rucksack, den er immer für Kurzreisen zu packen pflegte, verschloss das Fahrzeug, und ging hinauf aufs Zimmer.

Während er am Auspacken war, klingelte das Handy. Es war Kriminalrat von Droste. Larsson meldete sich.

Droste steuerte ohne Umschweife auf sein Ziel zu. »Haben Sie etwas über den Motorsegler in Erfahrung bringen können?«

Es war der Ton, der Larsson zur Vorsicht mahnte. Was, in Gottes Namen, ist für das BKA von so großem Interesse, dass du mich nach wenigen Stunden bereits anrufst, Droste?

»Bisher nicht mehr, als mein Kollege Frielingsdorf aus Bergen zuvor schon in Erfahrung gebracht hatte. Die Venus lag nur etwa zwanzig Stunden in Ralswiek.«

»Und das ist alles, was an Fakten zu ermitteln war?«

»Bisher. Ich bleibe über Nacht. Morgen fahre ich noch mal zum Hafen, höre mich abermals um. Es ist hier ein ständiges Kommen und Gehen. Die meisten Boote, die vor fünf Tagen in Ralswiek waren, sind wieder abgereist.«

»Tun Sie das«, sagte Droste. »Richten Sie es so ein, dass sie am Montag in Berlin sein können. Und Larsson, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ihre Ermittlungen in diesem Fall einer besonderen Geheimhaltung unterliegen.« Von Droste machte noch einige Floskeln, dass er sich am Abend erholen möge, und beendete dann sehr schnell das Gespräch.

Jetzt hat er die Katze aus dem Sack gelassen. Ich habe es geahnt. Ihm war, als wäre der Kriminalrat erleichtert gewesen, dass er bei seiner Ermittlung nicht mehr gefunden hatte. Seine inneren Warnlampen begannen mit einem Male, rot aufzublinken. Wie gut, dass er den Kutter, der kurz nach der Venus gekommen war, doch am Morgen bereits den Hafen wieder verlassen hatte, nicht erwähnt hatte. Dass das Schiff auf Reede lag und wie eine Katze auf die Maus wartete, die irgendwann aus dem Hafen kommen würde, machte Larsson überaus misstrauisch. Er müsste herausbekommen, ob der Kutter seinen Platz zeitgleich mit der Venus verlassen hatte. Larsson fühlte, dass er an etwas Geheimnisvollen dran war. Was es war, konnte er nicht sagen. Nur, dass es dieses Etwas gab, weckte seinen Jagdinstinkt, schärfte aber auch seine Vorsicht.

Larsson fiel ein, dass er zum Frühstück das letzte Mal eine Kleinigkeit gegessen hatte. Deshalb ging er ins Restaurant des Hauses mit dem klangvollen Namen Orchidee. Er wählte Lachsfilet unter einer Kartoffel-Kräuterkruste auf Blattspinat mit Hummersauce, zum Dessert einen Eisbecher mit heißen Kirschen.

Immer wieder schaute er zu einer jungen Frau, die allein an einem Tisch saß, und die ihn auffällig beobachtete. Weil sie überdurchschnittlich hübsch war, weckte sie sein Interesse. Er verglich ihre Erscheinung mit der jungen Audrey Hepburn, wie jede Frau, die ihn über die Maßen interessierte. Selbst die hohen Wangenknochen, die die Hepburn besaß, schien sie zu besitzen. Nur die Haarfarbe unterschied sich. Im Gegensatz zur Hepburn, die schwarze Haare hatte, war sie brünett. Verglich er die beiden Frauen miteinander anhand der Vorstellung der Hepburn im Film Frühstück bei Tiffany, die sein Gehirn reproduzierte, so konnte die Brünette durchaus mithalten. Und diese Feststellung machte er so zum ersten Mal in seinem Leben.

Er winkte die Kellnerin heran. Er bat sie, die Restaurantrechnung zum Abzeichnen zu bringen, damit sie der Hotelrechnung zugeschlagen werden könnte. Jedes Mal, wenn er wieder zu der jungen Schönheit sah, trafen sich ihre Blicke. Sie war genau der Typ Frau, der ihn schwach werden lassen würde. Das wusste er genau, denn jedes Mal, wenn er auf diesen Typ Frau traf, beschlich ihn dieses Gefühl.

Er signiert die Rechnung und gab der Bedienung ein Trinkgeld. Dann begab er sich hoch aufs Zimmer. Er rief zu Hause an; Monika berichtete, wie ihr Tagesablauf gewesen war. Elina zahnte wohl noch nicht und schrie dennoch, sodass Schlaf in dieser Zeit der Entwicklung des Kindes ein Fremdwort wäre.

Pflichtgemäß bedauerte Larsson seine Frau. Alsdann begann er, die gesammelten Fakten in sein Lenovo einzugeben. Dabei schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Die letzten Tage, die er als Urlaub ganztägig zu Hause verbrachte, hatten eine Erholung sein sollen. Bei genauer Betrachtung gesehen, waren sie es nicht.

Monika hatte sich mit der Entbindung der kleinen Elina total verändert. War sie zuvor anschmiegsam, ja sogar sehr zärtlich gewesen, schien sie ihn jetzt abzulehnen. Larsson schob das auf einem veränderten Hormonspiegel. Wahrscheinlich würde sich das wieder ändern. Zumindest hoffte er das.

Er sicherte die abgespeicherten Notizen ein zweites Mal, schloss die Einstellung im Tablet, und klappte es zu. Im Bad schaute er in die Spiegelwand, die mit dem grauen Granit zu wetteifern schien. Sein Haar war zerzaust. Larsson feuchtete den Kamm an, scheitelte das Haar akkurat, kämmte es leicht nach hinten. Er ging ins Zimmer zurück, klappte die Enden seines Kragens hoch und band seine blaurotgemusterte Yves Saint Laurent-Krawatte einen respektablen Knoten. Er dachte an die brünette Schönheit.

Das hast du nicht wirklich vor!

Er zog den Knoten wieder auf und warf die Krawatte über den Sessel. Aus seinem kleinen roten Rucksack nahm er einen Kaschmirpullover heraus, den er lässig über die Schultern warf. Das zarte Gelb des Pullovers korrespondierte mit dem hellen Blau des Hemdes und dem dunklen Blau der maßgeschneiderten Hose.

Alles, was er trug, hatte er bei Brummer in Berlin gekauft, jenem legendären Herrenausstatter, der ihn schon seit seiner Zeit bei der siebten Mordkommission, der er in Berlin angehört hatte, bediente. Jedes Mal, wenn er die zweite Etage des Hauses in der Tauentzienstraße 17 besuchte, konnte er das Geschäft nicht verlassen, ohne einen Kauf zu tätigen. Zumal Brummer auch eine Damenabteilung betrieb. Die letzte Investition dort hatte er kurz vor Weihnachten getätigt, als er für Monika ein bezauberndes Abendkleid gekauft, und für sich den Pullover und ein paar italienische Schuhe erstanden hatte.

 

In seinen Gedanken erschien wieder die junge Frau, die er zwei Tische weiter während des Essens gesehen hatte. Es war für ihn schwer, sich von dieser Erscheinung freizumachen.

Er steckte sich sein Portemonnaie ein und ging zur Hotelbar. In diesem maritimen und zugleich modernen Ambiente der Bar mit dem Namen Störtebeker lässt es sich herrlich vom Stress des Tages erholen, dachte Larsson. Zu dieser Zeit war die Bar noch mäßig besetzt. Er setzte sich an die Theke. Er bestellte erst einmal ein Radeberger Bier.

Wenig später begann ein Pianist mit einer Serie von Unterhaltungsmusik – mit Blue Moon, das Larsson von Ella Fitzgerald und Dean Martin kannte, über Smile und You’re nobody 'till somebody loves you. Als Larsson festgestellt hatte, dass sich der Pianist auf die Lieder Dean Martins eingeschossen hatte, war der Mann dabei, die Serie mit As time goes by zu beenden. Er imitierte die Stimme Dooley Wilsons, was ihm nahezu gelang.

»Guten Abend. Darf ich bei Ihnen Platz nehmen?«

Obwohl er mit dem Rücken zu der Stimme saß, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Langsam drehte er sich um. Da stand sie. Die Frau hatte sich umgezogen, trug jetzt ein feuerrotes, eng anliegendes Seidenkleid, in dem sie noch bezaubernder aussah als zuvor im Restaurant. Sie strahlte ihn an, sang die letzten Zeilen des Liedes leise mit: »It's still the same old story – A fight for love and glory – A case of do or die. The world will always welcome lovers – As time goes by

Larsson faszinierte ihre lockere Art.

Mit dem letzten Ton, den der Pianist dem Instrument und seiner rauchigen Stimme entlockt hatte, war Larsson von seinem Barhocker gerutscht. Er zog den nächsten freien Platz so zurecht, dass sie direkt neben ihm darauf Platz nehmen konnte.

»Ich wette, Sie haben schon auf mich gewartet«, girrte sie leise in sein Ohr.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich weiß es.«

»Wirklich?« Larsson wusste, dass sie recht hatte.

»Ja«, sagte sie, und lächelte ihn geradezu unverschämt an. »Ich habe nämlich den gleichen Blick bei Männern gesehen, wenn sie mich zum ersten Mal nackt sahen. Unter Umständen werde ich ja diesen Blick heute noch einmal sehen, noch intensiver.«

Lasse Larsson war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, nicht nach all dem gelebten Leben mit seinen Höhen und Tiefen, und mit den Frauen, die mit ihm seine Zeit geteilten. Er benutzte allzu gern den Spruch: Der Wind kommt und geht, aber das Meer bleibt. Du bist der Wind … und ich bin das Meer, das bleibt. Immer dann hatte er diesen Vergleich gebraucht, wenn er eine Beziehung beendete. Aber es gab durchaus Frauen, die dieses Spiel nicht mitmachten, die ihn wegen dieses Spruches auslachten. Und das waren die Niederlagen, die er auch als solche erkannte. Augenblicklich dachte er an den Brief, mit dem sich Chiara in Berlin von ihm verabschiedet hatte.

Lieber Lasse,

manchmal endet eine Liebe abrupt – so wie jetzt bei uns … Doch lass dich vom plötzlichen Ende nicht täuschen, wir hatten schon lange keine Gemeinsamkeiten mehr. Diese aber sind für mich unverzichtbar. Ich erwarte vom Leben mehr als zweimal in der Woche einen mittelmäßigen Sex. Du bist mit deinem Kommissariat verheiratet – mit mir hast du nur eine Art Zusammenleben geübt, die keine richtige Frau so hinnehmen kann.

Lebe wohl und alles Gute für deine Zukunft. Mögest du die Frau finden, die bescheiden genug ist, sich mit dem Wenigen zufriedenzugeben, das du ihr zubilligst.

Chiara

Das war unmittelbar, bevor er sich nach Anklam hatte versetzen lassen. Und genau das war jetzt der falsche Moment, daran erinnert zu werden.

Sie waren beim dritten Drink mit dem Namen Parkhotel Zauber, einem Mix aus Blue Curaçao, weißen Rum, Martini Rosso, Orange und Maracuja als Charlene laut feststellte, dass sie keinesfalls mehr trinken würde.

Der Pianist war inzwischen bei New York, New York angekommen. Es war aber nicht die Interpretation Frank Sinatras. Vielmehr hatte er seine Stimme jener von Sammy Davis Junior angeglichen, die sich weit von der Sinatras unterschied. Obwohl auch Larsson leicht vom Alkohol angegangen war, hatte er das gleich bemerkt. Der Mann ist ein Stimmwunder, dachte Larsson. Doch, als der Pianist My Romance intonierte, verlangte Larsson die Rechnung.

Sie verließen die Bar. Im Fahrstuhl fragte Charlene Larsson, ob er noch auf ein Glas Champagner mit auf ihr Zimmer käme. Die Art, wie sie fragte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was sie vorhatte.

»Was du dir merken solltest … Ein Kuss ist ein Kuss und ein Seufzen ist ein Seufzen. Nicht mehr und nicht weniger«, hauchte sie.

»Das hat nichts mit Liebe zu tun«, stellte Larsson fest.

»Es ist der deutsche Text von As time goes by«, sagte sie, »und der geht weiter.«

»Wie?«

»Das sind fundamentale Dinge, die ihre Bedeutung behalten. Jederzeit.«

Der Fahrstuhl hielt.

»Also? Champagner?« Ihr Lächeln war ein einziges Zugeständnis.

Als sie in ihrem Zimmer waren, umarmte sie ihn und flüsterte: »Und wenn zwei Menschen umeinander werben, dann werden sie irgendwann diese drei Worte sagen: »Ich liebe Dich. Darauf kannst du dich ebenfalls verlassen. Ganz egal, was kommt, das ist so und das bleibt so. Gestern, heute, morgen.«

*

Gegen vier am Morgen wachte Larsson auf. Unvermittelt stellte er fest, nicht in seinem Bett zu liegen. Sein Kopf dröhnte. Neben ihm lag Charlene so und so. Wie eigentlich? Im Augenblick konnte er sich nicht erinnern, dass sie sich mit ihrem Familiennamen vorgestellt hatte. Dennoch erinnerte er gut sich daran, dass sie einen roten Büstenhalter und einen gleichfarbigen Slip getragen hatte, Unterwäsche, die farblich exakt auf das ihn beeindruckende Kleid abgestimmt waren.

Er überzeugte sich davon, dass sie gleichmäßig atmete. Dann schälte er sich vorsichtig aus dem Bett. Er angelte sich seine Unterwäsche, zog sich an. Das letzte Glas Champagner war zu viel des Guten gewesen. Fertig angezogen verließ er leise das Zimmer Charlenes. Auf dem Gang war alles still.

In seinem Zimmer angekommen, schlich er ins Bad, putzte die Zähne. Dann ging er zurück, entkleidete sich und legte sich in sein Bett. Auf seinem Nachttisch lag sein Smartphone. Routine gemäß checkte er es. Es war eine Mail eingegangen. Sie war vom Hafenmeister Neumann.

Ich habe den Eigner von der Josephine erreicht. Eisenhardt hat einige Dinge, die Sie interessieren dürften. Wenn Sie Interesse haben, seien sie morgen früh um neun bei mir im Büro.

MfG Klaus Neumann

Larsson stellte seinen Smartphone-Wecker auf sieben Uhr.

*

Er ließ seinen Wagen ausrollen und stellte ihn nur wenige Meter vom Büro des Hafenmeisters entfernt ab. Im Spiegel des Wagens überprüfte er nochmals sein Aussehen. Er stellte fest, dass er unausgeschlafen aussah. Sein Gesicht könnte frischer aussehen, hätte er sich rasiert. Aber ihm war nicht danach gewesen. Schon gar nicht, weil er Mühe hatte, nach dieser Nacht überhaupt pünktlich zu sein. Aus der Mittelkonsole nahm er eine Bürste, strich sich sorgfältig die Haare glatt.

Noch waren nicht Hunderte Menschen gleichzeitig im Hafen von Ralswiek unterwegs. Dennoch hatte das Treiben bereits seinen Anfang genommen. Die ersten Segelboote wurden startklar gemacht, andere waren schon unterwegs, um den schönen Tag auf dem Wasser zu nutzen. An einem noch festliegenden Boot der Drachenklasse flatterte die Fock aufgeregt im ersten leichten Wind, während die Frau des Eigners noch die Verpflegung für den Tag in die nach hinten offene, für diese Klasse typische Kabine einräumte.

Larsson klopfte kurz und ging ins Büro des Hafenmeisters, der ihm freundlich entgegengrinste.

»Da hat sie meine SMS doch erreicht. Ich dachte schon, die Nachricht würden Sie vor der Abreise gar nicht mehr rechtzeitig finden.«

Auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch des Hafenmeisters saß ein Mann mit grau meliertem Haar, dem Alter nach, ein Rentner um die Siebzig. Larsson nickte ihm zu, und stellte sich vor.

»Mein Freund Klaus hat mich angerufen. Er sagte, dass sie nach einem bestimmten Schiff suchen.«

Larsson nickte. »Ich habe nur eine ungenaue Beschreibung dazu bekommen. Ein relativ großes Schiff, das dickbauchiger sein soll, als der Motorsegler, der vor fünf Tagen hier für eine Nacht gelegen hat.«

Eisenhardt Kniff ein Auge zu und sagte: »Ich weiß genau, welches Schiff sie suchen. Es ist ein Kutter. Keiner, der hier in der DDR gebaut worden ist. Die kenne ich alle aus dem FF. Schließlich habe ich dreißig Jahre auf der Volkswerft Stralsund gearbeitet. Wir haben auch solche Fischereischiffe gebaut.«

»Erinnern Sie sich an die Farbe des Kutters?«

Eisenhardt lächelte. »Mausgrau.«

»Wie ein Schiff, das eine Armee betreibt?«, fragte Larsson.

»Na ja, fast. Es war am Bug mit einem dunkelblauen, wellenartigen Streifen oberhalb der Wasserlinie abgesetzt.«

»Das fast bedeutet, dass Sie mich auf etwas anderes aufmerksam machen wollen, stimmt’s?«

Eisenhardt zog sein Apple-Handy heraus. Er holte ein Bild auf das Display und zeigte es Larsson.

»Dieser blaue Fischkutter wurde Ende der Siebzigerjahre bei der Sieghold Werft in Bremen gebaut. Er war einer der Ersten, bei dem das Ruderhaus vor dem Mast aufgebaut wurde. Diese Anordnung ließ ein großes geschütztes Arbeitsdeck im hinteren Teil zu. Irgendwann in den Achtzigerjahren wurde das Fahrzeug neben zwei seitlichen Schleppnetzen mit einem dritten Fanggeschirr am Heck ausgerüstet. 1994 wurde dann das Schiff total modernisiert.«

Larsson dachte einige Augenblicke nach.

»Und das wissen Sie so genau?«, fragte Larsson zweifelnd.

»Ich kannte Manfred Friedhoff, den Kapitän und Eigner des Schiffes.« Eisenhardt sah den misstrauischen Blick Larssons. Deshalb fuhr er fort: »Anlässlich einer privaten Reise in die damalige BRD zur Beerdigung meiner Großmutter lernte ich ihn in Bremerhaven kennen. Über was anderes als Fischereifahrzeuge hätten wir uns wohl unterhalten können?«

»Verstehe, aber was wollen Sie mir damit sagen?«, insistierte Larsson.

Eisenhardt rief ein anderes Bild auf. »Dieses Foto zeigt das von Ihnen gesuchte Schiff. Es ist nahezu baugleich mit der WER.5, die ich Ihnen zuvor zeigte.«

Larsson staunte. »Aber. Es sieht doch ganz anders aus.«

»Ja, das Überwasserschiff sieht anders aus. Der breite Heckbaum für die Führung des mittleren Schleppnetzes fehlt. Auch der große Mastbaum, der für das Aufziehen der Seitennetze da war, ist weg. Dafür sind die Aufbauten an das Ruderhaus gesetzt worden. Damit wurde die Bewohnbarkeit des Schiffes weit erhöht. Schauen Sie sich den Rumpf beider Schiffe an. Ich denke, wenn sie die Risse ausdrucken und übereinanderlegen, werden sie die Baugleichheit erkennen.

Larsson schaute sich erst das erste Bild, dann das zweite noch einmal an. Er war sich nicht schlüssig darüber, ob der Mann recht hatte, gestand sich aber ein, dass er es zumindest in Betracht ziehen musste.

»Ich habe die halbe Nacht im Internet nach den Daten des Schiffes gesucht … Länge 19,40 m, Breite 5,30 m, Tiefgang 1,90 m. Der Rumpf ist aus Stahl. Das kommt hin. Wäre der Kutter auch nur zwanzig oder dreißig Zentimeter tiefgängiger gewesen, hätte er nicht dort liegen können, wo ich ihn gesehen habe«, sagte Eisenhardt. »Kommen Sie mal mit.«

Die beiden Männer gingen vor die Tür, machten einige Schritte auf die Liegeplätze der Boote zu.

Eisenhardt zeigte auf das Wasser vor der Hafeneinfahrt. »Wenn Sie dort übers Wasser sehen, erkennen Sie die hellen Stellen. Das sind Sandbänke. Zum Teil ist das Wasser dort nur vierzig, fünfzig Zentimeter tief. Die betonnte Fahrrinne ist auf vier Meter ausgebaggert. Aber wie kommt ein Schiff von fast zwei Metern Tiefgang genau zwischen die Sandbänke?«

Die Beschreibung Eisenhardts deckte sich mit der Wahrnehmung des Schiffes durch den Hafenmeister am Vormittag des 24. Juni, als dieser zum Räucherschiff Elbe gefahren war. Soweit stimmte das offenbar überein. Sie gingen zurück ins Büro des Hafenmeisters.

»Nur mit Elektronik».

»Waren sie dicht an ihm dran?«

 

»Sechs, sieben Meter«, sagte Eisenhardt.

Die Männer schwiegen einen Augenblick, während Neumann frisch gebrühten Kaffee in Pötte füllte und sie vor den Männern hinstellte.

»Ist Ihnen noch etwas Besonderes aufgefallen?«

»Nur, dass anfangs niemand an Bord zu sehen war. Das Schiff lag wie ausgestorben da. Aber als ich bis auf vier, fünf Meter herangekommen war, kam ein Mann aus dem Ruderhaus, gestikuliert mit den Armen, was mir bedeuten sollte, ich möge weiterfahren und beobachtete mich schließlich mit einem Fernglas, bis ich außer seiner Sichtweite war.«

Eisenhardt hob die Tasse. Er nahm einen kräftigen Schluck des starken Kaffees. »Offensichtlich wollte er mich vertreiben. Worauf ich Sie aber ganz besonders aufmerksam machen wollte, waren die Antennen. Sie unterschieden sich deutlich von den Antennen, die ich auf den Kuttern und Trawlern in Erinnerung habe.«

Larsson schaute sich das Bild auf dem Display noch einmal genau an. »Haben Sie noch mehr Bilder von diesem Schiff gemacht?«

»Vom späten Nachmittag. Der Motorsegler war zu der Zeit dabei, in Richtung Wiek zu laufen. Nicht unter Segel, sondern mit der Maschine. Der Kutter kam etwa zwei Meilen dahinter und machte dann am Blewser Haken, einem ehemaligen Stützpunkt der 6. Flottille der DDR-Marine im Wieker Bodden, fest. Ich konnte das durch das Fernglas genau sehen. Von beiden Booten habe ich Fotos gemacht. Aber diese Bilder sind zu klein.«

»Können Sie mir alle Bilder, die Sie von den beiden Schiffen gemacht haben, auf ein Smartphone senden?«

Eisenhardt sah den Hafenmeister grinsend an. »Soll ich, Klaus?«

Neumann hob die Schulter und machte ein vielsagendes Gesicht.

Larsson sagte seine Handynummer an. Eisenhardt schickte Bild für Bild auf die Reise. Glücklicherweise hatte er auch noch die Tagesdaten während der Aufnahme eingeblendet, sodass man nachvollziehen konnte, wann die Schiffe aufgenommen wurden.

Als Eisenhardt die Aktion mit einem »So, alle Aufnahmen sind bei Ihnen« beendete, zog Larsson einen zwanzig Euroschein aus der Tasche.

»Für einen gemeinsamen Drink ist es jetzt noch zu früh. Ich denke, sie werden im Laufe des Tages Zeit dafür finden, und einen für mich mittrinken.« Er notierte sich die Heimatadresse, auch die Telefonnummer Eisenhardts in Stralsund für den Fall, dass sich weitere Nachfragen ergeben würden. Dann bedankte er sich noch einmal für die Hilfe und verabschiedete sich.

Der nächste Weg führte ihn zum Räucherschiff Elbe. Dort erstand er drei mittelgroße Aale, die er sich für die Heimreise ordentlich einpacken ließ.

Gegen elf fuhr er durch Bergen, dachte daran, noch einmal im Parkhotel vorbeizuschauen, um nach Charlene so und so zu sehen. Dann aber schüttelte er das Verlangen ab, um sich nicht so weit festzulegen, eine ernsthafte Differenzsituation zu seiner Ehe herzustellen.

Zum Glück fuhren bei diesem Wetter um diese Uhrzeit mehr in Richtung auf die Insel, als wieder von ihr herunter, sodass er gemessen an anderen schnell vorankam. Dennoch hätte er sich gewünscht, dass die neue Brücke über den Strelasund, mit deren Bau man drei Jahre zuvor begonnen hatte, und die man voraussichtlich im Oktober einweihen würde, bereits fertig wäre. So aber musste er sich mit dem Rügendamm begnügen, dessen Kapazität ein zügiges Vorankommen relativierte.

Die Silhouette Stralsunds mit ihren drei bedeutenden Kirchen tauchte auf.

St. Nikolai, die älteste der drei großen Pfarrkirchen der Hansestadt Stralsunds, die im Jahr 1276 erstmals urkundlich erwähnt wurde, gilt gleichzeitig als einer der schönsten Sakralbauten Norddeutschlands. Ihren Namen erhielt die Kirche am Alten Markt nach Nikolaus von Myra, dem Schutzheiligen der Seefahrer.

St. Marien, die dreischiffige Kirche mit Querhaus, westlichem Pseudoquerhaus, Chorumgang und Kapellenkranz; die Basilika am Neuen Markt wurde im Jahr 1298 erstmals erwähnt. Sie ist die größte Pfarrkirche der Hansestadt Stralsund. Das Gotteshaus gilt als ein Meisterwerk der Spätgotik im mitteleuropäischen Raum. Es war von 1549 bis zur Zerstörung seiner damaligen, nach ungesicherter Überlieferung 151 Meter hohen gotischen Spitze durch Blitzschlag 1647 angeblich das weltweit höchste Bauwerk.

Schließlich St. Jakobi. Letztere ist wohl diejenige der Stralsunder Kirchen, welche im Verlauf der Jahrhunderte am meisten unter den Kriegen und Unglücken gelitten hat. Als interessierter Mensch an historischen Bauwerken hatte Larsson sie alle drei im Laufe der Jahre besucht.

In Larsson machte sich von dem Bild los. In seinen Gedanken tauchten die Aussagen Eisenhardts wieder auf, dass der graue Kutter dem Motorsegler im Jasmunder, und im Wieker Bodden gefolgt war.

Da gibt es unzweifelhaft eine Verbindung. Aber welche? Und wo fuhren der Motorsegler, eventuell sogar beide Schiffe hin, nachdem sie den Wieker Bodden verlassen hatten? Örtlichkeiten, die sich lohnen, gibt es viele. Die skandinavischen Länder? Die Insel Bornholm, die nur ungefähr 65 Seemeilen von Rügen entfernt liegt. Und selbstverständlich auch die deutsche Küste sowohl Schleswig-Holstein im Westen, wo der Motorsegler herkam, als auch Usedom im Osten. Und selbst die polnische Küste, mit dem ehemaligen Danzig in Polen, Litauen, Lettland mit der imposanten Altstadt Riga oder Estland mit Tallin kämen infrage. Was ist mit Russland?

Wenn ich dieses Rätsel löse, finde ich die Antwort, was mit dem Motorsegler passiert ist.

Kurz nach zwei kam Larsson zu Hause in Loddin an. Monika schien ihn zu erwarten. Sie kam ihm bis zu seiner Garagenauffahrt entgegen. Er stieg aus, küsste sie auf beide Wangen, dann auf den Mund. »Es ist schön, wieder zu Hause zu bei meinen beiden Mädels sein, Liebes.«

»Ja«, sagte sie. »Auch ich finde es sehr schön, wenn du hier bist. Und wenn du weg bist, frage ich mich immer, warum das so sein muss.«

Larsson nahm die Räucheraale aus dem Wagen. »Eine Kleinigkeit fürs Abendbrot«, sagte er und kniff ein Auge zu.

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