Rosenemil

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Alle Konturen dagegen an Bäumen und Büschen und Wäldern schlossen sich zu großen, einheitlichen Linien zusammen, wie das nur hier in der Mark ist – und wie sie einen Leistikow bezauberten. Und die beiden hier, auch wenn sie es weder sagen noch malen konnten, kaum minder bezauberten ... in diesem Augenblick.

»Des is sehr schön jetzt hier«, sagte Rosenemil.

»Ja, aber es wird doch kühl auf die Nacht«, sagte die Russengrüne und sprang auf.

»Wir dürfen doch die Rosen nicht vergessen, Frollein Lissi«, meinte der Kolporteur und watete noch mal vor zum Schilfrand. Also, sie waren so frisch wieder, als ob sie eben aus dem Korb kämen: die reizenden Kinder Floras!

»Du«, sagte die Russengrüne, als sie durch das dämmrige Unterholz wieder den Weg gefunden hatten, »du – vorhin hab' ich gesehen, da stand an dem einen Baum im Lokal ›Pichelsteiner Fleisch fünfundsiebzig die Portion‹! Ob sie des heute abend auch haben? Und eenmal 'rumtanzen tun wir auch noch. Und denn fahren wir wieder 'rein. Wat soll'n wir'n so lange hier draußen?«

»Ja, und wo soll ich hinjehen?« fragte der Kolporteur.

»Sei doch nich immer so neugierig«, sagte die Russengrüne, »des wer'n wir nachher sehen.«

»Und deine Eltern?«

»Ach wat, Quatsch: Eltern! Wer hat früher überhaupt was von Eltern jewußt?«

Und nun legte Rosenemil ihr den Arm um den Hals, trotzdem Fräulein Lissi angstvoll rief: »Aber nich doch, da kommen ja Leute.«

Und damit hatte sie nicht unrecht. Denn ein paar Schritte vor und ein paar Schritte hinter ihnen gingen Paare, die sich auch nicht darum kümmerten, daß da auch andre Leute kämen.

»Endlich is der Jroschen jefallen«, sagte die Russengrüne und hielt ihm glücklich und die Augen schließend den Mund hin. Sie war ja lange nicht mehr geküßt, nur geküßt worden.

Und die Russengrüne hatte recht, es war eigentlich kühl geworden. Das uralte Land hier, das noch vor zehntausend Jahren Gletscher sah, hat seinen alten Eishauch nachts selbst im Sommer nicht ganz vergessen. Und sie hatte weiter recht: es gab Pichelsteiner. Aber man mußte, denn jetzt war der Garten voll von Leuten, die zum Abend herausgefahren waren, und schwirrte von Lärm und Gläserklappern und war durchzuckt von den knirschenden Tritten der Kellner auf dem Kies ... Die Motten schossen erst gegen die Laternen, in denen rote Petroleumfunzeln qualmten, und fielen dann kopfüber in die Bierseidel. Und die Mücken flogen den Damen unter die Röcke, wenn sie vom Hals verscheucht waren, und stachen sie in die Waden. Denn solche Mücke ist keineswegs von niedriger Intelligenz ... Also sie mußten zwar eine ganze Weile warten, aber dann kam es doch, das Pichelsteiner! Reichlich gepfeffert war es, aber dafür waren es auch große Portionen. Denn die Ruderer, die vom Wasser kamen, brachten Appetit mit. Und wenn es hier einmal zuwenig gewesen wäre, dann wären sie ein Haus weiter in »Ruderers Lust« gegangen, wo es zwar unvornehmer, aber dafür gemütlicher war.

Und Rosenemil guckte der Russengrünen sehr auf die Finger; denn sie aß mit angezogenen Ellenbogen und ganz von oben herab, überaus manierlich. Wie man das von einem Mädchen auch erwarten kann, das auch mit besseren Herren ausgeht. Manche lernen es nie. Wenn die da so mit dem Messer ins Wiener Schnitzel sticht, das ist gar kein Benehmen nich! Und drin im Saal drehten sich jetzt die Ruderer in kurzen Hosen und die Segler in blauen Jacken mit Goldknöpfen, als Kapitäne maskiert, mit ihren Damen, von denen sie als Kielschweine sprachen (und sie waren auch rosig wie solche unter der braunen Schicht von der Sonne des Nachmittags), drehten sich unter den bunten Lampions, die gefährlich schwankten, in einem Hecht von Zigarrenrauch, den man mit einem Messer hätte tranchieren können. Der menschgewordene Musikautomat hämmerte seinen Rixdorfer und seine Holzauktion, denen die Paare, die nicht nur tanzten, sondern auch sangen, noch weit volkstümlichere Texte unterlegten als jene, die ihnen schon zu ihrer jahrelangen Berühmtheit verholfen hatten.

Einmal schwenkten Rosenemil und die Russengrüne sich herum. Aber der Zauber von vorhin war verweht. Sie kamen auch nicht recht vorwärts in dem Gewühl, in dem jeder nur auf der Stelle schassieren konnte und jeglicher Versuch, weiter und von der Stelle zu kommen, mit Püffen beantwortet wurde. Die Russengrüne nickte zwei rosigen und braun verschminkten Kielschweinen, die miteinander tanzten und dazu blaue, kurze Matrosenkleidchen und blaue Mützchen trugen, vertraut zu. Sie sahen übel aus. Aber wahrscheinlich noch lange nicht so übel, wie sie waren.

»Wer war denn das?« fragte Rosenemil, der die Sorte kannte.

»Ach Gott, Emil«, sagte die Russengrüne, »des sind nur ein paar Kinder aus meine Klasse gewesen. Mit die war ich früher in der Siebenachtzigsten zusammen. Aber nun jehn wir: ich schnappe schon nach dem Bettzipfel.«

Und dann saßen sie wieder im Anhänger und ratterten der Stadt entgegen.

Wirklich: es ist ganz hübsch mal, wenn man mit einer so netten Dame, die einem gegenübersitzt, damit sie keinen Zug bekommt (denn das soll sie nicht, meinte sie), im offenen Anhänger des Abends in die Stadt wieder 'reinfährt. Und auf der einen Seite, am Ende der Straße, der brandige, melancholische Streifen über dem Himmel ist, und der Abendhimmel darüber ganz lichtgrün und hell ist und so allmählich erst in Vergißmeinnichtblau übergeht. Und unten in dem Himmelsgrün, da sind man erst zwei, drei große Sterne. Die funkeln wie 'ne Blendlaterne. Jedoch oben, im Blau dagegen, sind schon 'ne Masse!

»Sehn Se mal, Frollein Lissi, des sieht ja nich so übel aus. Un sone Gasometer und sone Fabriken mit hundert helle Fenster – da arbeiten se wohl de Nacht durch! –, das macht sich eigentlich sauber. Ville besser als am Tag. Da acht' man ja janich druff.«

Die Polenliese hatte sich ihren Kragen hochgeschlagen, und ihr Köpfchen aus dem grauen Krimmerkragen – na ja, bei Nacht is aller Krimmer grau – sieht mit verschleierten Augen zu Rosenemil herüber ... Also, über den Mann kann man sich kugeln, der sagt doch immer noch »Sie« zu ihr. Die andern sagen nach fünf Minuten »du«.

Ja, und dann hörten Feld und Lauben und Gasometer und Fabriken auf, und es kommt Berlin ... mit seinen Häuserreihen ... mit seinen Balkons in Reihen, auf denen die Menschen in Hemdsärmeln um Petroleumlampen mit roten Schirmen sitzen ... Mit seinen Cafés, vor denen auf den Terrassen mit den Kästen von wildem Wein Stühle warten, bis einer kommt ... Mit seiner Militärmusik, die aus den Brauereien und aus den Sommergärten klingt und die Potpourris aus dem Präsentiermarsch, dem Hohenfriedberger, und dem Sang an Ägir schmettert ... Mit seinen Zeilen von Straßenbahnen, die sich stauen, weil eine Notweiche wo gelegt ist und an den anderen Schienen unter Karbidlampen gearbeitet und geschliffen wird auf elektrischen Motoren, die wie kleine, unheimliche, schwarze, am Boden hockende Tiere grünblaue Funkenbündel sprühen ... Mit seinen Bogenlampen in den Hauptstraßen und seinen Gasglühlichtlaternen mit dem grünen Licht in den kahlen und toten Nebenstraßen, deren bißchen Leben noch ständig in die Hauptstraßen abströmt ... Mit beleuchteten Giebelreklamen! Die Eingänge der Kintöppe speien Menschenströme wie Lavaströme aus, weil die letzte Vorstellung von »Die Rache des Eunuchen« oder »Die Hochzeit des Sultans, zweitausendzweihundertdreißig Meter lang«, eben zu Ende gegangen ist.

»Also man muß nur die bunten Dinger von Plakaten sich ansehen. Dann glaubt man gar nicht, des es so was gibt. Aber es jibt eben nischt, was es nich gibt«, sagte die Polenliese.

Und über allem der warme Brodem – denn hier hatte es sich gar nicht abgekühlt! –, der wie eine Wolke zwischen den Häuserreihen hing, jener warme Brodem der Großstadtnacht mit seinen tausend Gerüchen, der aus den Läden und Höfen, von Frauen und Männern kommt. Von den Haustoren, von den Blumen der Balkons, vom Asphalt, der wieder hart wird, von braunduftenden Pferden und von dem Rauch der Fabriken und von den Grün der Anlagen und von den zwei Dutzend qualmenden Stinkdroschken, die durch die Straßen hoch und stolz daherrumpeln. Von Akazienbäumen um die Brauerei, denn die blühen noch und duften orange ...

Und in dessen, des Brodems, Hauch, in dessen Wärme die Menschen und Hunderte von Liebespaaren dahinschlenderten, denn es ist ja Sonnabend nacht! Und morgen ist Sonntag! Die ganzen vierundzwanzig Stunden über wird Sonntag sein! Und außerdem ist eine herrliche Juninacht, und da treibt es sie alle heraus, weil sie, trotz ihrer Liebe, doch mit ihrer Sehnsucht nicht wissen, wo sie hin sollen ... Man konnte wirklich kaum entscheiden: Hat sie alle die warme brodelnde Mitternacht noch herausgetrieben und läßt sie nicht heimfinden? Oder ist die nur so warm und weich und brodelnd als Fluidum der tausendfachen Sehnsucht, die in ihr zittert.

»Was brauchen wir den großen Bogen erst zu machen«, sagte die Polenliese, »die nächste Haltestelle gehen wir 'raus, und denn jehn wir das Stückchen nach de Lothringer zu Fuß. Früher hab' ich ja hier in de Eichendorffstraße jewohnt. Aber de Lothringer is vornehmer.«

In Rosenemils Brust regte sich ein leichter Zweifel darob, ob die Lothringer Straße wirklich so viel vornehmer war als die Eichendorffstraße ... Denn er kannte beide ganz gut. Eigentlich war das doch gehuppt wie gesprungen ... Aber so eine konnte die Russengrüne nicht sein, dazu war sie zu nett. Und denn – war sie für ein Mädchen aus de Lothringer viel zu gut angezogen ... Und denn war sie ooch zu schön. Jeder Jraf hätte sich jefreut, wenn se ja zu ihm jesagt hätte ... Was brauchte die so was?

Wie hübsch sie so untergefaßt gingen, zwischen all den Menschen. Er mit der Rose im Knopfloch und mit der neuen Krawatte um. (For 'n Abend jing ooch der Anzug noch, da sah man gar nicht, wie abgerieben der Stoff war ... Und der Strohhut, den hatt' er heimlich noch mal, wie er abstieg – da brauchte er sich vor niemand zu genieren – von de Bahn, die Krempe gradegebogen.) Und sie mit dem Krimmerkostüm und dem Schirmchen und der Pleureuse auf dem Hut und den Rosenstrauß im Arm ... wie ein neugeborenes Kind. Und dann gingen sie so gut zusammen. Sie paßten so in de Jröße und so in'n Schritt. Genau so gut, wie sie zusammen getanzt hatten. Und eigentlich war er auch froh jetzt, daß er seine schwarze Wachstuchtasche verloren hatte. (Denn wie würde denn das aussehen, wenn er mit sone Dame hier unter den einen Arm und mit seine olle schwarze Wachstuchmappe unter'n andern Arm hier herumzöge?) Immer vornehm, Emil, wenn dir auch hungert!

 

Aber ihn hungerte jarnich. Er war satt. Er war satt, satt und so froh dabei, wie lange nicht ... Na ja, des Mädchen hatte für ihn bezahlt, und vielleicht würde es sogar – aber er glaubte es noch nicht recht! – die Nacht gut zu ihm sein. Aber, wer sagte es denn, daß, wenn er erst jetzt mal Geld hätte ... und es gibt viele, die in Berlin zu Geld kommen: uff de Straße liegt es, man muß nur verstehen, es aufzuklauben ... wenn er einen guten Artikel kriegt. Mit Straßenhandel, da sind Leute dran schon so reich geworden, daß se nachher die andern auf de Straße geschickt haben, wie Brandeisen, der hat heute achtzehn Wagen 'rumfahren. Also – denn jeh ich mit ihr in det feinste Weinlokal dafür. Von mir aus soll se bei Kempinski die janze Speisekarte zweimal 'rauf und 'runter essen, ich werde nur sagen: »Nimm doch noch een bißken von de Schwedenfrüchte, Lissi.« Und er sah – denn die Phantasie des Menschen arbeitet prompt und bildhaft – sich selbst mit einem blonden, hochgedrehten Schnurrbärtchen und sehr gestriegelt und gebügelt und mit einem Kragen und einem Oberhemd, die so weiß waren, wie sein Chemisettchen und sein Gummikragen grün waren, vor einem Tischtuch sitzend, das ihm Licht und Helligkeit von hundert versteckten Birnen ins Gesicht strahlte und auf dem halbvolle Rotweingläser und Flaschen und eine silberne Schale mit Zucker und ein rot leuchtender Hummer mit riesigen Scheren auf einer silbernen Platte so deutlich lagen, als lägen sie unter dem Scheinwerfer eines Operationstisches. Und er sah Lissi sich gegenüber, wie sie ihn glücklich und dankbar anlächelte. Aber er tat, als ob er alle Tage so futterte.

Die Russengrüne nickte einem Mann zu, der an einer Laterne stand. Das heißt, sie nickte ihm nicht zu eigentlich, aber sie kannte ihn, das merkte der Kolporteur, und jener kannte sie, das fühlte er ebenso. Wie kamen die zueinander? Und der da stand auch nicht an der Laterne, sondern er stand einen halben Meter ab von der Laterne in der Straße, die ziemlich schlecht beleuchtet war. Nur sein breiter Bullenrücken war an dem Laternenpfahl, und der auch nur mit ein paar Zentimeter eigentlich. Und er stand auch nicht mit dem rechten Fuß rechts und dem linken Fuß, an denen er rote Plüschmorgenschuhe hatte, links, sondern er stand mit dem rechten Fuß links und mit dem linken rechts. Indem er nämlich die Beine übereinandergeschlagen hatte. Ebenso wie er die Arme verkreuzt hatte. Und da er so stand – man verstand eigentlich nicht, wie er so stehen konnte, denn es sah nicht aus, als ob er sich an den Laternenpfahl lehnte, sondern als ob der Laternenpfahl bei ihm Schutz gesucht hatte –, so senkte sich natürlich das Kinn seiner Brust zu, die bloß, frei und behaart aus dem halbrunden Ausschnitt eines rot und weiß und quer gestreiften Trikots herauskam, ja – herausquoll wäre auch nicht richtig, dazu war sie zu fest und muskulös! Also sagen wir: sich herausschob. Und dort, wo sie sich dem Ausschnitt entwand – so hell war es gerade unter der Laterne, daß man das sah! –, die Spitzen und die Segel eines Dreimasters in blauer und roter Tätowierung für jeden, der gerade dahin blicken mochte, freigab. Das sehr kurze Jackett mit sehr kurzen Ärmeln hatte er nicht angezogen, sondern über die breiten Schultern gehängt, so daß es über die Muskelbündel von Armen nur noch halb hinabfiel, denn er liebte es scheinbar, die Brust frei zu haben. Aber, wenn er es auch liebte, die Brust frei den Blicken zu bieten, hielt er doch darauf, bedeckten Hauptes zu gehen. Denn er hatte die rostbraune Ballonmütze, die wirklich etwas von einem halb aufgegasten Fesselballon hatte, der auch nicht weiß, ob er sich nach links oder nach rechts legen soll, mit dem Schirm tief über das linke Auge gezogen und so eine schwere Haarlocke sich rechts über die freie Stirn gewischt. Man wußte nicht, hatte er das wirklich nur improvisiert, oder übte er es, wie ein guter Schauspieler, täglich eine halbe Stunde vor dem Spiegel, bis es so saß, wie er es für seine Rolle brauchte. Aber obwohl man nicht feststellen konnte, daß er mit dem einen verdeckten Auge etwas sah, hatte man doch das unabweisbare Gefühl, daß er mit dem unbedeckten alles aufs allergenaueste beobachtete, was sich in dieser Straße zutrug; wer ging und kam. Und daß er jedes Mädchen, das im Halbdunkel an dem andern Straßenende patrouillierte, genau unterschied und im Auge behielt. Obwohl das auf die Entfernung kaum noch eine Katze gekonnt hätte. Und obwohl er scheinbar auf nichts achtete und ganz still vor sich hin träumte, wußte man doch, er hörte genau, wenn sechs Häuser davon die Haustür geschlossen wurde, und er unterschied, ob die Schritte, die da drüben übern Hof gingen, in Nummer achtzehn oder in Nummer sechzehn waren.

Dabei war es ein Mann in den Dreißigern nach den Vierzigern hin – wo sie auslegen. Und sein Gesicht war gar nicht mal so uneben. Es war weder frech noch davot. Im Gegenteil, es hatte sich auf stille Gutmütigkeit zurechtgemacht. Aber das war ihm nicht allzugut gelungen, da schimmerte so allerhand durch den Firnis durch.

Was is denn des for'n Gewaltslude? sagte sich – eben hatte er noch im Frack bei Kempinski gesessen – der Kolporteur. Und wie kommt Lissi zu so'n Kerl? Denn gekannt hat sie ihn doch!

Laut aber sagte er: »Den möchte ich auch nicht alleen im Dunkeln begegnen, Lissi.«

Die Russengrüne, die schwerer an seinem Arm hin, sie war das nicht gewohnt, draußen 'rumzurennen, und außerdem hatte sie eigentlich von den letzten sechsunddreißig Stunden kaum vier geschlafen, sie hatte ein paarmal so ganz verstohlen schon gegähnt, stutzte.

»Ach Gott«, meinte sie nach einer Weile dann sehr sachlich, »weeßte, des sieht alles nur so aus. Der tut keinem Menschen was. Det is eigentlich ein ganz netter und sogar sehr anständiger Mensch von Gesinnung. Da haben wir Beweise für. Natürlich, er darf keinen in de Krone haben, denn haut der Palisadenkarl en janzes Lokal 'raus, daß keen Stuhl janz bleibt. Aber sonst is er um'n Finger zu wickeln. Mit 'n Jemüt wie'n Kind ... Aber paß mal auf: Jetzt jehste da unten 'rein, da drüben, wo – kannste lesen? – diverse Biere aller Sorten' dran steht, und denn hole ich dir wieder da in zehn Minuten ab, und solange kannste mir 'n Kuß geben, Rosenemil! Bin ick nich nett zu dir?«

»Junger Mann«, sagte jemand hinter Rosenemil, als er sich eben vorbeugen wollte, um den ihm gegebenen Auftrag auszuführen. (Jetzt war ihm alles gleich: Der Mensch ist, wer er ist, und wat er is, is gleich. Der Mensch is de Hauptsache. Und kein Mensch kann sagen, wie ein Mädchen zu so was kommt!) »Junger Mann«, sagte jemand, mit einer ganz hohen, zwitschernden Stimme, »junger Mann, erregen Sie hier kein öffentliches Ärgernis.« Die Russengrüne zuckte zusammen, solche Dinge liebte sie nicht. Nachher kam sie nach Barnim. »Aber Spitzmaus!« schrie sie. »Machen Sie hier doch nich so'n Unsinn mit de Menschen, man kann ja den Tod vor Schreck kriegen.«

Also das war doch der kleine, alte, versoffene Student in de Talentwindel wieder von heute vormittag von de Bank Unter den Linden. Nie sieht man einen Menschen, und den trifft man gleich an einem Tag zweimal ... Großartig, vielleicht weiß er auch, wo meine Wachstuchmappe hingekommen ist!

»Sieh mal, da kommt ja des Doktorchen ooch anjelatscht – ach, Herr Sanitätsrat, da sind Sie ja auch. Des is Herr Sanitätsrat!« Aber er war es noch gar nicht, hatte mindestens fünf Jahre noch Zeit, bis er's wurde. Doch die Mädchen sagten nu mal alle so zu ihm. »Doktorchen, wie jeht's denn? Wir waren draußen ins Jrüne. Herr Doktor Levy! Und des is Herr Emil Lehmann.«

Der Doktor war ein kleiner Mann, und er war kein schöner Mann, er hatte eigentlich ein Gesicht wie ein Entenschnabel, und seine Anzüge sahen immer aus wie aus'n Sack gegriffen. Und die Hosen hatten nach acht Tagen Kniesäcke und nach zehn Harmonikafalten ... Aber das lag durchaus nicht an den Anzügen – teuer genug waren sie –, sondern an ihrem Träger oder dessen Haushälterin. Aber vielleicht hatte die das jahrelang versucht und dann aufgegeben, ihn in Ordnung zu halten. Er trug einen Umlegekragen und ein schwarzes Flügelschleifchen. Er hatte den Tag über gearbeitet wie ein Pferd, fünfundsiebzig Patienten – und war endlich des Nachts auf die Straße gekommen. Nachdem er noch vier Stunden gelesen hatte. Denn er war ein großer Literaturfreund – war 'rausgekrochen wie ein Dachs aus seinem Bau. Wenn er mit jemand sprach, so sah er über die Kneiferränder fort ihn an, als ob er damit sagen wollte: Augenblick, Augenblick, ich möchte nur mal 'ne kleine Diagnose stellen. Ich behalte es auch ganz für mich ... Schweigepflicht, Schweigepflicht, mein Lieber – oder meine Liebe. Auf mich können Sie sich verlassen. Es gibt so Kollegen, die quatschen alles 'rum. Auf mich können Sie sich verlassen. Er war ein alter, eingefleischter Junggeselle, und seine Hausdame war zwanzig Jahre älter als er. Er kannte und duzte alle Mädchen hier zwanzig Straßen im Umkreis, schickte nie eine Rechnung; und keine konnte sich anders rühmen, denn ärztlich bei ihm gewesen zu sein. Oder auch nur mit ihm zusammen ein Glas Wein getrunken zu haben. Wenn auch manche schon eine Flasche Wein von ihm getrunken hatten.

Denn ob sie die Medizin sich machen ließen, die er verschrieb, das wußte Doktor Levy nicht. Und ob sie sie, wenn sie sich machen ließen, dann auch pünktlich nahmen, das wußte er auch nicht. Auch, wenn sie es ihm versicherten, weil es ja meistens doch pathologische Lügnerinnen waren. Aber daß sie die Flasche Rotwein, die er ihnen mitgab, tranken, das wußte er bestimmt.

Und manchmal tat sie ihnen genausogut wie eine Medizin. Ja, besser als die. Denn die schmeckte nur schlecht und nützte ihnen zwar auch nicht, den Mädchen, aber sie gab ihnen wenigstens etwas Lebensfreude. Und das eine wußte er genau: sie kamen dann wieder zu ihm. Und man konnte doch vielleicht zum Schluß noch eine ganz dicke Sache mal stornieren und verhüten bei den Mädchens.

Aber eigentlich hatte er die Rotweintherapie nur deshalb eingeführt in die Wissenschaft, wie er zu Spitzmaus sagte, ut aliquid fiat. Denn Doktor Levy war Skeptiker von Beruf und glaubte an nichts, auch wenn er einige Dinge allhier innig liebte. Nur eine Sache gab es, an die er noch weniger glaubte als an alle andern, mochten sie nun Menschen (von denen er nur die unter zehn Jahren als würdig dieses Titels gelten ließ), Liebe, Staatsgemeinschaft, Familie, Geschichte, Erkenntnistheorie, Naturwissenschaften, Religion, Seele, Ethik, Mitleid mit dem andern oder Technik heißen, und diese eine Sache war die Medizin, die Heilkunde als Zweck, Sinn, Wissenschaft oder Nutzen für den Patienten. Eine seiner Thesen lautete, daß der Patient ohne den Arzt ebenso leicht gesund wird, aber weit weniger leicht stirbt. Was ihn nebenbei nicht hinderte, ein unerhört gewissenhafter und als zuverlässig bekannter Arzt nicht nur auf seinem Spezialgebiet – für das ja hier reichlichstes Studienmaterial vorhanden war – zu sein, sondern einer mit einer fast seherhaften Fähigkeit der Diagnostik.

Und der Polenliese hatte er zwar solche Gallertkügelchen verschrieben, die wie braune durchscheinende Tröpfchen in einem braunen Glas herumpurzelten und nach Kreosot schmeckten, aber ihr außerdem noch zugleich eine Flasche Burgunder mitgegeben. Und das war eigentlich die dritte Medizin ... Spanischer Gesundheitswein zu fünfzig Pfennig hieß: Das kann gewiß dir mal nichts schaden, armes Luder! Bordeaux hieß: Ich mißtraue der Geschichte. Und Burgunder hieß: Die Sache gefällt mir nicht; ganz klar und deutlich: Ich kann zwar bislang noch nichts rechtes finden, aber – sie gefällt mir nicht! Volnay 97 war das letzte: Nischt zu machen! Sich selbst verschrieb er nur Volnay, weil er behauptete, daß er von je ein hoffnungsloser Fall wäre.

Doch, da kleine Geschenke die Freundschaft erhalten und eine Flasche Macon durchaus kein kleines Geschenk ist, so war die Polenliese mit Doktor Levy sogar sehr gut befreundet, und er, was merkwürdig war, er mit ihr auch. Denn sie war wirklich ein netter Mensch, immer von einer gleichmäßigen und zarten Freundlichkeit zu ihm, und sie war das schönste und aparteste Mädchen zehn Straßen im Umkreis. Daß sie sich hier draußen unter den Pöbels vergrub, statt im Westen ihr Glück zu machen, verstand er nicht. Aber vielleicht, so meinte er, sagte sie sich mit Cäsar: Lieber in Posemuckel die erste als in Rom die zweite. Da wäre sie nur eine von vielen gewesen, aber hier so um die Lothringer Straße 'rum war sie die Königin, unbestritten, seit Jahren. Und sie ließ auch keinen von den Kerls an sich 'ran ... Einmal hatte einer versucht, ihr den Fuß auf den Nacken zu setzen, und den hatte die Polenliese mit einer Energie, die ihr keiner zugetraut hatte, nach vier Wochen Hals über Kopf herausgeworfen, und als er noch Reden geführt hatte, er würde ihr auflauern und sie kaltmachen, war er vom Palisadenkarl derart verschlagen und zusammengestochen worden, daß ihn selbst Doktor Levy, den man in der Nacht schnell in »Die blaue Zwiebel« heruntergeholt hatte, kaum mit sieben Nadeln richtig hatte zurechtflicken können. Und seitdem war er aus der Gegend verschwunden. Außerdem hatte er jetzt vor dem Schönhauser zweie gleich, die für ihn liefen; und so hatte er ja eigentlich bei der ganzen Sache materiell keinen Schaden erlitten. Edlere seelische Teile waren, wie Doktor Levy sich ausdrückte, bei diesem miesen Kunden nicht verletzt worden, wohl aber war der eine Stich einen halben Zentimeter von der Schlagader gerade noch so vorbeigewutscht. Beinah wär' ihm der Kerl unter den Händen verblutet. Das hätte um ein Haar eine schöne Bescherung gegeben. Denn Doktor Levy schätzte bei solchen kleinen Zwischenfällen in seiner Gegend mehr, wenn die Sache in intimen Zirkeln erledigt wurde, als wenn in solche kleinen privaten Auseinandersetzungen groß Polizei und Gerichte mit hineingezogen würden. Was, wie er sagte, die Beziehungen der Menschen unter sich nur erschwerte und ihm unnütz mit Schreibereien die Zeit wegnahm, die seinen Patienten gehörte. Er wußte – ein »Antimephisto«, wie der kleine Benjamin nicht unoriginell sagte – mit dem Blutbann trefflich, aber mit der Polizei nur schlecht sich abzufinden!

 

»Na, Fräulein Lissi«, sagte er und streckte, was er sonst nie tat, die Hand mit einer streichelnden Bewegung nach ihr aus. Aber es war ein Luftstreicheln, nur eine symbolische Andeutung eines Streichelns. »Na, Fräulein Lissi, nehmen Sie auch pünktlich dreimal täglich ein, wie ich es Ihnen gesagt habe?«

»Aber des is doch Ehrensache«, sagt Lissi, »Herr Sanitätsrat.« Und legt beteuernd die schlanke Hand dorthin, wo sie das Herz vermutet. »Aber selbstmurmelnd. Des halbe Glas is schon leer.« Und damit wich sie auch nicht von der Wahrheit ab; es war auch leer. Denn, nachdem sie zweimal die Pillen heruntergeschluckt hatte und gefunden hatte, daß sie schlecht schmeckten, hatte sie zuerst mal eine kleine Handvoll davon ins Nachtgeschirr geschüttet, damit sie abnehmen, und die andern dann nicht mehr berührt.

»Na also, dann laß dir mal wieder bei mir sehen, Lissi«, sagte der Doktor Levy – man muß immer die Sprache seiner Straße sprechen –, »aber komm auch!« Und lüftete gegen den Kolporteur seinen Hut, der ein alter und verschwitzter und verbogener Filzdeckel war, obwohl er kaum vier Wochen seinem Herrn diente. Auf Äußerlichkeiten gab er nichts.

»Ach, verzeihen Sie«, sagte der Kolporteur. »Wir haben uns doch heute Unter den Linden getroffen, Herr? Haben Sie vielleicht gesehen, wer meine Tasche mitgenommen hat. Solche schwarze Wachstuchtasche.«

Aber Spitzmaus hatte es leider wirklich und wahrhaftig nicht gesehen, war ja vorher schon mit Laubfrosch vor dem einbrechenden Militarismus entflohen. Der jetzt da drüben wieder in der Kneipe saß und nicht wegzubringen war.

»Aber wie war doch das schöne Liedchen, was Sie von Ihrer Frau Mutter gelernt haben?« piepste er. »Wat Unter de Linden als Hoju kommt in'n Topp, das schmeißt man unter de Frankfurter Linden den Schlächter an'n Kopp ... Lieber junger Mann«, und er machte pathetische Handbewegungen, daß sein Havelock, den er sonst ängstlich zuhielt, denn er hatte schon längst keine Knöpfe mehr, weit aufflog und er darunter, da seine Weste und sein Jackett bei Peten Nachhilfestunde hatten, die ganze geflickte Dürftigkeit seines alten Oberhemdes zur Schau stellte. So ganz nüchtern war er ja nun auch gerade nicht mehr. »Lieber junger Mann, da steckt eine tiefe Wahrheit drin, was bei die feinen Äser da drinnen so'n bißchen Hautgout ist, das kommt hier draußen, hier kommt des ganz schnell auf den Kehrichthaufen.« Er hatte etwas von einem bekommen, der mit Zungen redet, das kleine piepsige Männchen das, die Spitzmaus. »Und wat habe ich Ihnen beigebracht? Na, wissen Se noch, junger Mann? ›Biste am Pariser Platz, is se sicher schon dein Schatz.‹ Also sehn Se, da haben Se doch was von mir gelernt, das Se praktisch im Leben gleich verwenden konnten, edler Jüngling. Ich habe weder im Gymnasium noch in dreiunddreißig Semestern auf der Universität irgend etwas gelernt, was ich praktisch im Leben verwenden könnte.«

Die Polenliese zog Rosenemil lachend weg. »Ach komm«, sagte sie. »Gehn wir nach Hause. Also die Spitzmaus macht nun seit zehn Jahren in jeder Kneipe denselben Quatsch.«

Der Doktor Levy sah den beiden nach, die da ... ein hübsches Paar, wenigstens in der Größe und vom Rücken aus machten sie sich sehr gut, denn da fielen ja für Rosenemil peinliche Details der Kleidung, die von vorn und am Tag ihn degradierten, fort ... die da, ein hübsches Paar, im Gehen sich leicht in den Hüften wiegend und sehr untergefaßt und ohne Zweifel sehr glücklich, nach der Querstraße zu verschwanden, in der die Polenliese hauste. Denn wenn sie gesagt hatte, daß sie in der Lothringer Straße selbst wohnte, so war das reichlich übertrieben. So vornehm, in der Lothringer Straße selbst, wohnte sie gar nicht. Sondern ein paar Häuser um die Ecke herum in der halbdunklen Querstraße, die auch nicht viel anders aussah wie jene, in der der Palisadenkarl da vorhin die Laterne mit dem Rücken vor dem Umfallen bewahrt hatte und die so kahl und grau und baumlos war wie die Hochebene Castiliens.

Doktor Levy starrte ihnen mit gesenktem Kopf über die Ränder des Kneifers nach, der, wie wäre das auch anders zu erwarten gewesen, schräg über den wund geriebenen Nasenrücken ihm hing ... wortlos und kopfschüttelnd ihnen nach ... und mimmelte skeptisch mit seinem Entenschnabel von Mund. Das heißt, er bildete mit der klumpigen und doch spitzen Nase vereint – wie ja auch ein Schnabel zwei getrennte Hälften hat – erst einen richtigen Entenschnabel, der dem ganzen Gesicht den Ausdruck einer Ente auf dem Land gab. Im Wasser sieht sie ganz anders aus. Da ist sie in ihrem Element.

Doktor Levy war ein ziemlich guter Kenner nicht nur des Geschlechtslebens, sondern auch der Umgangsformen seiner Klienten, und er wußte genau, daß ihm die Polenliese irgendeinen Freier, den sie sich gerade eben zugelegt hätte, niemals vorgestellt hätte, daß das da also tiefer gehen mußte. Ja, er wußte in dieser Sekunde schon viel, viel mehr als Rosenemil (er hatte sich den Jüngling sehr genau bekiekt) und vielleicht sogar noch viel mehr, als die Polenliese selbst wußte. Na ja, besser wie der miese Kunde, den er damals in der ›Blauen Zwiebel‹ hinten auf dem Schenktisch im Nebenzimmer bei einer Stearinkerze schnell wieder zusammengeflickt hatte, sah der da schon aus. Ein bißchen schwach vielleicht. Doch wenigstens kein so'n eiskalter Topplude.

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