Rosenemil

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»Sie kommen ja mit dem Einsatz 'raus«, ruft die Russengrüne und lacht und stopft dem Kolporteur das Chemisettchen in die Weste. »Daß Sie so etwas können, habe ich janich jewußt!« Und das erste Mal ist etwas Ähnliches wie Zärtlichkeit in ihrer Stimme mit den vollen, weichen Vokalen und den melodischen R...s. Bisher war nur eine so leichte Belustigung drin gewesen. Ob dieses flüchtigen Abenteuers, das ihr Spaß machte. Er war ja doch ein ganz hübscher Mann, wenn man ihn richtig und fein erst eingekleid't hätte. »Sie können sich ja vor Jeld sehen lassen, Rosenemil.« Wenn der kleine Benjamin dabeigewesen wäre, so hätte er sicher gesagt, »sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand, ich liebte sie um ihres Mitleids willen«, denn wie alle Primaner, die zufällig Benjamin oder so heißen, hatte er es natürlich mit der Literatur und wollte ein Dichter werden. Was ihn ebenso natürlich nicht hindern würde, wie es seine Eltern wünschten, zehn Jahre später sich in Futterstoffen oder in Jurisprudenz zu etablieren.

Herrjott, fiel es Rosenemil ein, und er liebte es doch so sehr, einen guten Eindruck zu schinden, wenn sie nun noch meine Löcher in de Sohlen – ick lauf ja nächstens uff de Strümpfe! – gesehen hat, denn is es aber bestimmt aus.

Die Russengrüne hatte sie sofort bemerkt, aber sie besaß viel zuviel natürlichen Takt, um so etwas zu erwähnen, und kannte viel zuviel vom Leben, um an so etwas Anstoß zu nehmen.

»Sie turnen aber famosement«, sagte die Russengrüne. »Wirklich, des hätte ich janich in Ihnen erwartet«, und sie hing sich wieder in seinen Arm. »Dafor müssen wir uns nu mal stärken, der Kuchen fettet auch so durch, und des is mein Bestes ... Nee, lassen Se, Rosenemil, der Kaffee ist Sache der Dame. Suchen Sie sich man da vorne 'nen netten Platz aus. Aber ich glaube, auf die Seeterrasse darf man mit dem Selbstgekochten hier nicht. Nur an die ungedeckten Tische gleich dahinter. Na, des macht nischt: dafür bleiben wir doch, wer wir sind, und schreiben uns – Uns!« Rosenemil schielte im Weggehen sehnsüchtig auf die beiden Stangen des Barrens. Die waren nicht mal dick. Da so erst mal die Schere, dann Handstand, dann Handgang, und dann Abgrätschen am andern Ende. In Bernau habe ick damals fünf Punkte damit gemacht!

Der Damenkegelklub ist, als sie vorübergehn, schon weniger förmlich. »Ach wat«, schmettert Frau Schmettert, die Kegelkönigin, durch den Garten, »das is nu mal so, Frau Schultze. Wat soll ick denn mit dem Mädchen, der Elvira, da nun tun? – Janischt! Oder haben Sie vielleicht Ihren Mann im Tischkasten kennengelernt?«

Also der Platz ist gut. Sie sitzen zwar nicht grade ganz am Wasser; aber da keiner vor ihnen auf der Terrasse sitzt, so sitzen sie so gut wie am Wasser, das weit und blau, im Rahmen der überhängenden Äste sich auftut. Und wenn auch gegenüber links mächtige Fabrikschornsteine qualmen, na, dafür is man eben im Norden un nicht in Wannsee. Und es zwingt einen auch niemand, da hinzusehen. Auf der andern Seite ist Grün und Wälder. Man sieht deutlich die lackgrünen Erlen am Wasser. Dann schimmern darüber die lichtgrünen Wimpel der Birken, und dann kommen erst die schwarzen Wellen der Kiefern, die weithin wie ein Meer branden. Und vor diesem allem sind die Schilfstreifen, an denen Wasservögel entlangpaddeln und sich vor den Sterndampfern in die grüne, schwankende Wirrnis flüchten. Vor den Dampfern, die weit da draußen fahren, mit Lichtfunken in den Kielstreifen hinter sich und in Wellen um sich. Jenen Wellen, die erst Minuten später herüber zum Ufer kommen, gegen die Mauer der Terrasse schlagen, die Schwäne wie Korken auf und nieder tauchen lassen, es machen, daß die Boote an ihren Ketten, wie Pferde, die beunruhigt werden, sich aufbäumen, und die endlich rauschend durch die Schilfwände der Ufer fahren, bis sie da allmählich wieder zur Ruhe kommen.

»Jott, ich möchte Sie so vierzehn Tage auf den Arm nehmen können, und dann 'raus aus Berlin«, sagte der Kolporteur, »Frollein Lissi.«

»Warum denn? In de Stadt können wir es ja auch ganz nett haben«, sagte die Russengrüne sachlich.

Eine Kette Zillen, auf denen von Bug bis Heck, von Kopf bis Sterz, Wäscheleinen flattern, kommt jetzt im Bogen von weit hinten über den blauen Seidenbatist der weiten Wasserfläche heran. Sieben, acht Stück gleich, die ein ganz kleiner roter Schlepper stampfend und ächzend hinter sich herzieht. Man versteht gar nicht, wie das kleine Ding das schafft. Und ein paar Segelboote tanzten arrogant und aristokratisch in den weißen Leinenanzügen ihrer Segel in den Wasserfurchen, die der Schlepper mit der Schärfe seines Kiels neben sich aufriß.

Aber so was von Kuchen hatte Rosenemil lange nicht gegessen. Er erinnerte sich gar nicht, wie lange. Denn er konnte auch im Berlin von 1903 nur schwer den gutgemeinten Rat der Marie Antoinette befolgen, die da, als man ihr sagte, das Volk hat kein Brot, erstaunt fragte: ›Ja, aber warum ißt es dann nicht Kuchen?‹ Und selbst seine Jugenderinnerungen kamen nicht über Warschauer, Kuchenkrümel und Gußzwiebäcke hinweg. Und hier war ein kleiner Altdeutscher, ein Abgeriebener mit großen Rosinen, ein Königskuchen – und außerdem Gußzwiebäcke. Und keine Halbliterkanne etwa, sondern eine von anderthalb Litern, und zwar Bohnenkaffee ohne Zusatz. Und keine dünne blaue Milch dazu, sondern richtige dicke, gelbe Sahne.

»Aber Fräulein Lissi«, rief der Kolporteur. »Ne, des is doch wirklich zu ville, Sie haben wohl 'nen reichen Juden totgeschlagen!«

»Des nun gerade nicht«, sagte die Russengrüne und dachte an das Goldstück von dem Erbonkel mit dem sauren Gurkengroßhandel aus Lübbenau. Aber was brauchte sie dem das gleich auf die Nase zu binden: am Sonntag redet man nicht von's Jeschäft.

Also das war wirklich ein viersträhniger Kaffee, und die Gußzwiebäcke – denn nach denen griff der Kolporteur zuerst – waren vorzüglich. Aber zu weich. Zu Hause, wenn Mutter mal welche mitgebracht hatte, waren sie immer viel härter gewesen, da hatten se ordentlich immer in die Zähne geknirscht. Und das mußten Gußzwiebäcke doch. Die Ansicht Rosenemils, daß Gußzwiebäcke hart seien und zwischen den Zähnen knirschen müssen, beruhte, wie die meisten Ansichten hier auf dieser Erde, auf falschen oder zum mindesten auf individuell gefärbten Voraussetzungen. Denn seine Mutter hatte Rosenemil nie darin eingeweiht, daß sie niemals frische Gußzwiebäcke, sondern immer welche von gestern, die in Wahrheit acht Tage alt waren und die so hart waren, daß man sich damit gegenseitig hätte Löcher in'n Kopp schlagen können, gekauft hatte. Und das wieder nur, weil es da nicht fünf für 'n Groschen, sondern zehn Stück gab. Und stippen tat sie der Junge ja doch. Aber, was so'n richtiger alter Gußzwieback, der wird dadurch auch nicht viel weicher. Und hier stippte er nicht, weil er sich »schenierte« vor der Dame in Russengrün, dem Fräulein Lissi. Und sie waren trotzdem janz weich. Nee, nee, des waren keene echten Jußzwiebäcke. Da war der Königskuchen schon eher tadellos, der schmeckte direkt sauber. Das sagte die Russengrüne auch.

Also das war wirklich nett, und hier konnte man – wenn auch der fiese Kellner mit der weißen Jacke mal mißvergnügt herübersah, denn an sone selbstgekochten Kaffeegäste, die nur Lokal schinden, verdiente er nischt – so stundenlang sitzen und ins Wasser kieken; un es war immer was los. Mal kam ein Rudel Enten angepaddelt, und erst waren sie ganz ruhig, und dann richteten sie sich hoch, schlugen mit den weißen Flügeln, daß nachher die Federchen auf dem Wasser schwammen, schnattern alle auf einmal, als ob sie sich dazu verabredet hätten. Oder Angler kamen und machten sich einen Angelkahn los und stakten mit weg ins Schilf und taten wunder wie wichtig und ernsthaft dabei. Mal ruderten welche mit nackten Armen und Beinen in einem Viersitzer. Und der fünfte stand in dem wackligen Ding und schrie: »Ho huupp ... ho huupp!«, und denn schmissen sich alle auf einmal zurück in die Riemen. Oder es kam ein Fink auf den Tisch, und wenn er sich satt gegessen hatte, flog er auf einen Ast von dem Baum und sagte: Danke. Man braucht gar nicht soviel reden, es ist immer etwas los.

Die Russengrüne sah nach dem feisten Angler hin, der in seinem graugrünen Grasleinen Jackett mit den aufgesetzten Taschen tat, als ob er als Nelson auf dem Buzentauros die Seeschlacht von Trafalgar befehligte. »Ach Jott«, sagte sie, und sie plauderte damit aus der Schule, »mit die Sorte da weeß ick Bescheid, die kenn' ick genau, det is man ooch bloß eine ganz verbogene Schießbudenfigur.«

»Woll'n wir noch ins Familienbad?« sagte der Kolporteur, durch eine unkontrollierbare Gedankenassoziation dazu verleitet.

»Ach nee, da trifft man nur Bekannte«, sagte die Russengrüne, »wir beide sind ja auch Familie.«

»Woll'n wir uns in den Kahn legen und die Sonne auf den Buckel brennen lassen?«

»Nee, nee«, sagte die Russengrüne, »des is nich jut für 'n Teint. Wir legen uns nachher denn unter de Bäume ans Wasser. Zu spät will ich auch nicht wieder 'reinfahren. Heute is Sonnabend.« Schon wieder hatte sie sich verplaudert. »Des sehn meine Eltern nich jerne, wenn ich Sonnabend so spät nach Hause komme.« Nun war sie mal im Lügen. »Wenn mein Vater die ganze Woche nich da is, denn will er auch am Sonnabend was von mir haben.«

»Wo ist denn Ihr Herr Vater?« fragte der Kolporteur.

»Ach« – ja, was sollte sie sagen? »Bei de Eisenbahn«, sagte die Russengrüne so nebenhin. Da konnte er doch ebensogut Stationsvorsteher wie Lokomotivführer wie Knipser sein. Da vergab sie sich nichts. In Berufen der Väter hatte sie Übung; wenn sie auch von dem polnischen Grafen abgekommen war. Das sagten sie alle immer. Und außerdem hatte sie das gar nicht mehr so nötig, denn eigentlich hatte sie ihren Stamm von Freunden, die ihr jedenfalls treuer blieben als sie ihnen. Und die fragten nach so was gar nicht mehr. Aber heute, Sonnabend, würde sicher einer oder der andere kommen. Vielleicht sogar der kleine Benjamin. Da wollte sie doch lieber zu Hause sein.

 

Ja, und dann gingen sie beide ein Stück am Ufer entlang und warfen Butterstullen. Und die Polenliese sucht nach flachen Steinen für ihn und lachte, wenn sie es selbst probierte und der Stein direktionslos sofort ins Wasser plumpste, daß die Frösche von den Seerosenblättern hupsten. »Wie so'n Mann des macht!« Achtmal, zehnmal tanzte so'n schwerer Stein über weite Entfernungen fort und platschte in kleinen schillernden Spritzern dabei auf, und zum Schluß schnurrte er so im Halbrund noch hin, als ob er auf 'ner Schlitterbahn wäre; und dann – plötzlich! – war er ganz stille, wech, und es war kaum noch ein Kreis auf 'n Wasser da.

Aber früher hatte Rosenemil das noch besser gekonnt, bis vierzehnmal, und die Schwänze hatte er gar nicht mitgezählt dabei. Ja, das kam wohl, weil er heute die Jacke anhatte! Und er warf im Eifer des Gefechts das Jackett ins Gras und die Weste daneben und stand da in seinem baumwollenen Unterjäckchen mit den halben Ärmeln und in seinem Chemisettchen, das durch den grünlichen Gummikragen um den Hals gehalten wurde. Wirklich das einzig Vornehme war noch die geleimte Foulardkrawatte, die nach dem Rhythmus, die nach den Bewegungen seines schwingenden Armes mit den beiden Enden flatterte.

Ach Gott, sagte sich die Russengrüne, der arme Deibel – nich mal een Hemde hat er an! Laut aber sagte sie: »Ach ja, so geht das viel besser, wirklich! Aber nu gehen wir, mein Herr, so können Se sich hier vor de Leute nich hinstellen. Es sind zwar keene da, aber es könnten welche kommen.« Der Kolporteur wurde rot, er merkte, was gespielt wurde, und zog sich ganz schnell die Weste und das Jackett, von dem er einen roten Dukatenfalter aufscheuchte, an. Vielleicht hatte der es für ein Beet blauer Blumen gehalten, vielleicht wollte er nur seine rotvergoldeten Flügel etwas in der Sonne wärmen. Aber als man ihn jetzt vertrieb, war er mit der Welt unzufrieden und flog mißmutig über das Schilf fort aufs Wasser hinaus.

Des hätte er nicht tun dürfen! Wat dachte denn solch eine junge Dame von ihm!

Der Kolporteur irrte sich: Nicht sein Turnen und sein Butterstullenwerfen und seine Rose und seine Redegewandtheit – seine Suada, auf die er sich so viel sonst zugute tat und die heute so jämmerlich hier versagt hatte, sonst hätte sich der Chronist auch sicherlich nicht nehmen lassen, sie in all ihrer Blüte und Farbigkeit aufzurollen –, nichts von alledem war so entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge für ihn wie, daß er plötzlich so in seiner ganzen Ärmlichkeit im baumwollenen Unterjäckchen, das dazu noch nur halbe Ärmel hatte und nicht mal allzu sauber war, und in dem halbrunden, abstehenden Chemisettchen da vor der Russengrünen gestanden hatte, die eine Pleureuse auf dem Hute trug.

Ja, und dann fanden sie einen netten Platz am Wasser. Das heißt, zwei Schilfbänder ließen einen Blick zwischen sich auf das Wasser frei, so daß man alles gerade sehen konnte, was da geschah, und doch nicht selbst gleich auf dem Präsentierteller saß. Einen Platz unter den Erlen, deren Wurzeln dort, wo der Wald in die Sumpfwiesen überging, einen natürlichen Stuhl bildeten. Und neben dem ein dichter alter Brombeerbusch seinen grünen, mit weißen Blütendolden bestickten Vorhang in das Gras und die Quecken und die Vergißmeinnicht, den gelben Hahnenfuß und den kleinen Rasen der Sumpfveilchen und in die Kette der Krausenminze, die dunkelviolett duftete und hellviolett blühte, in den Ampfer und die Sternblumen hinabfallen ließ, so daß aus dem Blütengewirr da unten zu den weißen Lichtchen der Brombeerhecken ein ewiges Hin und Her der Schachbretter und der Kuhaugen und der Bläulinge, der Senfweißlinge und der Dickköpfe und was sonst noch auf dieser Sumpfwiese mit ihrem teppichweichen Boden sich tummelte, so daß es also ein ewiges Hin und Her von weißen, bunten und schillernden Flügelchen gab. Allein die Hummeln machten das nicht mit und steckten nur brummend ihre dicken Köpfe in die Brombeerblüten, nirgends sonstwohin.

Der Kolporteur tappte erst über den Sumpfboden bis ans Wasser vor trotz seiner Löcher in den Sohlen, die sich schnell vollsogen, so leise er auch auftrat. Denn die schönen, langstieligen Rosen und die Monatsröschen, die er vom Kaiserin-Augusta-Denkmal geklaut hatte, die reizenden Kinder Floras, ließen schon bedenklich die Köpfe hängen; die Stiele schnitt er sachgemäß mit dem Taschenmesser schräg ab und legte sie so ganz vorsichtig – warum sollten sie nicht auch nasse Füße bekommen? – in das leise heranplätschernde Wasser.

»Die kann man noch 'ne Woche halten!« rief er.

»Ach ja«, sagte die Polenliese. Sie pflegte Blumen einfach wegzuwerfen, wenn sie welk wurden.

»Schade, daß wir keinen Ball haben«, sagte Rosenemil, als er zurückkam. Denn in jedem Manne steckt – das haben sogar schon Philosophen erkannt – ein Kind, das will spielen.

»Warum denn?« sagte die Russengrüne erstaunt. Denn Frauen sind immer erwachsener als Männer. »Wozu brauchen wir 'nen Ball? Es ist doch janz hübsch so.«

Ja, und das war es dann auch. Das Schilf zum Beispiel war nicht eine Minute still, es florettierte ständig mit spitzen grünen Blattklingen miteinander in hundert Partien. Und das Wasser war auch nicht einen Augenblick still. Es blitzte durchs Schilf von unten her und plätscherte mit den Seerosenblättern, und es funkelte draußen in kleinen Wellchen, auf denen jeden Augenblick an einer andern Stelle die Sonne sich brach. Und dann schwamm mal ein großer Vogel mit einer Haube vorbei, nickte mit dem Kopf und tauchte unter und war weg. Und kam ganz weit drüben wieder 'raus.

»So'n Kleid müßte man haben«, sagte die Dame.

»Warum denn?« meinte der Kolporteur.

»Elektrischblau mit Silber is det modernste.«

Eigentlich saßen sie beide sehr gut, aber doch nicht gerade nebeneinander. Und sie unterhielten sich auch ganz gut, obwohl sie noch immer mit verdeckten Karten spielten und noch jeder versuchte, dem anderen etwas vorzumachen, und dabei an sein eigenes Elend dachte.

Inzwischen war es schon ziemlich spät am Nachmittag. Es mußte so zwischen fünf und sechs geworden sein. Die Schmetterlinge waren nicht mehr so munter, sondern flatterten nach Schlafstellen, und die Frösche begannen schon, sich draußen auf die Seerosenblätter zu setzen und ihre Kehlen für das Abendkonzert zu stimmen. Die Schatten wurden schon länger, die das Schilf über die Wiese legte, und im Brombeerbusch brummten die Hummeln noch geschäftiger und noch mürrischer denn vorher. Und vor allem die silberne Helligkeit war goldig geworden und hing Schleier von Gaze, matt und doch durchscheinend wie die Röckchen der Balletteusen, um die Erlenbäume und solche von Goldgaze um die gebogenen Kiefernzweige, die über die Erlen fort auf das Wasser sahen.

»Wissen Se, wenn man so gar nicht 'rauskommt, denn sieht man eigentlich bloß an de Blumenkörbe auf 'n Potsdamer Platz, was für 'ne Jahreszeit eigentlich wirklich is. Wenn erst die ersten Schneeglöckchen in de Körbe sind, is März; und wenn de ersten gelben Primeln sind, denn is so um Ostern; un wenn de Iris und de Pfingstrosen kommen, denn is Pfingsten; un wenn de Astern kommen, denn is September. Da weiß ich es immer janz jenau, des det Jahr bald 'rum geht«, sagte der Kolporteur und verlegte seinen Sitzplatz etwas näher zu Fräulein Lissi.

»So is des«, sagte die Russengrüne nachdenklich. »Was rücken Se denn mir so nach? Ick habe wohl Speck in de Tasche?« Aber dann lachte sie doch wieder.

»Sie haben doch auf einmal so rote Backen gekriegt, Fräulein Lissi«, sagte der Kolporteur wieder und streckte – das erste Mal – die Hand aus und strich ihr sehr zaghaft über die Wange, die wundervoll weich war ... Es gibt Pfirsichbacken und Kirschbacken – sie hatte die ersten.

Ihm schien sie doch etwas wärmlich. Jedenfalls war er nicht so ... Jott, solche junge Dame, die is wohl immer so'n bißchen warmblütiger, wie des so die Männer sind.

»Und was haben Sie denn mit einmal für blanke Augen gekriegt?«

»Ach, des kriege ich jetzt immer um die Zeit so 'rum«, sagte die Russengrüne. »Aber fassen Se doch mal meine Hände an, die sind doch ganz kalt.« Wirklich, sie waren nicht kühl, sie waren kalt; sie waren zwar sehr schön ... wie das ganze russengrüne Wesen! Madonnenhände – nicht Riemenschneiders, sondern Luca della Robbias; die sind weicher und animalischer und noch edler in der Form, mit Kütchen, wo jeder der langen Finger, der gedrechselten, spitz zulaufenden Finger mit der Perlmuttermuschel des Nagels an der Spitze, jeder sich von dem schmalen Handteller trennt ... aber die hier, sie waren kalt. Und sie waren sogar von einer feuchten Kühle.

»Na, sehn Se, mein Jungeken!« sagte die Russengrüne. Bisher hatte sie immer »Herr« gesagt oder sogar »Herr Rosenemil«. »Hab' ich nu etwa Fieber? Na sehn Se!« Sie lachte. »Un wat jehn Ihn' überhaupt meine Hände an, mein Herr?« Eigentlich heißt es nun: Was gehen Sie überhaupt meine Hände an oder Händchen an. Aber es klang anders viel zarter und weicher. Wie's ja überhaupt mit der deutschen Sprache eine Absonderlichkeit ist: Falsch ist da oft richtiger als richtig ... Ja, meist richtiger.

Und außerdem wußte Rosenemil gar nicht, daß ja gerade die kalten Hände, wie der Arzt es ausgedrückt, bei so'n ganz kleinen, kaum erst feststellbaren Spitzenkatarrh zum Bild gehören. Woher sollte er auch so was wissen? Das war wirklich nicht bei ihm zu befürchten, daß er sich, wie die Polenliese, je solche Kenntnisse aneignen würde: die Sturzwelle ging ja immer noch sehr gut ... Des hatte er heute gesehen. Aber wie er davon sein Schlafgeld bezahlen sollte, das wußte er nicht. Un wenn er die Mappe nich wiederkriegte mit die zweiundzwanzig »Verstoßene Gräfinnen« am Montag – wat sollte er machen? Aber die Polenliese wußte das. Sie nahm – oder sollte es wenigstens – immer solche Pillen, die wie braune Tröpfchen aussahn und wie ein ganzes Krankenhaus schmeckten. Wirklich, die hatten ihr janz jut jetan. Und außerdem war es eigentlich ganz hübsch so. Sie war immer um die Zeit so hübsch aufgepulvert. Un abgenommen ... darauf achtet der Doktor Levy sehr; des war zwar ein Jude, aber ein anständiger Mann. (Da konnte jedes Mädchen aus der Jejend kommen, er nahm nie einen Jroschen von se!) Abgenommen hatte sie beim Braunbier noch nich ein Gramm. Sie war immer noch rund und rosig wie ein Marzipanpüppchen. Des hatte wenigstens der kleine Benjamin gesagt.

Aber Rosenemil ließ die Hand, obwohl sie kalt und feucht in der seinen lag und grade um diese Stunde – sie gab sie dann schon keinem – sich nicht angenehm anfaßte, nicht los ... und sah sehr still über das Wasser fort ... Aber plötzlich machte er eine Wendung und zog die Russengrüne an sich, und dann hatte er ihren Kopf in beiden Händen, die Finger verschwanden ganz unter den weichen, bronzefarbenen Flechten, und küßte sie, die Russengrüne mit den roten Backen und den blanken Augen, leise und sehr zart mitten auf den Mund, eher anbetend als verliebt. Und die Russengrüne sank leise in seine Arme vor und schloß die Augen, und unter den sehr langen Wimpern, die nach den Spitzen zu sich wieder etwas hochbogen (auch das hatte Doktor Levy gleich gesehen, aber nicht bemerkt!), krochen zwei blanke Tränen vor und liefen langsam über die Backen fort.

Die Tränen hatten einen absonderlichen Grund. Es war keine Dirnensentimentalität. Was sollte das auch hier. Und kein Mitleid mit sich selbst; sie hatte es ja ganz nett ... die Männer waren nicht roh zu ihr. Und sie hatte es eigentlich ganz gut. Auch keine Angst vor der Krankheit. Soweit war sie sich wohl nicht darüber klar. Und Optimismus gehört ja auch zu ihrem Bild. Und außerdem kommt's, wie's kommt, und man kann ja doch nischt jejen machen ... Es war ganz etwas anderes ... Abgeknutscht wurde sie alle Tage. Das taten die meisten Männer nicht anders. Aber seit langem war sie nicht mehr nur geküßt worden, und das überwältigte sie so im Augenblick. Vielleicht war es auch der Nachmittag hier draußen, die Beleuchtung in Gold und Hyazinthen, wie Baudelaire sagt, der weiche Wind, der aufkam, und daß sie der arme Kerl hier küßte und sonst garnischt von ihr wollte.

»Ick will doch noch mal den Doktor Levy insultieren«, sagte sie, als sie sich von ihm loslöste. Und dann ging sie unvermittelt auf ein anderes Thema über. »Wissen Se, Rosenemil, wenn ich een Mann liebhabe, denn tu' ick alles für ihn, denn lege ick mir quer und breit for ihn.«

»Haben Sie denn schon mal eenen Mann liebgehabt, Fräulein Lissi?« fragte der Kolporteur.

»Ja«, sagte die Russengrüne, »aber mit dem war nich ville los. Der war nich sehr weit her. Wat kieken Se denn vor sich hin? Bin ich nich nett zu Ihnen gewesen?«

 

»Ach Gott«, sagte der Kolporteur, »ich habe meine Mappe verloren!«

»Was für 'ne Mappe?« fragte die Russengrüne.

»Es war ein Kilo Gesundheitstee und zwei- oder dreiundzwanzig ›Verstoßene Gräfinnen‹ drin.« Nun kam's 'raus. Alles, was er ein paar Stunden in sich zurückgedämmt hatte, versucht hatte, wegzudenken, brach durch. Und nun kam auch seine ganze Redegewandtheit wieder.

»Ach, Sie hausieren mit sone Blutwürschte?« sagte die Russengrüne. Aber es war gar nichts Abfälliges darin. Jeder mußte eben sein bißchen Geld in dieser Stadt auf seine Weise und so schwer, wie es eben ging, verdienen. »Also mir hat auch mal einer so'n Heft aufgeredet. Meine Eltern durften das gar nicht wissen. Da kam gleich was von 'ne Chloroformmaske drin vor. Des war mir zu graulich.«

»Ach des war der ›Schwarze Prinz‹ oder ›Die Strafe des Schicksals‹«, sagte der Kolporteur melancholisch, »da bin ich auch mal mit jegangen.«

»Bei uns zu Hause kommt immer so'n junger Mann hin, der bringt mir Bücher. Manche sind ja sehr schön zu lesen. Die les' ick denn janz langsam. Aber andere sind so langweilig wie 'ne uffjewärmte Leichenrede. Wie hieß denn des wieder? Also ick komm' schon drauf! Es war was mit 'nen Irrtum – Irrungen glaube ich, hieß es, und denn kam noch 'n anderes Wort ... aber des habe ich dem kleenen Benjamin gleich wiedergegeben!«

Der kleine Benjamin wollte sie natürlich, wie so viele in seinem Alter, erst bilden, zu sich heraufziehen und dann heiraten. Ja, das war eine eigene Sache mit dem kleinen Benjamin!

»Ja, und die Mappe is futsch. Und die muß ich doch die Leute ersetzen. Von den Gesundheitstee red' ich schon gar nicht.«

»Na, dann müssen wir eben die Leute zahlen.«

»Wo soll ick denn det hernehmen?«

»Ach Jott, det find't sich schon«, sagte die Russengrüne und legte ihre schlanke Hand dem Kolporteur sehr leise auf die Schulter, und sie kam mit ihrem Mund und den großen Augen dem Gesicht des Kolporteurs bedenklich nahe. »Haste mir den ersten Kuß gestohlen«, sagte sie leise, »so kannste dir auch die andern holen.« Und sie lachte und machte den Mund ganz spitz. All der Dreck der letzten sechs Jahre (und wenn sie auch erst ein Jahr unter Sitte stand), so lang ging das schon, der ja doch zum Schluß eigentlich nicht haftengeblieben war und die Poren der Seele doch nicht verstopft hatte, war von ihr abgespült, und sie war wieder, wie sie mit siebzehn gewesen war.

»Sehn Se, Rosenemil, fassen Se mal an«, sagte sie nach einer ganzen Zeit, »faß mal an, des kommt und jeht so wieder. Fassen Se mal an. Jetzt habe ich ja keene heißen Backen mehr.« Wirklich, sie waren nicht mehr heiß, aber sie waren auch nicht mehr rot. Sie hatten die Farbe von Pfirsichen bekommen. Und solch ein Gefühl gaben sie seiner Hand ja auch. Von Pfirsichen, die man halbreif vom Spalier genommen hat, damit sie in der Kiste nachreifen sollten. Also sie waren leicht gelblich, ein ganz klein wenig grünlich wohl auch noch, mit einem rosigen Hauch darüber. Aber jetzt, in der goldroten Abendsonne, die groß in dem Wald da drüben, jenseits des Wassers, versank, glühend und strahlenlos geworden war, waren sie doch so angegoldet, daß man das kaum sah. Und nachher konnte man doch was auflegen.

Es war wirklich schön, wie die Laufkante und die Nadelwülste des Waldes da weit drüben – dort, wo die Sonne sich senkte – ganz deutlich und scharf, als ob man sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten und dort auf die Kupferscheibe geklebt hätte, sich abzeichneten; und schön war die lange schmale Feuerbrücke, der Goldsteg, den sein Widerschein auf dem ganz blauen und nelkenfarbenen, metallisch überspielten Wasser gerade auf die beiden zu erbaut hatte. Wie glatt das Wasser jetzt war ... wie ein ausgespanntes Seidentuch! Kein auch noch so kleines Weilchen. Kein auch noch so winziges Lüftchen, das es hätte erregen können. Das Laub hing ganz ruhig an den Bäumen. Selbst die Hummeln hatten mit ihrem Gebrumm und Geschimpfe aufgehört ... Hat mal jemand darauf geachtet, daß es gerade genau um Sonnenuntergang so still und unbewegt in der Natur draußen wird, als wären alle Dinge und Wesen nur eine Versammlung von Quäkern, die, um sich zu sammeln, mit gefalteten Händen eine Minute, als hätte man ihnen Stillstand kommandiert und Schweigen geboten, all ihr Tun und Denken ausgeschaltet haben? Hat mal jemand darauf geachtet?

»Ja«, sagte der Kolporteur. »Die jeht nu schlafen, Frollein Lissi, und die weiß, wo se hin jeht ... Ich hab' noch keene Schlafstelle heute ... ich nich.«

»Na wat denn? Wat denn? Wat denn?« rief die Polenliese erstaunt. »So muß' kommen: sieben Häuser und keine Schlafstelle«, und dann lachte sie, sie konnte sich gar nicht beruhigen, die Russengrüne.

»Sie habens jut, Frollein Lissi. Sie haben jut lachen. Ich find's ja auch komisch ... Sie gehn nachher zu Ihre Eltern nach Hause.«

»Na ja«, und die Polenliese lachte immer noch, vielleicht über die Idee, daß es jemand wirklich glauben könnte, daß sie zu ihren Eltern nach Hause ging. Da käm' sie schneller vierkantig die Treppe 'runter, als sie je 'raufjejangen wäre. »Na ja«, sagte sie wieder langsam, »es jibt eben einen klugen Hans, und es jibt eben einen dummen Hans. Doof bleibt doof.«

»Jewiß«, meinte der Kolporteur nachdenklich, »ick bin vielleicht immer ein dummes Luder jewesen. Un des is ja endlich auch nicht so schlimm. Denn schlaf' ick eben im Humboldthain. Des hab' ick schon mal jetzt vor'n Jahr jemacht. Uff 'ne Bank ...«

»Wo sind Se denn jestern uff de Nacht gewesen?« fragte die Lissi.

»Jestern – jestern war ick noch bei meine Schlafstellenvermieterin in de Zingststraße. Aber da bin ich jetzt seit fast drei Wochen lang des Schlafgeld schuldig geblieben. Ewig kann ich die Frau das auch nich zumuten ... Sie kriegt morgen einen anderen for mir. Des sind arme Leute. Was soll man die noch um ihr Geld bringen.«

»Da haben Se ooch wieder recht«, sagte die Russengrüne und nickte sehr nachdenklich vor sich hin, »die werden des ooch nich so dicke haben da draußen in de Zingststraße.«

Rosenemil hielt die Hand vor die Augen; vielleicht hatte ihn die letzte Feuerkante der untergehenden Sonne geblendet, vielleicht war ihm wirklich hundeelend.

»Sie haben wohl heute die Strümpe verkehrt angezogen? Nu weene man nicht«, sagte die Russengrüne und legte ihm wie eine wärmende Boa ihren schönen, langen, weichen Arm um den Hals. So hat das bei meinem Freund damals auch angefangen ... Un nachher haben sie'n nach Dalldorf gebracht.

Sie haben jut reden, mein Fräulein, dachte der Kolporteur, aber er sagte nichts ... denn es gibt Augenblicke, da Schweigen wirklich Gold sein kann. Merkwürdig: wie die Sonne fort war und nur da noch ein helles Rosenblatt am Himmel, wo sie versunken, quoll plötzlich aus Sandboden und Sandhängen, aus Kiefern, Wald und Wiesen und Erlenstämmen und Birkenfahnen solch ein heißer Wrasen auf, als ob alle noch einmal, bevor die Nacht kam, der Sonne für die Wärme, die sie den Tag über gespendet, ihren Dank sagen müßten. Und im gleichen Augenblick wurde auch Gras und Laub unter dem dumpfblauen und rotgebänderten Himmel dunkler und fester, und in dem grünen, festen Tuch der Wiese leuchteten die gelben Blüten vom Hahnenfuß, braunen Ampfer, die kleinen mattblauen Sumpfveilchen und die weißen Rispen der Spiräen und die vergißmeinnichtblauen Sternchen der Vergißmeinnichtsträuße hinten am Schilfrand. Weiße Winden, die geschlossen noch vorher, waren plötzlich, als ob sie mit Seide in das grüne Tuch hineingestickt wären, aufgegangen. Sie leuchteten ordentlich, als hätten sie Leuchtfarben, die erst mit der Dunkelheit zu leben beginnen. Und in den Vorhang des Brombeerbusches da neben ihnen waren die weißen Blütenballen im gleichen Augenblick wie in einen alten Silberbrokat mit echten Silberfäden eingewirkt. Die Hummeln waren in ihnen schlafen gegangen. Aber die ersten Dämmerungsfalter standen, bunte, schwirrende Flügelschatten – Weinschwärmer und Wolfsmilchschwärmer, die sich wohl heute erst aus der Puppenhülle befreit hatten – zitternd und erregt vor Leben und Liebessehnsucht, wie angenagelt über ihnen in der stillen Luft und ... und senkten – das konnte man genau sehen (so dunkel war es eben doch noch nicht, auch wenn das Licht von Sekunde zu Sekunde nachließ) – ihre langen, entrollten Zungen dem Honigduft nach, bis tief in den Kelch der Blüten aus Silberfäden.