Spanische Literaturwissenschaft

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Spanische Literaturwissenschaft
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Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser

Spanische Literaturwissenschaft

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0011-3

Inhalt

  Vorwort zur 3., aktualisierten Auflage

  1 Begriff ‚Literatur‘ 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 1.2 Literatur medial Literatur

 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle2.1 Poetik2.1.1 Die Poetik des Aristoteles2.1.2 Poetiken des Siglo de Oro2.2 Gattungen2.3 Epochen2.4 Literaturgeschichte2.5 KanonLiteratur

  3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten 3.1 Bachelor- und Master-Studiengänge 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler 3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 3.5 Arbeitstechniken Literatur

  4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik 4.1 Verstehen – Analysieren – Interpretieren 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise 4.4 Gattung Lyrik Literatur

  5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda Literatur

 6 Dramenanalyse6.1 Dramatische Gattungen6.2 Drama als Text und Aufführung6.3 Raum und Zeit6.4 Figuren6.5 Figurenrede6.6 Figurenkonstellation6.7 Handlung6.7.1 Aufbau und Untergliederung6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas6.7.3 Episches Theater6.7.4 Experimentelles TheaterLiteratur

 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse7.1 La vida es sueño7.1.1 Calderón de la Barca7.1.2 Inhaltsangabe7.1.3 Analyse ausgewählter Passagen7.2 Bodas de sangre7.2.1 Federico García Lorca7.2.2 García Lorcas ‚tragedias rurales‘7.2.3 Zum Inhalt der Bodas de sangre7.2.4 Analyse ausgewählter PassagenLiteratur

 8 Epik und Erzähltextanalyse8.1 Gattung Epik8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs8.2.1 Stimme8.2.2 Zeit8.2.3 Distanz8.2.4 Fokalisierung8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte8.3.1 Figuren8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘Literatur

 9 Epik analysieren – Beispiele und Übungen9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem9.1.1 Kontext eines literarischen Projekts9.1.2 Doña Perfecta9.2 Selbstbezügliches Erzählen: Julio Cortázar, Continuidad de los parquesLiteratur

 10 Text und Autorschaft10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze10.2 Positivismus10.3 Exkurs: Frühe Philologie in Spanien10.4 Psychoanalyse10.5 Literatursoziologie10.5.1 Marxistische Literaturwissenschaft10.5.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘10.5.3 FeldtheorieLiteratur

 11 Textvergleich und Textwirkung11.1 Komparatistische Literaturwissenschaft11.1.1 Thema, Stoff, Motiv11.1.2 Typologischer und genetischer Vergleich11.1.3 Exkurs: Allgemeine Literaturwissenschaft11.1.4 Imagologie11.1.5 Kulturtransfer11.2 Die Rezeption literarischer Werke11.2.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte11.2.2 Rezeptionsästhetik11.3 Feministische Literaturwissenschaft und Gender StudiesLiteratur

 12 Strukturalismus und Poststrukturalismus12.1 Strukturalismus12.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘12.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten12.2 Poststrukturalistische Ansätze12.2.1 Intertextualität12.2.2 Historische Diskursanalyse12.2.3 Postkoloniale Literaturtheorien12.2.4 DekonstruktionLiteratur

  13 Filmanalyse 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 13.2 Bildebene 13.3 Tonebene 13.4 Montage 13.5 Filmisches Erzählen Filmedition Literatur

 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse14.1 Pedro Almodóvar14.2 Inhaltsüberblick zu Todo sobre mi madre14.3 Leitlinien der Analyse14.3.1 Filmisches Erzählen14.3.2 Intertextualität, Intermedialität, Hybridgattung14.3.3 Körperlichkeit und Gender-Perspektive14.4 Interpretationsansätze14.4.1 Interpretation unter Gender-Aspekten14.4.2 Interpretation unter poststrukturalistischen Vorzeichen14.4.3 Interpretation aus psychoanalytischer PerspektiveFilmeditionLiteratur

  Abbildungsverzeichnis

  Sachregister

Vorwort zur 3., aktualisierten Auflage

Von der Einführung der ersten Bachelor-Studiengänge bis zum heutigen Zeitpunkt haben einschneidende Veränderungen die Hochschullandschaft umgestaltet. Infolge der Vorgaben der sog. ‚Bologna-Reform‘ wurde auf breiter Ebene eine Modularisierung der Studiengänge eingeführt, die mit einem gestuften System von Abschlüssen und dem Anspruch auf verbesserte Studierbarkeit und Qualitätssicherung einhergeht. Zumal die europaweite Vergleich- und Anrechenbarkeit von Studienabschnitten oder Diplomen sollte eine erleichterte Mobilität der Studierenden nicht nur innerhalb der deutschsprachigen Staaten, sondern über deren Landesgrenzen hinweg ermöglichen. Auf die damit verbundenen problematischen Aspekte in Konzeption und Umsetzung braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Festgehalten werden kann indes die deutlichere Profilbildung und die größere Transparenz hinsichtlich der Inhalte und Standards in den literaturwissenschaftlichen Grundlagenmodulen der verschiedenen hispanistischen und lateinamerikanistischen Studiengänge. Eine besondere Rolle spielt dabei gerade der jüngste Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf die Lehramtsstudiengänge nicht nur in ihren Strukturen modularisiert wurden und damit inzwischen in weiten Teilen zu den Bachelorstudiengängen parallel angelegt sind. Vielmehr wurde in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz die Lehrerausbildung bereits in großen Teilen bzw. sogar vollständig auf das Bachelor-Master-System umgestellt, oder aber es wird ggf. ein das Lehramtsstudium begleitender Bachelor of Education angeboten. Damit ist das Bachelor-Studium gleichsam vom Reformprojekt zum Standard avanciert.

 

Der vorliegende Band der Reihe bachelor-wissen versteht sich in diesem Sinne als eine möglichst universell einsetzbare Einführung in Theorien, Analyseinstrumente und Methodik der hispanistischen und lateinamerikanistischen Literaturwissenschaft sowie des wichtigen angrenzenden Bereichs der Filmanalyse. Die vorliegende 3. Auflage wurde erneut aktualisiert und einer kritischen Korrektur unterzogen. Das Gleiche gilt für die umfangreichen Online-Materialien, die begleitend zum Lehrbuch unter [bad img format] www.bachelor-wissen.de zur Verfügung stehen.

Augsburg/Freiburg i.Br., Juli 2016

Rotraud v. Kulessa, Maximilian Gröne und Frank Reiser

1 Begriff ‚Literatur‘

Inhalt

 1.1 Literatur ‚an und für sich‘

 1.2 Literatur medial

Überblick In diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Definition von ‚Literatur‘ als Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Wir ziehen dazu Beispieltexte aus der spanischsprachigen Literatur heran und suchen notwendige oder typische Eigenschaften von Literatur. Anschließend lernen Sie einige medientheoretische Grundlagen von Literatur als Schrift-Kunst kennen.

1.1 Literatur ‚an und für sich‘

Zu Beginn unserer Ausführungen wollen wir uns dem Gegenstand unseres Studiums zuwenden. Was ist eigentlich Literatur? Diese Frage, die auf den ersten Blick geradezu banal erscheinen mag, stellt sich auf den zweiten Blick als Etymologie des Wortes ‚Literatur‘ überaus komplex dar. Widmen wir uns in einem ersten Schritt der Etymologie (Herkunft) des Wortes: Literatur, span. literatura, stammt aus dem Lateinischen: litteratura = das Geschriebene, Schrifttum. Halten wir fest: Ursprünglich bezeichnet der Begriff ‚Literatur‘Literaturbegriff alle schriftlichen Äußerungen und schließt mündliche Äußerungen dagegen aus. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich der BegriffLiteraturbegriff von einer materiellen Dimension hin zu einer qualitativen. Unter ‚Schöne Literatur‘ Literatur wurde zunehmend die ‚schöne Literatur‘ verstanden, die wiederum mit dem Begriff der ‚Dichtung‘ konkurrierte. Diese beiden Begriffe ihrerseits implizieren Definitionskriterien: so beinhaltet der Begriff ‚schöne Literatur‘ Ästhetik den Aspekt der Ästhetik; Dichtung kommt von Dichte und meint die Dichte der Sprache.Sprache Ein weiteres Kriterium wäre so der Umgang mit der Sprache. In diesem Sinne stellte der Linguist Roman Jakobson 1921 folgende Frage: „Was Roman Jakobson macht aus einer sprachlichen Nachricht ein Kunstwerk?“ Der Unterschied zwischen Literatur und Dichtung zu umgangssprachlichen Texten liegt also laut Jakobson in ihrem ‚Kunstwerkcharakter‘, der mit dem Begriff der ‚Literarizität‘ Literarizität umschrieben wird. Wir wollen unsere Überlegungen zum LiteraturbegriffLiteraturbegriff nun fortsetzen, indem wir uns einer Reihe von Texten zuwenden.

Aufgabe 1.1 ? Lesen Sie folgende Texte kurz an und überlegen Sie, welche von ihnen Sie zur Literatur im engeren Sinne zählen würden.

Überlegen Sie sich weitere Unterscheidungskriterien neben den bereits angeführten.

Text 1.1

Miguel de Cervantes: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605) En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, rocín flaco y galgo corredor. Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantos los sábados, lantejas los viernes, algún palomino de añadidura los domingos, consumían las tres partes de su hacienda. El resto della concluían sayo de velarte, calzas de velludo para las fiestas, con sus pantuflos de lo mesmo, y los días de entresemana se honraba con su vellorí de lo más fino. Tenía en su casa una ama que pasaba de los cuarenta y una sobrina que no llegaba a los veinte, y un mozo de campo y plaza que así ensillaba el rocín como tomaba la podadera. Frisaba la edad de nuestro hidalgo con los cincuenta años. Era de complexión recia, seco de carnes, enjuto de rostro, gran madrugador y amigo de la caza. Quieren decir que tenía el sobrenombre de “Quijada”, o “Quesada”, que en esto hay alguna diferencia en los autores que deste caso escriben, aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba “Quijana”. Pero esto importa poco a nuestro cuento: basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad.

Es, pues, de saber que este sobredicho hidalgo, los ratos que estaba ocioso, que eran los más del año, se daba a leer libros de caballerías, con tanta afición y gusto, que olvidó casi de todo punto el ejercicio de la caza, y aun la administración de su hacienda. Y llegó a tanto su curiosidad y desatino en esto, que vendió muchas hanegas de tierra de sembradura para comprar libros de caballerías en que leer, y así, llevó a su casa todos cuantos pudo haber dellos; y de todos, ningunos le parecían tan bien como los que compuso el famoso Feliciano de Silva, porque la claridad de su prosa y aquellas entricadas razones suyas le parecían de perlas, y más cuando llegaba a leer aquellos requiebros y cartas de desafíos, donde en muchas partes hallaba escrito: La razón de la sinrazón que a mi razón se hace, de tal manera mi razón enflaquece, que con razón me quejo de la vuestra fermosura. Y también cuando leía: … los altos cielos que de vuestra divinidad divinamente con las estrellas os fortifican, y os hacen merecedora del merecimiento que merece la vuestra grandeza. Con estas razones perdía el pobre caballero el juicio, y desvelábase por entenderlas y desentrañarles el sentido, que no se lo sacara ni las entendiera el mesmo Aristóteles, si resucitara para sólo ello. (Cervantes: 2008, 113f.)

Abb. 1.1

Juan de Jáuregui: Miguel de Cervantes (1600)

Text 1.2


Guillermo de Torre: Paisaje plástico (1919) (de Torre: 1919, 160)

Text 1.3

Cortázar, Julio: Situación de la novela (1950) Alguna vez he pensado si la literatura no merecía considerarse una empresa de conquista verbal de la realidad […] cada libro lleva a cabo la reducción a lo verbal de un pequeño fragmento de realidad […] Es así que mientras las artes plásticas ponen nuevos objetos en el mundo […] la literatura se va apoderando paulatinamente de las cosas […] (Cortázar: 1950, 223)

Text 1.4

Gustavo Adolfo Bécquer: Rimas (1868) Yo sé un himno gigante y extraño

que anuncia en la noche del alma una aurora,

y estas páginas son de este himno

cadencias que el aire dilata en las sombras.

Yo quisiera escribirlo, del hombre

domando el rebelde, mezquino idioma,

con palabras que fuesen a un tiempo

suspiros y risas, colores y notas.

Pero en vano es luchar; que no hay cifra

capaz de encerrarle, y apenas ¡oh hermosa!

si teniendo en mis manos las tuyas

pudiera, al oído, cantártelo a solas.

(Bécquer: 2009, 109)

Abb. 1.2

Gustavo Adolfo Bécquer (1836–1870)

Text 1.5

José Sanchis Sinisterra: Ñaque o de piojos y actores (1980) RÍOS. ¿Dónde estamos?

SOLANO. En un teatro…

RÍOS. ¿Seguro?

SOLANO. … o algo parecido.

RÍOS. ¿Otra vez?

SOLANO. Otra vez.

RÍOS. ¿Esto es el escenario?

SOLANO. Sí.

RÍOS. ¿Y eso es el público?

SOLANO. Sí.

RÍOS. ¿Eso?

SOLANO. ¿Te parece extraño?

RÍOS. Diferente…

SOLANO. ¿Diferente?

(Sinisterra: 2008, 125)

Text 1.6

El País, 18. 12. 2008 Una mezcla de realismo de la vida cotidiana y de mundo mágico, en palabras de la también escritora Ángeles Caso, definirían la última novela de Matute. Ambas dialogaron en tono distendido sobre la literatura y la vida, dos conceptos que significan la misma cosa, a juicio de Ana María Matute. “La literatura es mi mundo y, en realidad, podría decir que la literatura es la vida de verdad”, remachó la novelista y académica. Situada la trama en la época de la Segunda República, en el ambiente de una familia burguesa, el contraste entre un realismo duro y unas fabulaciones mágicas a través de sus lecturas marcan la formación sentimental de la pequeña Adriana, enamorada de Gavrila, un niño ruso, hijo de una bailarina. “La niña protagonista vive en función de sus lecturas, tal como hice yo que siempre fui una rebelde. Yo tenía auténtica pasión por los cuentos”, recordó Ana María Matute que destacó, una y otra vez, la importancia de la infancia en todas las personas. “La infancia nos marca de una forma tremenda y yo he intentado mantener la niña que fui”, manifestó muy convencida.

(El País, 18. 12. 2008)

Text 1.7

Jorge Luis Borges: La Biblioteca de Babel (1942) El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número indefinido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas. Desde cualquier hexágono se ven los pisos inferiores y superiores: interminablemente. La distribución de las galerías es invariable. Veinte anaqueles, a cinco largos anaqueles por lado, cubren todos los lados menos dos; su altura, que es la de los pisos, excede apenas la de un bibliotecario normal. Una de las caras libres da a un angosto zaguán, que desemboca en otra galería, idéntica a la primera y a todas. A izquierda y a derecha del zaguán hay dos gabinetes minúsculos. Uno permite dormir de pie; otro, satisfacer las necesidades finales. Por ahí pasa la escalera espiral, que se abisma y se eleva hacia lo remoto. En el zaguán hay un espejo, que fielmente duplica las apariencias. Los hombres suelen inferir de ese espejo que la Biblioteca no es infinita (si lo fuera realmente ¿a qué esa duplicación ilusoria?); yo prefiero soñar que las superficies bruñidas figuran y prometen el infinito […] La luz procede de unas frutas esféricas que llevan el nombre de lámparas. Hay dos en cada hexágono: transversales. La luz que emiten es insuficiente, incesante.

(Borges: 1999, 105–106)

Suche nach Kriterien Ein erster Blick auf die sieben Texte führt dazu, dass wir einige spontan, ohne sie überhaupt eingehend zu lesen, in die Kategorie Literatur einordnen, so die Texte 1.4 und 1.5, die uns aufgrund ihrer Anordnung und des Schriftbildes sofort an ein Gedicht (1.4) und ein Drama (1.5) denken lassen. Diese spontane Einordnung verdanken wir wiederum unserem Vorwissen (vgl. hermeneutischer Zirkel, Einheit 4), das unser Bewusstsein für literarische GattungenGattungen (vgl. Einheit 2.2) beeinflusst. Ähnlich verhält es sich mit Text 1.6. Hier verrät uns die Quellenangabe, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelt, den wir spontan nicht zur Literatur zählen würden. Unsere Entscheidung wird in allen drei Fällen durch textexternes Wissen bestimmt bzw. durch eine Form von ParatextParatext ParatextParatext (vgl. Einheit 12.2.1), d.h. in diesem Fall einen für sich sprechenden Titel, nämlich den einer bekannten spanischen Tageszeitung. Es stellt sich natürlich die Frage, warum ein Presseartikel für uns nicht zur ‚Literatur‘ zählt. Entscheidend ist hier wohl der Aspekt der Erwartung des Lesers, der mit der Presse vor allem den Zweck der Information verbindet. Ein weiteres Unterscheidungskriterium Zweck/Funktion wäre also der Zweck oder die Funktion einer schriftlichen Äußerung bzw. eines Textes. Um diesen für die einzelnen Texte zu klären, müssen wir uns nun jeweils ihrem Inhalt zuwenden. In allen sieben Texten geht es im weiteren Sinne um die Literatur selbst, um das Schreiben, das Lesen, das Erzählen. Der Inhalt Inhalt ist als Unterscheidungskriterium also erst einmal nicht sachdienlich. Es kommt hinzu, dass sich der Sinn der Texte 1.2 und 1.4 nicht beim ersten Lesen enthüllt. Erkennen wir letzteren (d.h. Text 1.4) zwar aufgrund formaler Kriterien und aufgrund des ParatextesParatext, nämlich des Titels (Rimas), sofort als Literatur, erweist sich Text 1.2 als Problem. Nur vor dem Hintergrund des Titels in Zusammenhang mit literaturhistorischem Wissen erschließt sich der Sinn bzw. Unsinn und damit der Zweck dieses Textes. Der Autor Guillermo de Torre, geboren 1900 in Madrid und gestorben 1971 in Buenos Aires, war Mitglied der Generación del 27Generación del 27 und der Bewegung der ultraístas, eines Zusammenschlusses spanischer Dichter, die auch in die spanische Literatur die Futurismus, Dadaismus, SurrealismusSurrealismus europäischen Avantgarde-Bewegungen wie den Futurismus, den Dadaismus und vor allem den SurrealismusSurrealismus einbringen wollten. Der Titel des Gedichtes von Guillermo de Torre, El paisaje plástico, verweist auf den Zusammenhang von Literatur und bildender Kunst. Es handelt sich bei dem Text um ein so genanntes Kalligramm, eine Gedichtform, die auf der Bedeutungsebene mit Wort und Bild spielt, indem Schriftbild und Textbedeutung sich gegenseitig bedingen. Wie bei den dadaistischen Collagen und den Werken der Futuristen handelt es sich um ästhetische Experimente, bei denen die formale Neuerung Autonomieautonom: Eigengesetzlichkeit der Kunst und die Autonomieautonom der Ästhetik im Vordergrund stehen, und somit Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit thematisieren. Auch in Text 1.4 steht die Dichtung selbst im Mittelpunkt. Gustavo Adolfo Bécquer (1836–1870) kündigt in dem Einleitungsgedicht zu seinen Rimas (1871), die er in Anlehnung an den Canzoniere Petrarcas verfasste, eine neue Dichtungsauffassung an und problematisiert dabei insbesondere die Rolle von Sprache als UniversalmediumMedium (vgl. StrophenStrophe 2 und 3). Text 1.2 und Text 1.4 haben eines gemeinsam: die Sprache steht im Mittelpunkt und verweist gleichsam auf sich selbst. Das Gedicht von Komposition und StrukturStruktur Bécquer ist in hohem Maße durchkomponiert bzw. strukturiertStruktur. Zunächst durch die Verse, die den Text rhythmisieren (hier im Wechsel von Zehn- und Zwölfsilblern, span. decasílabo und dodecasílabo), dann durch die StrophenStrophe (drei Quartette, span. cuartetos), schließlich durch den ReimReim, einen assonantischen ReimReim in den geradzahligen Versen (zur lyrischen Form siehe Einheit 4.4). Weiter fallen Besonderheiten in der sprachlich-stilistischen Gestaltung auf. So begegnen wir Metaphern wie „la noche del alma“ für die Stimmung des lyrischen Ichs oder Parallelismen wie in Vers 8 („suspiros y risas, colores y notas“). Weiterhin fällt in Vers 10 („¡oh hermosa!“) eine Anrufung (Apostrophe, span. apóstrofe) ins Auge, die die Geliebte des lyrischen Ichs als Adressatin des Gedichts zu Erkennen gibt. Allen diesen Eigenheiten ist Sprache gemeinsam, dass der Text eine eigentümliche, von der ‚Normalsprache‘ abweichende Sprache verwendet, die sich nicht darauf beschränkt, den Inhalt des Textes darzustellen, sondern auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Art und Weise dieser Darstellung lenkt. Diese Eigenschaft von Texten bezeichnet PoetizitätPoetizität man üblicherweise mit dem Begriff PoetizitätPoetizität (poeticidad, f.).

 

Abweichung Das Moment der Abweichung als Kennzeichen literarischer Texte ist durchaus naheliegend. Es begegnet uns in der verbreiteten Vorstellung,Deviationsstilistik im FormalismusFormalismus ‚Literatur‘ sei im Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung eine Form stilistisch anspruchsvollen, ‚guten‘ Schreibens – insgesamt gesehen zumindest, wobei es freilich auch ‚minderwertige‘ Literatur gibt, die diesen Anspruch zwar nicht FormalismusFormalismus (‚Formale Schule‘): zwischen 1914 und 1930 in Moskau und Leningrad tätige Gruppe von Sprach- und Literaturwissenschaftlern einlöst, aber dennoch an ihm gemessen werden kann und wird. Auch Literaturwissenschaftler haben auf diesen Gesichtspunkt abgehoben, am nachhaltigsten die russischen FormalistenFormalismus. Für sie war es die wesentliche Aufgabe von Literatur, ästhetische Wahrnehmung zu ermöglichen und zu schulen, den Leser ein ‚neues Sehen‘ zu lehren. Voraussetzung dafür war, die gewohnten, ‚automatisierten‘ Wahrnehmungsmuster mit gezielter Verfremdung und Erschwerung der Form zu durchbrechen. Unter weitgehender Absehung vom Inhalt verstanden die FormalistenFormalismus literarische Texte als Summe der ‚Verfahren‘, d.h. (verfremdender) Bearbeitungen des sprachlichen Ausdrucks (was Klang, Bildlichkeit, RhythmusRhythmus, Reim ebenso einschließt wie Metaphorik, Satzbau und Erzähltechniken). Dahinter steckt der Gedanke, dass man ein MediumMedium – also hier Sprache, aber die Theorie galt auch etwa für die bildende Kunst und ihre Wahrnehmung – ‚spürbar‘ macht, wenn man von der Ökonomie des praktischen Gebrauchs abweicht, also etwa Sprache nicht so verwendet, wie sie im Alltag benutzt wird, sondern anders, neu – wie dies Bécquers und de Torres Gedichte tun. Innovation und Abweichung wird so zum entscheidenden Wesensmerkmal ‚poetischerpoetisch‘ Sprache und damit der Literatur.

Problematik der ‚Abweichung‘ Wissen wir nun, was Literatur kennzeichnet? Das Kriterium der Abweichung und Innovation besitzt den bereits erwähnten Vorteil, literarische Texte mit einem formalen Anspruch zu assoziieren, und entspricht zudem einer Menge insbesondere lyrischer Texte; indes hat es Schwächen, die nicht übersehen werden dürfen. Wenn nämlich die Formalisten die innovative Überbietung gewohnter sprachlicher Muster – und das heißt: der jeweils vorhergehenden, etablierten literarischen Verfahren – als Wesen und Auftrag der Literatur bestimmen, dann wird deutlich, dass wir erst dann entscheiden können, ob ein Text ‚literarisch‘ ist, wenn wir wissen, ob und worin er sich von vorhergehenden literarischen Texten unterscheidet, deren Literarizität wir dann wiederum erst in Abgrenzung zur Tradition vor ihnen zu bestimmen haben und so weiter – man kommt so, streng genommen, an kein Ende. Zieht man stattdessen die ‚Alltagssprache‘ als Vergleichsfolie heran, so wird das Sprachempfinden des jeweiligen Lesers der Gegenwart zum ausschlaggebenden Kriterium. Im Falle Borges’, dessen Texte in relativer zeitlicher Nähe zu uns stehen, mag die dadurch bedingte Verzerrung noch gering sein, bei sehr alten Texten zeigt sich rasch, dass der Leser der Gegenwart sehr viel schwerer zu entscheiden vermag, ob ein Text von der damaligen ‚Normalsprache‘ abweicht, also ‚poetisch‘ ist oder nicht (wie z.B. im Fall von Text 1.1) – ganz zu schweigen von anderen Variablen einer jeden Sprache, in der Terminologie der Linguistik etwa diatopische (d.h. regionale), diastratische (sozial-schichtenspezifische) oder diaphasische (anlassabhängige) Varietäten, die es schwer machen, eine ‚Norm‘ und damit die ‚poetischepoetisch‘ Abweichung festzustellen. Und selbst wenn es ginge, macht einerseits manche Abweichung noch keine Literatur (Dialekte beispielsweise), andererseits gibt es auch Literatur, die keine wesentliche sprachliche Verfremdung erkennen lässt, wie zum Beispiel Text 1.7.

‚Imaginatives‘ Schreiben: FiktionalitätFiktionalität Wer diese Texte liest, wird bei hinreichender Kenntnis des Spanischen zunächst kaum jenen sprachlichen oder formalen Widerstand spüren, die unser erster Ansatzpunkt auf der Suche nach Literarizität gewesen war. Wenn wir Text 1.3 und 1.1 miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass die Texte sich inhaltlich beide mit Literatur befassen. Der Text 1.3 untersucht das Verhältnis von Literatur und Realität, während Text 1.1 von der Beziehung zwischen Leser und Text handelt. Der Beginn von Text 1.1 deutet aufgrund der entfernt an MärchenMärchen erinnernden Erzählweise allerdings gleich darauf hin, dass es den besagten Hidalgo (Kleinadligen) in der Realität nicht gibt, wohl aber die angesprochenen Werke, die er gelesen hat. Auch wenn der fiktive Hidalgo selbst nicht zwischen der Realität und der FiktionFiktion der Romane, die er gelesen hat, unterscheidet, ist dieser Gegensatz doch nicht unerheblich: Auch Text 1.6 handelt von realen Büchern, verzichtet aber als journalistischer Text darüber hinaus auf alles, was seine Glaubwürdigkeit als zweifelhaft erscheinen lassen könnte, wohingegen wir mit Text 1.1 spontan eine erfundene – und damit literarische – Geschichte assoziieren. Dies ergibt sich aus dem ritterromantypischen Titel und Textanfang sowie aus der Tatsache, dass der Erzähler seine Geschichte als ‚cuentoCuento‘, also als literarische GattungGattungen, ankündigt. Der Text von Cervantes ist im strengen Sinne ‚unwahr‘, erfunden, wie dies für viele andere literarische Texte gilt und von Cervantes im Text selbst auch problematisiert wird („[…] aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba Quejana. Pero esto importa poco a nuestro cuentoCuento; basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad“). Ihr Kennzeichen ist somit FiktionalitätFiktionalität.

Definition FiktionalitätFiktionalität (ficcionalidad, Adj. fiktional, ficcional) bezeichnet die Darstellungsweise eines Textes, der seinen Inhalt als nicht real existierend präsentiert bzw. seinen Gegenstand erst im Sprechakt (z.B. der Erzählung) selbst schafft. FiktionalitätFiktionalität kennzeichnet den Status einer Aussage.

Fiktivität (fictividad, Adj. fiktiv, fictivo, ficticio) bezeichnet die Existenzweise von erfundenen, nicht in der Wirklichkeit existierenden Gegenständen. Fiktivität kennzeichnet den Status des Ausgesagten.

Fiktivität und FiktionalitätFiktionalität nicht immer deckungsgleich Cervantes Text ist fiktional, da die von ihm erzählte Welt nicht unabhängig von ihm existiert, er ist aber nicht fiktiv, denn den Text gibt es schließlich in unserer Realität. Die Hauptfigur, Don Quijote, hingegen ist fiktiv, wenngleich der Erzähler vorgibt, er habe tatsächlich gelebt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da zwar die meisten fiktionalenFiktion Texte auch ausschließlich fiktive FigurenFigur darstellen, aber eben doch nicht alle: Historische RomaneRoman etwa lassen – teilweise oder durchgehend – realgeschichtliche, also nicht-fiktive Personen auftreten, erzeugen aber die erzählte Welt mehrheitlich selbst, sei es in Gestalt nicht verbürgter Handlungsdetails, sei es durch psychologische Innenansichten einer historischen Person, sie sind also fiktionalFiktion. Umgekehrt ist nicht jeder Text, in dem fiktive Personen eine Rolle spielen, deswegen gleich fiktionalFiktion – eine literaturwissenschaftliche Studie wie z.B. Text 1.6 etwa versteht sich natürlich als Sachtext, d.h. als nicht-fiktionaler, referenziellerreferenziell Text (texto referencial), auch wenn in ihr fiktive FigurenFigur eine wichtige Rolle spielen. Ein mögliches Kriterium für Literarizität eines Textes ist demnach allein seine FiktionalitätFiktionalität, nicht die Fiktivität seiner Bestandteile.

FiktionalitätFiktionalität als nur relative Kategorie Nun ist es nicht immer so einfach, FiktionalitätFiktionalität festzustellen. Meist ist die Entscheidung nicht textintern, sondern allenfalls unter Rückgriff auf textexternes Wissen über die historische Wirklichkeit oder zumindest auf die oben bereits erwähnten ParatexteParatext wie die klärende Angabe „RomanRoman“ auf dem Titelblatt zu treffen. Mitunter kann sich der FiktionalitätsstatusFiktion eines Textes sogar ändern: Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa war über lange Zeit für den abendländischen Kulturkreis zweifellos ein nicht-fiktionaler Sachtext, sogar die ‚Wahrheit‘ schlechthin, heute hingegen wird er auch als FiktionFiktion gelesen und wohl von der Mehrheit der Leser jedenfalls als nicht im wörtlichen Sinne ‚wahr‘ verstanden. (Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Entscheidung über FiktionalitätFiktionalität oder ReferenzialitätReferenzialität, so schwierig sie sein mag, mitunter alles andere als ‚egal‘ ist.)