Spanische Literaturwissenschaft

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2.2 GattungenGattungen

! Die Einteilung der literarischen Formen entspricht der wissenschaftlichen Notwendigkeit von Analyse und Klassifikation Unter den behandelten Kernanliegen von PoetikenPoetik ist noch einmal auf einen Aspekt zurückzukommen, der eine eingehende Problematisierung verdient. Der seit dem Altertum zu beobachtende Versuch, die Vielzahl der zeitgenössischen literarischen Formen nach gemeinsamen Merkmalen zu einzelnen Gruppen zu bündeln, stellte lange Zeit eines der grundlegenden Anliegen in literaturtheoretischer und literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte Hinsicht dar, das sich seinerseits als aufschlussreich für das Literaturverständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt erweist. Vorrangige Aufgabe einer Einteilung in GattungenGattungen ist dabei das Bedürfnis, Texte genau nach generalisierbaren Merkmalen zu beschreiben, sie somit zu klassifizieren und in epochale und literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Zusammenhänge einzuordnen.

Kriterien für eine Zuordnung können dabei sein:

 Form (Vers- und StrophenformStrophe bzw. Aufbau und StrukturStruktur eines Textes [z.B. Fünfaktschema]; Länge; verwendete Stilmittel; Verwendung sog. ParatexteParatext [vgl. 12.2.1]);

 StoffStoff- und MotivkreisMotiv (z.B. in Heiligenlegenden oder im Kriminalroman);

 FigurenFigur (bspw. StändeklauselStändeklausel);

 Redekriterium (wer spricht? der Dichter/Erzähler – die handelnden Personen – beide Parteien im Wechsel);

 mediale Aspekte (gedruckter Text, mündlicher Vortrag/Inszenierung, Vertonung, Film, etc.).

GattungenGattungen als Konvention Die Definition von GattungenGattungen bleibt bei alldem eine sozio-kulturelle Konvention, die auf besondere historischen Umstände zurückgeführt werden kann, auch wenn für GattungenGattungen ein normativernormativ und überzeitlicher Anspruch erhoben wird.

Vorbildcharakter ‚klassischer‘ Werke Die normativenormativ Gattungslehre ist zumeist darauf angewiesen, sich auf eine gezielte Auswahl von Referenztexten zu stützen, die auf beispielhafte Weise als Vorbild für alle anderen, ähnlich kategorisierbaren Produktionen gelten können. Neben für besonders wichtig gehaltene Werke früherer Epochen, die zumeist für ‚klassisch‘ erachtet werden (etwa im Falle von Vergil, der im Mittelalter als alles überragender Dichter der Antike rezipiert wurde), können durchaus auch die Werke von Zeitgenossen treten, z.B. bei Aristoteles. Die von Aristoteles überlieferte GattungseinteilungGattungen gibt zugleich ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr die Bemühungen um eine Systematisierung dem historischen Wandel ausgesetzt sind.

Text 2.4

Aristoteles: PoetikPoetik Die EpikEpik und die tragische Dichtung, ferner die KomödieKomödie und die Dithyrambendichtung1 sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen. (Aristoteles: 1994, 5)

1 Dithyrambendichtung antike lyrische Gattung mit musikalischer Begleitung

Nicht nur der Wegfall der letztgenannten GattungenGattungen ist zu bemerken, auch die GattungsbegriffeGattungen selbst, z.B. derjenige der EpikEpik, haben sich grundlegend verändert oder wurden nachträglich ersetzt. Das moderne Lyrikverständnis umfasst z.B. nicht mehr notwendigerweise die musikalische Darbietung wie in der Antike (siehe Einheit 4).

Aufgabe 2.6 ? Inwiefern entspricht das von Aristoteles betrachtete antike EposEpos (z.B. Homers Ilias) nicht mehr dem heute geläufigen Gattungsbegriff ‚EpikEpik‘?

Der historische Abstand zum in Text 2.4 zitierten Beispiel lässt erahnen, wie schwierig es ist, allgemeingültige GattungskategorienGattungen aufzustellen. Als besonders erfolgreich hat sich aus unserer heutigen Sicht wiederum die Einteilung der literarischen Formen in die drei Grundformen EpikEpik – DramatikDrama – LyrikLyrik, die sog. Gattungstrias, erwiesen. Sie reicht vom Ansatz her zwar auf bereits bei Aristoteles und Horaz formulierte Gedanken zurück, wurde aber erst im 18. Jh. zum poetologischenpoetologisch Gemeingut erhoben. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Annahme, in den drei HauptgattungenGattungen spiegelten sich gleichsam Wesenszüge der menschlichen Seele, was Goethe auf die für den deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Formel von den „drei Naturformen der Dichtung“ brachte:

Text 2.5

Goethe: West-östlicher Diwan (1819–1827) Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: EposEpos, LyrikLyrik und DramaDrama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. (Goethe: 1978, 187f.)

‚Naturformen‘ der Dichtung Relevant an dieser Deutung ist neben der ahistorisch-wesenhaften Zuschreibung von Gattungsmerkmalen, die zugleich eine wirkungsästhetische Charakterisierung beinhalten, der Hinweis auf die Vermengung dieser Grundtendenzen im einzelnen literarischen Text. Hinzu kommt der komparatistische, auf eine Weltliteratur geweitete Blick Goethes. Noch der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger entwarf 1946 in seinen Grundbegriffen der PoetikPoetik ein Modell, demzufolge sich jegliche Dichtung aus „Gattungsideen“ ableite, welche im Sinne von allgemeinen Stilqualitäten als ‚das LyrischeLyrik‘, ‚das Epischeepisch‘ bzw. ‚das DramatischeDrama‘ anzusehen seien.

Der Ansatz, die Literatur in ‚GattungenGattungen‘ aufzugliedern, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer wissenschaftlichen Systematik des ausgehenden 19. Jh., als sich nach dem Vorbild der biologischen Erblehre das Modell des Stammbaums und der Ausdifferenzierung von Arten und GattungenGattungen etablierte.

Versucht man beispielsweise, die narrativen (erzählenden) GattungenGattungen systematisch zu erfassen, so kann zunächst einmal eine schrittweise Untergliederung nach folgendem Schema vorgenommen werden:

Abb. 2.6

Ausdifferenzierung des GattungssystemsGattungssystem am Beispiel Erzählprosa

Aufgabe 2.7 ? Finden Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerks Untergattungen aus dem Bereich der Lyrik (z.B. Sonett).

Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Trennschärfe der unterschiedlichen Gattungsdefinitionen zweifelhaft ist und nie dem literarischen Formenreichtum gerecht werden kann. Der Versuch, eine global gültige Systematik zu erstellen, ist nur unter der Bedingung möglich, eine Vielzahl von Mischformen anzuerkennen (z.B. die Ballade als erzählendes Gedicht), auf welche mehrere Gattungszuschreibungen zutreffen.

GattungstraditionGattungen Zugleich werden weitere ‚HauptgattungenGattungen‘ diskutiert (die Satire wie auch der EssayEssay wurden als 4. oder 5. GattungGattungen ins Gespräch gebracht, hinzu kommen aus heutiger Perspektive etwa die Gruppen der didaktischen Texte bzw. der Gebrauchsformen), auch wenn die moderne und postmodernePostmoderne Literaturtheorie gerade den Gattungsbegriff radikal in Frage gestellt hat und durch eine weitaus weniger idealisierende und systematisierende Auffassung von Textsorten zu ersetzen sucht. Als literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Kategorien besitzen die GattungenGattungen aber einen spezifischen Erkenntniswert, da sie die Kommunikation über bestimmte Textgruppen erlauben – so unzureichend diese auch sein mag – und auch historische Konventionen benennen, die bei den Literaturschaffenden, im Bereich des literarischen Marktes und bei den Literaturrezipienten als sinnstiftendes Vorverständnis wirken.

[bad img format] Zusatzmaterial zur Gattungsgeschichte finden Sie unter www.bachelor-wissen.de.

Aufgabe 2.8 ? Versuchen Sie für folgende (Unter-)GattungenGattungen bzw. Typen festzustellen, inwieweit mit dem Gattungsnamen bereits ein Vorverständnis in Bezug auf die Stilart, den Aufbau und die Inhalte verbunden sind: Tragödie; Science-Fiction-Roman; Liebesgedicht.

2.3 EpochenEpochen

Neben der Gattungstypologie bildet die Einteilung in Epochen (z.B. Siglo de Oro, Romanticismo etc.) einen festen Bestandteil der LiteraturgeschichtsschreibungLiteraturgeschichte, auch wenn hier kritische Stimmen inzwischen ebenfalls eine Überprüfung des EpochenkonzeptsEpochen fordern.

EpochenEpochen als in sich möglichst homogene Zeiträume Zunächst einmal sollen die EpochenbezeichnungenEpochen den Fluss der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte in einzelne, in sich möglichst zusammenhängende Zeiträume einteilen, in denen eine Vielzahl von Texten – oder aber eine kleine Gruppe literarisch besonders relevanter Texte (Kanon, siehe Einheit 2.5) – bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Ermöglicht wird diese Einteilung im Weiteren durch die Benennung literaturgeschichtlichLiteraturgeschichte bedeutsamer Schlüsselereignisse, EpochengrenzenEpochen die als EpochengrenzenEpochen Ende und Beginn der dominanten literarischen Entwicklung markieren. Eine derartige Untergliederung in literarische EpochenEpochen erlaubt es, die Veränderungen innerhalb des GattungssystemsGattungssystem bzw. jene der literarischen Formen zu beobachten. Außerdem kann man sie mit anderen Periodisierungen, z.B. mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte oder mit der (oftmals an Herrscherpersönlichkeiten oder Staatsformen orientierten) Politikgeschichte, vergleichen. Der Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864–1945) verstand im Rahmen seiner stilgeschichtlichen Untersuchungen die EpochenmerkmaleEpochen ‚barockBarock‘ und ‚klassisch‘ sogar als überzeitliche Typusbegriffe, zwischen denen sich die stilistischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg in einer Pendelbewegung entfalten. Andere Einteilungsversuche betonen stärker Gemeinsamkeiten und parallele Entwicklungslinien, wie die spanischen Bezeichnungen Primer Siglo de OroSiglo de Oro für die RenaissanceRenaissance und Segundo Siglo de OroSiglo de Oro für das BarockBarock nahe legen. Eine weitere Einteilungsmöglichkeit ergibt sich aus der Zuordnung von AutorinnenAutor/AutorenAutor zu Generationen, deren Biographien durch die gleichen soziopolitischen sowie kulturellen Grundproblematiken geprägt wurden, in Spanien vor allem in der Generación del 98Generación del 98 oder der Generación del 27Generación del 27.

 

Aufgabe 2.9 ? Aus der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte kennen Sie eine Einteilung in BarockBarock, Sturm und Drang, Klassik, Romantik, Realismus usw. Vergleichen Sie diese Abfolge mit der Kapiteleinteilung in einer spanischen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte (z.B. der von Hans-Jörg Neuschäfer herausgegebenen Spanischen Literaturgeschichte, vgl. Einheit 3.4) und formulieren Sie Schlussfolgerungen aus dieser Gegenüberstellung.

Allen überzeitlichen Definitionsansätzen zum Trotz ist zu beachten, dass EpochenbezeichnungenEpochen erst aus dem nachträglichen, rückwärts gerichteten Blick heraus an Kontur gewinnen, eine zeitliche Distanz zwischen Beobachtendem und Beobachtetem für ein gewisses Maß an Überblick und Objektivierungobjektiv sorgen muss (als Beispiel hierfür sei die müßige, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt unentscheidbare Diskussion angeführt, durch welche Nachfolgebewegung die sog. PostmodernePostmoderne in den Künsten abgelöst sei). Das starre System aufeinander folgender EpochenEpochen kann durch die Berücksichtigung sog. EpochenschwellenEpochen oder Schwellenzeiten aufgelockert werden; unter ihnen versteht man Übergangsperioden mit Mischcharakter, beispielsweise zwischen dem Mittelalter und der sich herausbildenden Neuzeit.

Aufgabe 2.10 ? Betrachten Sie das Für und Wider des Konzepts literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte EpochenEpochen. Welche Schwierigkeiten können bei dem Versuch auftreten, EpochenEpochen idealerweise als in sich homogene Zeiträume zu bestimmen? Inwiefern erscheint im Speziellen die Einteilung in aufeinanderfolgende Generationen von Schriftstellern sinnvoll? Welche Gründe sprechen schließlich grundsätzlich für die Aussagekraft von EpochenbegriffenEpochen?

2.4 LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte

Normativenormativ Poetiken verwiesen auf AutorinnenAutor und AutorenAutor und auf die Werke vergangener Zeiten vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres Vorbildcharakters oder der zu meidenden Fehler, sie enthielten daneben aber bereits Auflistungen von Werktiteln und Namen. LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte hingegen beabsichtigen, einen systematisierenden Überblick zumindest über die für wichtig erachteten Werke einer (meist) Nationalliteratur oder auch einer Gattung zu liefern.

Als wesentliche Anhaltspunkte dienen dabei:

 Biographik BiographienBiographie ‚großer‘ AutorinnenAutor und AutorenAutor;

 bedeutende literarische Texte, die zumeist Teil des KanonsKanon (s.u.) geworden sind und die nach Möglichkeit in ihre Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge InterpretationInterpretation eingeordnet und auf dieser Grundlage interpretiertInterpretation werden;

 mittel- und längerfristige Tendenzen der literarischen Entwicklung, z.B. in Bezug auf GattungenGattungen und EpochenEpochen, die in ihren thematischenThema und formalen Aspekten aufgezeigt werden;

 die Verzahnung der literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Prozesse mit den zeitgleichen politik-, wirtschafts-, sozial-, ideen-, mentalitäts-, kultur- und mediengeschichtlichen Kontextualisierung Kontexten, wobei – je nach Ansatz der Verfasser/Verfasserinnen – eine Deutung globaler Zusammenhänge unternommen werden kann (z.B. in sozialgeschichtlicher Perspektive);

 Innovationen oder Meisterschaft die individuelle Leistung einzelner AutorenAutor/AutorinnenAutor bzw. die womöglich für das Weitere wegweisenden Besonderheiten spezifischer Werke.

Neben die genannten Kriterien sind im Laufe der letzten Jahrzehnte neue Gesichtspunkte getreten, die über ältere Konzeptionen des KanonsKanon hinausweisen und Textgruppen in einen eigenen geschichtlichen Zusammenhang stellen. Solche ‚alternativen‘ LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte widmen sich vorrangig der Literatur von ‚Minderheiten‘, so der Geschichte des weiblichen Schreibens, oder der postkolonialen Literaturen; sie verfolgen thematischThema/motivischeMotiv Leitfäden (bspw. eine LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte der Liebe) oder betrachten spezielle UntergattungenGattungen bzw. Literaturtypen (etwa eine Geschichte der Utopien). Darüber hinaus können methodischeMethode Ansätze zur Abfassung eigener LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte führen. Aus komparatistischerKomparatistik Sicht schließlich kann der enge Rahmen der Nationalliteratur verlassen werden (vgl. z.B. die auf historische Kontinuität der literarischen Konzepte ausgelegte Abhandlung von Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948]).

Abb. 2.7

Schreibende Frauen blieben lange im Schatten der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte

Bis in das 18. Jh. hinein wurde LiteraturgeschichtsschreibungLiteraturgeschichte als wichtige Aufgabe der poetologischenpoetologisch Schriften wahrgenommen; so findet sich in Spanien der erste Versuch einer Darstellung der romanischen Literaturen in der Carta proemio al Condestable don Pedro de Portugal (Vorwort und Brief an den Kronfeldherrn Don Pedro von Portugal), einem poetologischenpoetologisch Widmungsbrief des RenaissancelyrikersRenaissance Íñigo López de Mendoza, Marqués de Santillana von 1445. Die deutsche Romanistik, welche als wissenschaftliche Disziplin noch vor den romanischsprachigen Nachbarländern deren literarische Monumente [bad img format] Zusatzmaterialien zur Editionsphilologie finden Sie unter www.bachelor-wissen.de sichtete, leistete seit Ende des 19. Jh. einen wichtigen Beitrag zu einer nunmehr wissenschaftlichen Beschreibung des literarischen Erbes. Ihr Bemühen war es dabei zunächst, literarische Quellen aufzuspüren, zu untersuchen und unter philologischen Aspekten zu edieren, d.h. die Überlieferung zu erforschen und maßgebliche Textausgaben zu erstellen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich somit im Zeichen des PositivismusPositivismus (siehe Einheit 10.2) eine ‚moderne‘ wissenschaftliche Beschäftigung mit der literarischen Überlieferung aus, deren Quellen nach überprüfbaren Daten und Kriterien systematisch erfasst, analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Diese einseitig auf die Überlieferungsgeschichte ausgerichtete TextphilologieTextphilologie TextphilologieTextphilologie wurde schließlich aus einer anderen, immer noch dem PositivismusPositivismus unterstellten Perspektive erweitert, welche in den historischen Entstehungsbedingungen eines Textes den zentralen Angelpunkt für ihre InterpretationInterpretation erblickte. Im Zuge eines geschärften Geschichtsbewusstseins sollte die historische Entwicklung der einzelnen Nationalliteraturen aufgearbeitet werden, was nicht zuletzt zur Erstellung von Werk- und Autorenkatalogen führte. Eine wichtige Frage, die bis in die Mitte des 20. Jh. verfolgt wurde, beschäftigte sich zudem mit dem vom jeweiligen ‚Volkscharakter‘ geprägten ‚Wesen‘ der Nationalliteratur. Sie war auch ein zentrales Anliegen der frühen Philologie in Spanien um Marcelino Menéndez Pelayo (siehe Einheit 10.3).

Die Kontextualisierung der literarischen Werke konnte später unter wechselnden Leitideen erweitert werden, so unter der Berücksichtigung von Thesen der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Volkskunde, der philosophischen Ästhetik, der Sprachwissenschaft, der MedienwissenschaftenMedien u.v.m.

Heute hat die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte unter dem Einfluss von poststrukturalistischer und dekonstruktivistischerDekonstruktion Literaturtheorie (siehe Einheit 12.2) einen Punkt erreicht, an dem viele der für Poetik und LiteraturgeschichtsschreibungLiteraturgeschichte grundlegenden Kategorien wie Autorschaft, Gattungen, EpochenEpochen, Kanon oder Wirkungsästhetik in ihrer Aussagekraft angezweifelt werden. Nichtsdestotrotz liefern LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte nach wie vor unerlässliche Leitfäden für die Annäherung an übergreifende Entwicklungsprozesse und an einzelne Schlüsseltexte, wie immer sich deren Auswahl im Einzelfall auch legitimieren mag. (Eine Auswahl an Geschichten der spanischen Literatur finden Sie in Einheit 3.4)

Abb. 2.8

Literatur als Kommunikationsnetz

2.5 KanonKanon

! Ein KanonKanon verzeichnet überlieferungswürdige Werke Eine wichtige Funktion, die ergänzend zu den bereits genannten von Poetiken und LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte gleichermaßen übernommen wird, ist ihr Beitrag zur Bildung eines KanonsKanon (span. canon). Unter KanonKanon versteht man dabei eine Zusammenstellung der wichtigen Werke für einen bestimmten Bereich, z.B. die ‚schöne‘ Literatur, durch kompetente Meinungsträger. Als Vorbild dienen die ‚kanonischen‘ TexteKanon des Alten und des Neuen Testamentes, d.h. jene Texte, die im Gegensatz zu den sog. apokryphen Schriften in die Bibel aufgenommen wurden.

Die KanonbildungKanon hängt direkt vom Literaturverständnis einer ausschlaggebenden Trägergruppe ab, die ein Urteil über Wert und Unwert literarischer Texte fällt und unter ihnen diejenigen herausgreift, welche in Hinblick auf Form und Gehalt als mustergültig, als literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Meilensteine und von zeitloser Bedeutung gelten. Die dadurch zustande kommende Auswahl vereint daher die im weiteren Sinne gerne als ‚Klassiker‘ einer EpocheEpochen bezeichneten Texte.

Aufgabe 2.11 ? Nennen Sie unter Einbezug der bisherigen Ausführungen die möglichen Meinungsträger, d.h. Gruppen oder Institutionen, welche maßgeblich an der Bildung eines KanonsKanon beteiligt sein können!

Zu bedenken ist auch in diesem Zusammenhang wieder die Zeitgebundenheit der KanonesKanon (Plural von ‚KanonKanon‘) und die gleichzeitige Existenz mehrerer rivalisierender KanonesKanon.

Abb. 2.9

Thalia, die Muse der KomödieKomödie

Im Zuge des kulturgeschichtlichen Wandels, der sich auch in der Veränderung der an der KanonbildungKanon beteiligten Gruppen spiegelt, werden Texte letztendlich daran gemessen, ob sie eine wie auch immer geartete Aussagekraft – und sei es nur im Sinne der literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Tradition – besitzen. KanonbildungKanon ist demnach ein besonders eingängiges Phänomen der literarischen RezeptionRezeption, wobei mit der Auswahl bevorzugter Texte gleichzeitig DeutungskanonDeutungskanon ihre Auslegung in weiten Teilen festgelegt wird (‚DeutungskanonDeutungskanon‘).

Als Kehrseite der KanonisierungKanon ausgewählter literarischer Werke ist die Ausgrenzung anderer Werke zu betrachten, zumal wenn diese die repressiven Züge der ZensurZensur trägt. In Spanien (und nicht nur hier!) ist ein gewaltsames Vorgehen gegen unliebsame Literatur zunächst vorrangig mit dem Wirken der sog. Heiligen Inquisition verbunden (in Spanien: 1478–1834). Diese konnte auf Veranlassung der Kirche bzw. ihrer verantwortlichen Organe die weltliche Index der verbotenen Bücher Herrschaft zum Eingreifen gegen glaubensgefährdende Schriften veranlassen, die auf den 1966 in seiner verbindlichen Form abgeschafften Index librorum prohibitorum gesetzt wurden. Im Zeichen der politischen IdeologieIdeologie steht eine weitere bedeutsame Phase der Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten, nämlich die vom franquistischen Regime (1936–77) ausgeübte censura.

 

Abb. 2.10

Titelblatt des Index librorum prohibitorum von 1711

Aufgabe 2.12 ? Welche äußeren Faktoren könnten im 20. Jh. auf deutscher Seite die KanonbildungKanon zur spanischen Literatur beeinflusst haben? In welcher Form kommen Studierende der Literaturwissenschaft heute mit KanonesKanon der spanischen Literatur in Berührung? Wer beschäftigt sich in der Gegenwart beschreibend und wertend mit der Literatur?

Zusammenfassung Die Bestimmungen, was Literatur ist, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie funktioniert oder zu funktionieren habe, welche Kriterien über ihren Wert entscheiden und in welche traditionsbildenden Zusammenhänge sie einzuordnen ist, hat seit jeher die kritische Auseinandersetzung mit ihr geprägt und wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter den sich wandelnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedlich beantwortet. Nur die Kenntnis der historischen Stufen dieses Meinungsbildungsprozesses erlaubt es, die einzelnen literarischen Texte auch angemessen hinsichtlich ihrer Einordnung in gattungs- und epochenspezifische Kontexte zu beurteilen und die schwierige Frage nach ihrem ästhetischen Wert, ihren formalen wie inhaltlichen Besonderheiten und ihre Bedeutung für das zeitgenössische Publikum oder spätere Generationen zu beantworten.