Ein erlesener Mord

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Einige Hauspflanzen nahe den Erkerfenstern in der Eingangshalle verliehen dem Haus einen erfrischenden Grünton. Die Gemälde an den Wänden mussten von einem lokalen Künstler stammen, denn die farbenfrohen, rustikalen Bilder fingen die Schönheit des Patchworks aus Feldern und Bäumen, die sie draußen gesehen hatte, perfekt ein. Ihre Augen wanderten hinauf zu der hohen, hölzernen Decke, an der ein prunkvoller Lüster glitzerte.

Sie folgte dem Korridor, öffnete die erste Tür zu ihrer Rechten und fand sich in einem leeren Schlafzimmer wieder, von dem Charlotte gesagt hatte, dass es für sie reserviert war. Sie stellte ihren Koffer am Fuß des großen Himmelbetts ab und sah aus dem hohen Rundbogenfenster.

Ihr Blick schwenkte von einem abgezäunten Gemüsegarten hinüber zu dem mit Obstbäumen gespickten Rasen. Waren das Birnbäume? Granatapfelbäume? Sie konnte kaum erwarten, hinaus in die Sonne zu gehen, um nachzusehen.

Olivia riss sich von dem Ausblick los und betrat das zugehörige Badezimmer. Die Badewanne mit den Löwentatzen führte sie in die Versuchung, ein langes, ausgiebiges Bad zu nehmen, aber da sie wusste, dass Charlotte bald wieder zurück sein würde, entschied sie sich zu einer kurzen Dusche und danach einem frischen Satz Klamotten. Sie setzte sich einen Moment und starrte hinaus auf den Horizont. Diese endlose Landschaft ließ erahnen, wie weit draußen auf dem Land sie sich befanden.

Sie nahm ihr Telefon zur Hand und schoss ein Foto für ihr Instagram.

„#Romantischesreiseziel #spontanurlaub #weingebiet #weitwegvonzuhause“, lautete ihr Kommentar.

Sie hoffte, dass Matt das sehen würde. Sie war sich sicher, dass er ihr nach der Demütigung in dem Restaurant in den sozialen Medien nachspionieren würde. Er würde sich vorstellen, wie sie alleine zuhause saß, ihm nachweinen und ihre unordentlichen Angewohnheiten bereuen würde. Wenn er ihr Foto in der Toskana sehen würde, konnte sie sich vorstellen, wie er seine Lippen aufeinanderpresste und seine Augen diesen seltsamen, nachdenklichen Blick annahmen.

Der Gedanke an Matt ließ sowohl die Erinnerungen an ihren letzten Arbeitstag zurückkehren, als auch an die Dreistigkeit, die sie dort an den Tag gelegt hatte.

Auf einmal stürzte die Realität wieder auf sie ein.

Olivia wendete sich vom Fenster ab und atmete tief ein.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Sie hatte ihren Job ohne Vorankündigung gekündigt. Sie hatte einen spontanen Urlaub gebucht, ohne dabei auch nur einmal an ihre Zukunft zu denken. Führende Positionen in der Werbewelt waren rar – es war eine stark konkurrierende Industrie, und dieses Wissen war immer in ihrem Hinterkopf gewesen, wenn sie länger im Büro geblieben war und Überstunden gearbeitet, und ihren Urlaub und ihr Sozialleben geopfert hatte.

Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, als ihr klar wurde, dass sie all das aufgegeben hatte. Hier war sie nun, in einem fremden Land auf der anderen Seite der Welt, ohne die Möglichkeit, sich um Schadensbegrenzung kümmern zu können, oder James zu bitten, ihr ihren Job wiederzugeben.

Was sie in ihrem verrückten, verkaterten Zustand getan hatte, hatte womöglich ihre gesamte Zukunft gefährdet.

Das Klicken der Eingangstür riss Olivia aus ihrer Qual. Charlotte war zurück.

KAPITEL SIEBEN

Olivia spürte, wie ihre Panik schwand, als sie überwältigt von der Freude, Charlotte wiederzusehen, zur Tür lief. Das war das erste Mal in beinahe drei Jahren, dass sie ihre älteste und beste Freundin wieder zu Gesicht bekam.

„Da bist du ja!“, kreischte Charlotte, als Olivia auf sie zustürzte, um sie zu umarmen. „Ich kann nicht fassen, dass du den ganzen Weg hierhergekommen bist.“

„Es ist so schön, dich zu sehen!“

Olivia überragte Charlotte um beinahe einen Kopf. Als sie zehn Jahre alt gewesen waren, waren sie genau gleichgroß gewesen, und es war ein Leichtes gewesen, so zu tun, als wären sie Zwillinge. Ein Jahr später hatte Olivias Wachstumsschub begonnen, welcher bei Charlotte fast komplett ausgeblieben war. Von da an hatte ihr Zwillingsstreich nicht mehr funktioniert, aber sie standen weiter zu ihrer Behauptung, Schwestern zu sein.

Mit ihrem strahlenden, runden Gesicht und ihrem langen Haar mit den rotgoldenen Strähnen versprühte Charlotte eine ansteckend gute Laune. Ihre Präsenz schien die Villa auszufüllen, und ihr fröhliches Lächeln erhellte den Raum. Im Angesicht ihrer sonnigen Persönlichkeit wuchs in Olivia der Glaube, dass am Ende doch alles irgendwie gut werden würde.

„Hast du dich schon in der Villa umgesehen?“ Charlotte nahm die braunen Papiertaschen wieder auf, die sie mitgebracht hatte. „Komm, ich gebe dir eine schnelle Tour, und dann essen wir zu Mittag.“

Olivia war nur bis zu ihrem Schlafzimmer gekommen, wo sie dann ihre Panikattacke bekommen hatte. Begierig, mehr zu sehen, nahm sie Charlotte eine der Taschen ab und folgte ihr durch den gefliesten, luftigen Korridor.

Mit ihren terracottafarbenen Fliesen und einem warmen, cremefarbenen Wandanstrich fühlte sich die Villa freundlich und heimelig an. Matts Einrichtungsstil war geometrisch und schwarz-weiß. Im Laufe der Jahre hatte sich alles in ihrem Apartment allmählich in entweder das eine oder das andere verwandelt. Weiße Vorhänge, schwarzer Teppich. Schwarze Bettbezüge, weiße Kissen. Schwarze Ledercouch, weißer Wohnzimmertisch. Schwarz, weiß, schwarz, weiß… Olivia fühlte sich wie die Königin auf ihrem persönlichen Schachbrett.

Nun war sie gebannt von all dem Detail und der Wärme, die sie umgaben. Tönerne Blumentöpfe und Terracottavasen standen in den geschwungenen Alkoven entlang des Flurs. Wandteppiche schmückten die Wände – Darstellungen von Landschaften, Essen und Wein, gerahmt in schmiedeeiserne Volutenstangen.

Die beiden Schlafzimmer befanden sich auf der rechten Seite, während sich zu ihrer Linken ein offen gestaltetes Wohnzimmer mit Essbereich ausbreitete. Es war mit prächtigen Möbeln und einer weichen, beigen Ledercouchlandschaft ausgestattet. Der Wohnzimmertisch und der Esstisch waren aus rustikalem, texturiertem Holz.

Das Herzstück des Raums war der prunkvolle Kamin an der ihnen gegenüberliegenden Seite, eingebaut in eine hohe, steinerne Wand. Darüber glitzerte ein reichlich verzierter Kronleuchter. Lampen mit schweren, handbemalten Fußstücken in leuchtenden Gold- und Orangetönen waren hier und da im Raum auf kleinen Tischen und Regalen platziert.

Olivia freute sich schon auf den Abend, wenn sie diese anschalten und das warme, gedämpfte Licht genießen konnte.

Links führte ein Torbogen in die Küche, und Olivia stellte die Tasche auf dem Tresen ab, während sie die Töpfe mit Rosmarin, Thymian und Basilikum auf der breiten Fensterbank bewunderte, die dem Raum einen angenehmen Duft verliehen.

„Ich habe uns zum Mittag ein paar Snacks besorgt, und natürlich ein wenig Wein“, sagte Charlotte.

Sie half ihr, die Speisen auf dem Servierteller anzurichten, und betrachtete dabei mit Freuden die in braunes Packpapier gewickelten Wurstsorten, die Olivengläser mit ihren exotischen italienischen Etiketten, den blassen, cremigen Käse und das knusprige Ciabattabrot. Als alles fertig serviert war, konnte Olivia nicht widerstehen, ihr Telefon zu zücken und ein Foto dieses instagramperfekten Displays zu knipsen.

„Wo wollen wir sitzen? Es gibt einen Tisch draußen.“ Charlotte öffnete die Küchentür. Draußen sah Olivia einen gepflasterten Hof, umringt von Kräuter- und Gemüsebeeten. An einem Ende standen ein kleiner Tisch und ein paar Stühle im Schatten eines überhängenden Olivenbaums.

„Draußen“, entschied Olivia.

Sie trug das Tablett zu dem Tisch und setzte sich auf einen der beiden gusseisernen Stühle.

Die Aussicht auf dieser Seite des Hauses war gleichfalls faszinierend. Vom Hof aus überblickte man eine ruhige Straße, und jenseits davon, ein goldenes Weizenfeld. Olivia bemerkte eine Gruppe von Bäumen inmitten des Getreides und erinnerte sich, wie sie zu Schulzeiten gelernt hatte, dass toskanische Farmer promisken Ackerbau betrieben, wobei ihre verschiedenen Erntegüter, meist Weizen, Oliven und Trauben, zusammen in denselben Feldern wuchsen.

Sie hatte diesen Ausdruck geliebt. Es war einer der wenigen historischen Fakten aus ihren Schultagen, die in ihrer Erinnerung haften geblieben waren. Heutzutage war es unter dem Namen gemischte Landwirtschaft bekannt, was nicht einmal annähernd so aufregend klang, und die Praxis war auch bei Weitem nicht mehr so gebräuchlich wie damals.

In der Ferne hinter dem mit Bäumen besprinkelten Weizenfeld schmiegte sich ein Farmhaus an einen tiefgrünen Wald. Beim Anblick überkam Olivia eine Welle des Neids auf den Besitzer. Wussten rt denn, wie glücklich er sein konnten, an so einem zauberhaften Ort leben zu dürfen?

Sie hatte den Verdacht, dass das nur die erste Welle von vielen sein würde, die sie während dieser zwei Wochen würde ertragen müssen. Sie war neidisch auf jeden einzelnen Bewohner in dieser Gegend. Auf jeden!

Charlotte schenkte ihnen Wein ein, und sie prosteten sich zu.

„Auf die Freundschaft“, sagte Olivia.

Sie atmete das grasige Bouquet des eisgekühlten Sauvignon Blanc ein und nahm lächelnd einen Schluck.

„Auf Spontanurlaube“, sagte Charlotte, und sie tranken erneut.

„Auf neue Anfänge“, fügte Olivia für einen dritten Toast hinzu.

„Auf den Gewichtsverlust“, schloss Charlotte.

Olivia zog die Augenbrauen hoch und starrte auf die ausgebreiteten Speisen vor ihnen.

„Ich habe in den letzten zwei Wochen hundertachtzig Pfund abgenommen“, erklärte Charlotte. „Das ist ungefähr, was Patrick gewogen hat.“

„Was ist passiert?“, fragte Olivia. „Ihr wolltet doch heiraten.“

„Ich habe die Hochzeit abgesagt“, sagte Charlotte. Sie suchte sich eine Scheibe Ciabatta aus und bestrich sie mit einer dicken Schicht aus Tomatenaufstrich.

 

„Wieso das?“, fragte Olivia, als sie sich ein Sandwich mit Schinken, Käse und Olivenpaste zusammenstellte. Sie war neugierig, was zwischen Charlotte und ihrem Verlobten vorgefallen war, den sie zwar nie kennengelernt hatte, von dessen konstanter Präsenz auf Charlottes Instagram sie aber geschlossen hatte, dass er gutaussehend und charmant war.

Charlotte verzog das Gesicht.

„Es war kompliziert.“

Sie begann zu reden, hielt inne, seufzte und nahm einen Schluck Wein.

„Zu kompliziert, um jetzt darüber zu sprechen“, sagte sie schließlich und wedelte ungeduldig mit einem Stück Parmaschinken. „Ich will unser nettes Mittagessen nicht mit einer Geschichte über dieses grässliche Subjekt versauen.“

Olivia nickte verständnisvoll.

„Wie dem auch sei, immerhin hat dich das Ganze hierhergebracht“, tröstete sie ihre Freundin.

„Genau“, stimmte Charlotte zu. „Und dich auch. Du bist immer so beschäftigt, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, dich einzuladen. Wirst du während deines Urlaubs hier arbeiten müssen?“

„Nein“, antwortete Olivia. All ihre Ängste brachen wieder über ihr zusammen, als sie hinzufügte: „Ich habe gekündigt.“

Charlotte verschluckte sich an ihrem Wein.

„Du hast deinen Job gekündigt? Du meinst, du bist einfach so hinausspaziert?“

„Ich habe ihn gehasst.“ Schuldbewusst versuchte Olivia, ihre Taten zu rechtfertigen. „Ich habe einen billigen, gepantschten Wein vermarktet, der für alles steht, was ich verabscheue.“

„Hättest du dir nicht einen anderen Kunden aussuchen können?“, fragte Charlotte in einem ehrfürchtigen Ton, der Olivias Gewissenbisse sogar noch verschlimmerte. „Du hast mir mal gesagt, dass deine Mutter von dir gesagt hat, wenn du nicht im Marketing arbeiten würdest, wäre alles, für das du noch qualifiziert wärst, das Regaleeinräumen im Supermarkt.“

„Ich brauche eine neue Richtung für meine Karriere. Kein Regaleeinräumen“, sagte Olivia entschlossen. „Ein Urlaub im Heimatsland des Weins wird mir Zeit geben, darüber nachzudenken. Einer meiner Träume ist mein eigenes, hausgemachtes Weinlabel.“

„Ich mag Katzen, also will ich irgendwann mal Löwenbändiger werden“, scherzte Charlotte gutgelaunt, doch als sie Olivias Gesicht sah, verblasste ihr Lächeln. „Ich dachte, das sollte ein Witz sein. Du meinst das also ernst mit dem Weinlabel?“

„Ja. Es ist ein Traum von mir“, insistierte Olivia. Jetzt, wo sie tatsächlich hier war, erschien er ihr sogar noch verlockender als zuvor in Chicago.

„Wow. Naja, soll ich dir vielleicht erst einmal den Garten zeigen? Das Grundstück ist wunderschön.“

Begierig, ihre Umgebung zu erkunden, stand Olivia auf, und sie schlenderten hinaus aufs Grundstück.

Als sie die Website der Villa durchstöbert hatte, hatte sie gelesen, dass fünf Morgen des Landes ursprünglich für eine Freilandhühnerhaltung benutzt wurden. Ein alter Hühnerstall, kunstvoll im Garten platziert, erinnerte noch daran.

Sie passierten einen Obstgarten und stiegen einen steilen Hang hinauf auf eine mit Büschen bespickte und mit Bäumen umrandete Grasfläche. Olivia fragte sich, ob hier einst die Freilandhühner umhergewandert waren.

Ein Pfad umrundete das verwilderte Feld, und Olivia erkannte die Bäume dank ihrer unverwechselbar dicken und fasrigen Rinde. Es waren Korkeichen. Dieses Weinanbaugebiet war wahrlich ein geeigneter Platz dafür.

Sie bewunderte sie für eine Weile und ließ ihre Hand über die Rinde eines Baumes gleiten, bevor sie wieder in den nach Kräutern duftenden Hof zurückkehrten.

Olivia trat wieder in die Kühle der Küche und fühlte sich hin- und hergerissen. Eine Hälfte von ihr war sprachlos von dem Zauber dieses Paradises, in das sie gereist war. Die andere Hälfte zitterte vor Angst bei dem Gedanken daran, was ihre leichtsinnige Aktion für ihre Zukunft bedeuteten würde.

Ein freundlicher Klopfer auf ihre Schulter lenkte sie von ihrem Zwiespalt ab.

„Du machst dir doch nicht gerade Panik über deinen Job, oder?“, fragte Charlotte.

„Nur ein bisschen“, gab Olivia zu.

Charlotte verschränkte streng die Arme vor der Brust.

„Das ist hier im Urlaub leider nicht erlaubt. Wieso machen wir nicht eine kleine Tour durch die Stadt? Es gibt eine kleine Bar, die ich schon immer mal ausprobieren wollte. Ich habe bereits viele gutaussehende Männer dort hineingehen sehen. Hast du Lust?“

Olivia erinnerte sich an den Traum, den sie gehabt hatte, bevor ihr Flugzeug gelandet war. Okay, das hatte in einem peinlichen Erlebnis geendet, aber das war umso mehr ein Grund, es noch einmal zu versuchen. Irgendwo da draußen wartete die große Liebe auf sie, aber die würde auch nicht für immer warten.

„Lass mich schnell meinen Lippenstift auffrischen, und dann können wir los!“, willigte sie ein.

KAPITEL ACHT

Als sie in die kleine Stadt Collina fuhren, war Olivia froh, dass Charlotte am Steuer saß. Sie war so gefesselt von der Szenerie, dass sie sie wahrscheinlich strack in eine der Mauern gefahren hätte, die die schmale Straße säumten.

Es gab dort eine Schlossruine außerhalb der Stadt – ein echtes Schloss mit bröckelnden Mauern, und Zinnen an seinem Turm. Es sah düster und imposant aus, und seine Silhouette zeichnete sich gegen die tiefstehende Spätnachmittagssonne ab. Dieser Turm hatte die Stadt womöglich einst vor Eindringlingen beschützt.

Sie stellte sich vor, neben einer echten Schlossruine wohnen zu können. Ihre zweite Welle aus Neid überkam sie, als sie die zweigeschossigen Apartments daneben mit ihren verwaschenen, cremefarbenen Fassaden, den Fensterläden und den bunten Blumenkästen unter den Fenstern beäugte.

Sie beobachtete, wie eine junge Frau mit einem Einkaufskorb die Stufen zu ihrer Wohnung herunterlief und ihrem Nachbarn ein fröhliches „Buon giorno“ zurief. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie war mit dem natürlichen Sinn für Stil gekleidet, von dem Olivia glaubte, dass jeder Italiener ihn besaß. In einer Millionen Jahren wäre Olivia nie auf die Idee gekommen, dieses burgunderfarbene Top mit den himmelblauen Dreiviertel-Jeans und den leuchtendweißen Sandalen zu kombinieren, und damit auszusehen, als wäre sie gerade den Seiten der Vogue entstiegen.

An ihr würden diese Klamotten zusammengewürfelt wirken, als hätte sie wahllos im Dunkeln danach gegriffen. Die Leute würden erst auf ihre Schuhe starren, dann hoch zu ihr, als wollten sie sagen: Echt jetzt?

In der Stadt selbst teilte ein schmiedeeisernes Geländer den schmalen Gehweg von der beinahe genauso schmalen Straße ab. Olivia lehnte sich aus dem Auto und atmete den verführerischen Kaffeeduft ein, den ein Café an der Ecke verströmte. Obwohl es schon später Nachmittag war, saßen einige Kunden an der Theke, tranken Espresso und schauten auf ihre Smartphones.

Alle außer ihr und Charlotte sahen so aus, als lebten sie hier und gehörten auch hierher. Welch ein Privileg, sehen zu dürfen, wie die Anwohner in diesem abgelegenen Örtchen ihrem täglichen Leben nachgingen.

Als Olivia einen kleine Kleidungsboutique erspähte, fragte sie sich, ob sie es wagen sollte, dieser einen Besuch abzustatten, um mithilfe der Verkäuferin ein authentisch italienisches Outfit zu erstehen. Sie freute sich über den Anblick eines Weingeschäfts, das einem regen Kundenstrom nachkam. Dahinter war ein Schuhgeschäft, ein Gemüseladen mit einem leuchtendbunten Display aus Tomaten und Mandarinen vor der Geschäftsfront, ein Friseur, ein kleines Eisenwarenoutlet und ein Supermarkt.

Zwei gegenüberliegende Bäckereien zogen gerade für heute ihre Rollläden herunter.

„Meinst du, dass die beiden Rivalen sind?“, fragte Charlotte und hielt an, um einen alten Mann die Straße überqueren zu lassen.

„Bestimmt“, antwortete Olivia und blickte zwischen den beiden Schildern hin und her. „Das müssen sie im Grunde. Die Fehde reicht bestimmt schon Jahrhunderte zurück.“

„Und eines Tages, wenn sich der Sohn des Besitzers von Mazetti in die Tochter des Besitzers von Forno Collina verliebt, müssen sie gemeinsam nach Pisa durchbrennen, und ihre Familien werden sie für immer enteignen“, führte Charlotte die Geschichte aus.

In diesem Moment trat ein Mann in einer weißen Schürze aus Mazetti’s. Er blickte auf den gegenüberliegenden Laden und marschierte über die Straße. Dann nahm er sein Telefon aus der Tasche und begann, die Sonderangebote von dem Schild im Fenster des Geschäfts abzufotografieren.

Olivia und Charlotte brachen in schallendes Gelächter aus.

„Sie sind tatsächlich Rivalen!“, prustete Olivia. „Morgenfrüh wird er diese Preise unterbieten oder die Angebote kopieren. Er hat uns bemerkt – lass uns weiterfahren, bevor man uns noch in dieses Drama verwickelt.“

Am Ende der Straße, die man als die Hauptstraße der Stadt betrachtete, stand eine kleine Kirche mit einem prunkvollen Kirchturm. Der grauhaarige Pastor stand draußen und kehrte die steinernen Stufen. Er nickte ihnen grüßend zu, als sie vorbeifuhren, und Olivia lächelte verzückt zurück. Ihr erster Tag in Italien, und sie wurde bereits von den Einheimischen akzeptiert.

Am Ende der Stadt wendete Charlotte und fuhr dann zu der kleinen, belebten Bar in einer steil ansteigenden Sackgasse. Die Straße war vollgepackt mit Autos, und weit und breit war kein Parkplatz zu sehen. Olivia wurde langsam klar, weswegen hier alle so kleine Autos fuhren. Platz war hier Mangelware. Als sie das erste Mal in den Fiat geklettert war, empfand sie ihn als winzig, da sie zuhause nur Limousinen und Geländewagen gewohnt war. Jetzt erkannte sie, dass er für diese Gegend eigentlich eine angebrachte Größe hatte und sogar recht geräumig war.

Und während Charlotte fluchend versuchte, den gemieteten Wagen auf der nichtexistenten Wendefläche umzudrehen, wünschte sich Olivia sogar, dass das Auto noch kleiner wäre.

Nach gefühlten sechsunddreißig Zügen gelang Charlotte schließlich die Wende ohne angeschlagene Stoßstangen oder zerkratzte Radkappen.

Sie fuhren den Berg wieder den ganzen Weg hinab und parkten in einer anderen, ruhigeren Straße und machten sich zu Fuß zurück zur Bar.

Ein wummernder Beat lockte sie wieder den Berg hinauf, und Olivia staunte, wie melodisch selbst italienische Rockmusik dank der Schönheit der Sprache klingen konnte. Sie erinnerte sich daran, dass sie unbedingt einige Sätze auf Italienisch lernen musste. Vielleicht konnte sie heute Abend damit anfangen, genau hier in dieser Bar.

Olivia sog das gemischte Aroma von Bier, Wein, Zigarettenrauch und – sie war sich ganz sicher – Testosteron ein. Auf einem Bildschirm über der Bar wurde ein Fußballspiel übertragen. Zu ihrer Freude konnte sie kein einziges englisches Wort in dem Gemurmel aus Stimmen heraushören. Das war definitiv eine Bar für Einheimische.

Es wurde kurz still, als die Stammgäste die zwei Neuankömmlinge musterten. Olivia spürte einige anerkennende Blicke auf sich.

Sie hatten nicht einmal die Theke erreicht, als sie schon von zwei Männern begrüßt wurden, die auf Barhockern an einem winzigen, runden Tisch saßen.

„Ciao!“, rief der Mann, der ihnen am nächsten saß.

Olivias Herz setzte kurz aus, als sie sich nach ihm umsah. Der verwegen aussehende Mann war um die Dreißig und hatte dunkle Haare, dichte Augenbrauen und ein verruchtes Lächeln. Sein Freund sah ein paar Jahre älter aus, hatte eine rasierte Glatze und war tief gebräunt.

„Äh – ciao“, antwortete sie. Sie sah zu Charlotte hinüber, die sie verschwörerisch angrinste.

Dann begann der Mann in rasantem Italienisch zu sprechen.

Olivia hob ihre Hände. „Non comprehendo?“, versuchte sie es.

„Ah. Americano.“

Es entstand ein italienisches Gespräch zwischen den Männern, und nach einem lautstarken Wortwechsel mit dem Nachbartisch wurden zwei weitere Barstühle über die Menge zu ihnen herübergereicht.

„Guiseppe“, sagte der Mann und deutete auf sich selbst. „Alfredo“, stellte er seinen Freund vor.

„Olivia. Sorry, aber ich spreche kein Italienisch. Ich bin heute erst angekommen“, entschuldigte sich Olivia und setzte sich auf den angebotenen Stuhl, während Charlotte sich selbst vorstellte.

„Willkommen, Olivia.“ Guiseppe grinste. „Äh – Carlotta?“

Charlottes Name schien mehr Schwierigkeiten unter den Einheimischen zu verursachen als ihrer, bemerkte Olivia.

„Wein? Rot, Weiß?“

„Rot, bitte.“

In dem dichten Gemenge wurde sie gegen Guiseppes muskulösen Oberarm gepresst. Charlotte und Alfredo schienen sich prächtig zu verstehen. Ohne Matt auf der Bildfläche war Olivia mehr als bereit für einige Flirtereien. Wer weiß, was sich daraus ergeben konnte?

„Du bist sehr schön.“ Guiseppes Kompliment ließ Olivia erröten. Meinte er das wirklich? Könnte das der Beginn einer stürmischen Urlaubsromanze werden?

 

„Wo wohnst du?“, fragte er.

„Ich wohne in einer Villa hier in der Nähe. Ich mache dort einem zweiwöchigen Urlaub“, sagte Olivia.

Der Wein war köstlich, voll überragender Fruchtigkeit und einem Hauch von Würze. Beim Trinken musste sie an das Wandbild in der Küche der Villa denken, eine Kollage von leuchtenden, violett-roten Trauben.

„Bist du von hier?“, fragte Olivia, begierig, mehr von seiner Rolle in diesem idyllischen Schauplatz zu erfahren.

Guiseppe schüttelte den Kopf. „Nein, nicht von hier.“

„Du arbeitest also nur hier?“ Vielleicht wohnte er ja in einem Nachbardorf, dachte sich Olivia.

Guiseppe blitzte sie mit seinem strahlenden Lächeln an. „Auch nein.“

„Äh“, begann Olivia kurzzeitig ratlos. „Was arbeitest du denn?“

Wenn er weder in der Stadt lebte noch arbeitete, vermutete sie, dass er vielleicht ein Weinmacher war, der unermüdlich auf seinem eigenen, kleinen Weingut in der warmen mediterranen Sonne arbeitete. Das würde perfekt in ihr Lebensziel passen. Wie wäre es bloß, wenn die Urlaubsromanze sich zu mehr entwickeln würde? Vielleicht würden sie eines Tages als Paar zusammen auf seinem Land arbeiten. Sie träumte von sonnigen Tagen mit ihm auf der Farm, davon, wie sie Trauben in einem luftigen Schuppen auspressten und eine limitierte Auflage eines einmaligen und charaktervollen Weins kreierten.

„Ich bin Reinigungskraft“, erklärte Guiseppe.

„Reinigungskraft?“ Olivia war verdutzt. Eine Reinigungskraft passte nicht wirklich in ihre ländlichen Fantasien, die sie sich vorgestellt hatte. Das war sogar ein völlig unpassendes Puzzleteil. Ihre Fantasie wurde jäh abgewürgt.

„Arbeitest du auf einer Weinfarm?“, fragte sie, einen mutigen Neustart wagend.

„Nein. Ich reinige Toiletten auf einem Kreuzfahrtschiff“, sagte Guiseppe. „Das Schiff hat über Nacht in Livorno angelegt, und ich bin mit meinem Cousin hier zu Besuch.“ Er deutete auf Alfredo, der in eine Unterhaltung mit Charlotte versunken war.

„Verstehe.“ Olivias Lächeln fühlte sich plötzlich gezwungen an. Toiletten?

„Vielleicht können wir auf einen Kaffee zu dir gehen?“ Guiseppe grinste bereitwillig.

„Wir müssen uns beeilen, weil ich um fünf Uhr morgens wieder an Bord sein muss.“

Ihre Träume von einer Romanze waren dahin.

Nicht mal ein Urlaubsflirt, denn Guiseppe war nur für eine Nacht hier. Das hatte sie sich nicht erhofft, als ihr Blick das erste Mal auf ihn gefallen war. So hatte sie sich das kein bisschen vorgestellt!

In diesem Moment hörte sie Charlottes entrüstete Stimme.

„Nein! Ganz bestimmt nicht! Weißt du was, ich bin hier raus. Olivia, komm, wir gehen!“

Überrascht, aber erleichtert, rutschte Olivia von ihrem Hocker, winkte Guiseppe ein kurzes auf Wiedersehen zu, und ließ sich dann von Charlotte am Arm aus der Bar schleifen.

Was war passiert, dass Charlotte so plötzlich die Flucht ergriffen hatte?

Die Frage würde warten müssen, denn Olivia hatte allen Atem nötig, um ihrer wütenden Freundin den Berg hinab hinterherzuhetzen.

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