Der Tote im Luisenhain

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Der Tote im Luisenhain
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Der Tote im Luisenhain

Karl Sander ermittelt

Ein Köpenick – Krimi

Wer auf Rache sinnt, der reißt seine eigenen Wunden auf. Sie würden heilen, wenn er es nicht täte.

(Francis Bacon)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

Nachwort und Dankeschön

Prolog:

Karl Sander liebte seinen Balkon, egal zu welcher Jahreszeit. Seit 1983 lebte er hier im Allendeviertel am Müggelschlösschenweg, erst bei den Eltern und dann nach dem Studium in einer eigenen kleinen Zweizimmerwohnung im Hochhaus an der Kämmerheide mit Blick auf den Müggelsee. Anfangs fuhr er als Unterleutnant der Kriminalpolizei mit dem Fahrrad zum Dienst ins Revier in die Karlstraße. Aber das ist lange her.

Karl Sander leitet seit nun zehn Jahren als 1. Hauptkommissar eine Ermittlungsgruppe beim LKA 1 in der Keithstraße. Er ist also bei der Mordkommission, die seit geraumer Zeit „Delikte am Menschen“ – LKA 11 heißt. Jetzt ist der Arbeitsweg länger, vor allem wenn man bedenkt, dass Karl Sander kein Auto besitzt, also mit Bus und Bahn unterwegs ist. Immer wieder wurden ihm Wohnungen in Charlottenburg angeboten, aber Sander blieb stur. Er war alleine und es war völlig egal, wann und ob er überhaupt nach Hause kam. Außer seinem Balkon mit dem traumhaften Ausblick wartete niemand auf ihn. Da gab es immer wieder mal Mädchen und Frauen, mit denen er sich ein Leben hätte vorstellen können, aber es hat nicht sollen sein. Er war und blieb mit seinem Job verheiratet, die Kollegen waren die Familie.

Dieses Wochenende war völlig frei, keine Bereitschaft, nichts, Sander genoss diese Tage. Entweder auf seinem kleinen Balkon in der siebzehnten Etage oder bei einer ausgiebigen Radtour am See, auch mal bis nach Erkner. Da er gestern bei seinem Freund Peter im „Anker“, der urigen Seemannsbar in der Altstadt, vorbeigeschaut hatte und es doch nicht bei einem Glas Bier geblieben war, würde es heute nur der Balkon sein. Langsam begann alles zu grünen. Der Frühling legte sich richtig ins Zeug. Die Sonne schien direkt auf seinen Liegestuhl und so blieb er einfach hier. Genau in diesem Moment meldet sich sein Smartphone.

„Nein – da gehe ich jetzt nicht ran.“

Als er aber dann aufs Display schaute stutzte er, es war sein Chef Kriminalrat Winter persönlich, der ihn eigentlich nur zweimal im Jahr anrief, zum Geburtstag und an Weihnachten, wenn er Dienst hatte. Beide kannten sich schon lange, Winter hatte ihn damals 1992 zum LKA geholt als Ermittler. Seitdem gingen beide den gleichen Weg. Sander wurde 1. Hauptkommissar und Winter Kriminalrat und Leiter der Mordkommission.

„Frank, ich habe frei, das erste Mal seit Wochen. Was ist los?“ Sander war sauer.

„Karl, in zehn Minuten holt dich Tarek Nuri ab. Eine Leiche in Köpenick, warte mal, wo ist das – Luisenhain!“

Sander wurde noch ungehaltener: „Wenn nächstens in Friedrichshagen ein Hund wegläuft, holt Ihr mich dann auch? Wir haben hier in Köpenick eine Polizeiwache. Die 66 mit Abschnittskommissariat, wo sind die?“ Jetzt war Sanders Laune auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen.

Kriminalrat Winter blieb ruhig: „Die sind schon vor Ort. Wenn ich dir jetzt den Namen des Toten nenne, klingelt da was bei dir? – Willi Kreibig oder auch Genosse Oberst Willi Kreibig?“

Karl Sander wurde heiß und kalt. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. In seinem Kopf liefen blitzartig viele Bilder ab, Ereignisse, schlimme, längst verdrängte, so glaubte er jedenfalls, bis ins Persönliche hinein.

„Karl, bist du noch da? Fahrt da jetzt hin. Wir werden alles andere morgen besprechen. Gerichtsmedizin ist vor Ort, Professor Weinert `wetzt` schon die Messer und wartet auf die Leiche in der Charité. Ach noch was Karl. Deine neue Kollegin Britta Fuchs, Hauptkommissarin aus Nürnberg ist da. Habe sie gleich vor Ort geschickt. Sei nett zu ihr.“

„Ja, du kennst mich doch!“ Sander schien wieder etwas ruhiger.

„Na, eben drum.“ Winter legte auf. Im selben Moment klingelte es. Tarek war vorgefahren.

1.

… 12 Stunden zuvor:

Willi Kreibig war immer noch eine stattliche Erscheinung: ein fast zwei Meter Mann mit einem Stiernacken, der ihm etwas Brutales verlieh. Obwohl er mittlerweile fast fünfundsiebzig Jahre alt war, sah man ihm an, dass er es gewohnt war Befehle zu erteilen, keinen Widerspruch duldete und ganz sicher nie aufgab, wenn er ein Ziel verfolgte. Bis 1989 galt er als einer der gefürchtetsten Männer in Köpenick. Als Leiter der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wirkte er im Verborgenen und jeder, der mal mit ihm zu tun hatte, vergaß es nie. Zerstörte Familien, Zwangsadoptionen, Erpressung, Manipulationen und selbst vor zielgerichteten Tötungen schreckten er und seine Genossen nicht zurück. Das Beste - man ging ihm aus dem Weg, bis heute. Keiner wusste, was er nach 1989 gemacht hatte. Nachdem sich seine Frau 1993 unter mysteriösen Umständen das Leben genommen hatte, gab es niemanden mehr in seiner Nähe. Seine kleine Wohnung im Katzengraben kann man eher als bescheiden bezeichnen und auch der Bungalow in Gosen „Am Zwiebusch“ war eher unscheinbar. Hier lebte er im Sommer, aber jetzt war Frühling und Kreibig noch in der Stadt. Eine seiner Gewohnheiten bestand darin, jeden Abend, fast zur gleichen Stunde bei jedem Wetter eine Runde durch die Altstadt zu laufen. Er nannte es seine Revierrunde, die ihn auch an der Promenade am Luisenhain entlangführte. Es erkannten ihn immer weniger Köpenicker, aber auch Fremde gingen eher zur Seite wenn er kam, da er jeden auffällig musterte und angrinste.

Er war heute den ganzen Tag draußen in seinem Bungalow gewesen, um alles für die Sommerzeit vorzubereiten und herzurichten. Es entging ihm natürlich nicht, dass der alte Bunker K 81 wieder in Stand gesetzt wurde und ab diesem Sommer für Führungen öffnen sollte. Aber Kreibig wäre ja nicht Oberst Kreibig, wenn er nicht für diesen Fall vorgesorgt hätte. Sein Mann beim Bunker war „Bunker Charly“, ein ehemaliger Wachsoldat, der im Sommer draußen im Wald hauste und im Winter Kreibigs Bunker bewachte und sich im Schuppen eingerichtet hatte. Lange unterhielten sich beide bei einer Flasche Wodka.

„Das muss bis zum Herbst reichen, Charly.“ Kreibig war zufrieden mit dem Gespräch und steckte Charly fünfhundert Euro und noch eine Flasche Wodka zu.

„Allet klar, Genosse Oberst, die haben keene Ahnung und Schacht zwee is wida totale dicht.“ Sprachs und mit einem Schluck war das letzte Glas Wodka geleert.

„Pass trotzdem weiter auf!“ Kreibig nahm die Schlüssel und verschwand wieder in Richtung Köpenick.

Darüber dachte jetzt Kreibig nach, als ihm auf der Höhe des griechischen Restaurants ein älterer Mann entgegen kam. Er ging direkt auf ihn zu: „Herr Kreibig, Genosse Oberst Kreibig?“

„Ja…?“ Kreibig erschrak. Er glaubte für einen kurzen Moment, den Mann zu erkennen oder zu erahnen wer ihn da ansprach. Er wollte noch etwas sagen, aber dann sah er es blitzen im Licht der Uferbeleuchtung. Es war das Letzte was er in seinem Leben zu sehen bekam. „Sie … Du…?“ Es wurde für immer dunkel um den ehemals mächtigen Oberst Kreibig.

 

2.

Als Tarek und sein Chef Karl Sander am Tatort ankamen, waren bereits alle vor Ort. Der Tote war abgedeckt, die Uferpromenade gesperrt. Man hatte ihn noch nicht bewegt. Das Zelt der Spurensicherung stand auf der Wiese neben dem Toten. Er lag am Rand der Promenade, neben dem griechischen Restaurant unter einem Strauch. Das war auch der Grund, warum er erst am frühen Morgen von einem „Gassigänger“ mit Hund entdeckt wurde. Sander war sauer: „Was machen die alle hier?“ Tarek musste grinsen: „Ermitteln…?“ Sander sah ihn wütend an: „Verarsch mich nicht. So, jetzt nehmen wir das hier in die Hand!“ … „Wer sind Sie?“ Neben ihm stand eine kleine, sehr resolut wirkende junge Person und streckte ihm die Hand entgegen. „ Hauptkommissarin Britta Fuchs.“ Sander gab ihr die Hand und sagte nur: „O.K., dann sind wir ja vollzählig.“ Er winkte sein Team heran. „So hört her: das ist HK Britta Fuchs aus Nürnberg, ab sofort meine Stellvertreterin, Britta, ach so, wir sind hier alle per Du, ist das ein Problem?“ Britta schüttelte nur den Kopf und damit war alles klar. „Hier, das sind die Oberkommissare Tarek, Susi und Paul. Für Teambildung ist jetzt keine Zeit. An die Arbeit. Susi und Paul: Ihr besorgt Euch die Schlüssel und ab zur Wohnung. Los, es ist nicht viel Zeit. Ich möchte, dass Ihr Euch vor der Spurensicherung alles anseht. Tarek, dort drüben stehen die Beiden vom 66. Keiner kümmert sich um die. Alles Ignoranten. Ich will alles wissen. Auffindsituation, Besonderheiten usw. Du weißt Bescheid. Britta, du kommst mit mir. Achtung, jetzt könnte es unappetitlich werden und unangenehm.“

„Hallo Karl, was machst du denn hier?“ Hinter den beiden stand eine resolute ältere Frau und grinst beide an. „Wer ist das denn?“ Karl Sander ignorierte die Frage, tat so, als wenn es ihn nichts anginge. „Britta, das ist unsere Staatsanwältin, Frau Dr. Tina Steffens mit einem ganz eigenen Humor…“ „Tina, ich freue mich auch dich zu sehen. Guten Morgen, darf ich dir Britta Fuchs vorstellen, Hauptkommissarin aus Nürnberg und ab jetzt meine Stellvertreterin.“ Die Staatsanwältin musterte Britta Fuchs eingehend und bemerkte dann nur: „Frau Fuchs, haben Sie sich das genau überlegt? Willkommen in Berlin.“ Beide gaben sich die Hand und damit war die Neue eingemeindet. „Karl, du hältst mich auf dem Laufenden. Ruf mich Morgen nach der Dienstberatung an.“

Tarek war immer noch mit den beiden Beamten vom 66. im Gespräch. Völlig unerwartet fragte Karl Sander, als sie die paar Schritte zum Toten gingen: „Britta, wo kommst du unter - Wohnung oder so?“ Britta zuckte nur mit den Schultern: “Nein, bin ja eben erst angekommen.“

„Das sieht aber gar nicht gut aus. Hallo Marie.“ Nachdem Karl Sander seine neue Partnerin der Gerichtsmedizinerin vorgestellt hatte, nahmen sie den Toten in Augenschein.

„Also“, begann Frau Dr. Marie Dreger, die Gerichtsmedizinerin, zu berichten, „Stand jetzt: zwölf Messerstiche, einer direkt ins Herz und einer, der die Aorta durchtrennt hat, waren tödlich, die anderen Kosmetik. Da hat sich jemand richtig ausgetobt, auch nachdem er bereits tot war. Prä- und postmortale Verletzungen, was und wann - nach der Obduktion. Todeszeitpunkt zwischen 22:00 und 23:00 Uhr gestern Abend. Keine Abwehr, er hatte keine Chance. Was komisch ist, Karl, das Messer oder die Stichwaffe kann ich nicht zuordnen. Kein handelsübliches Messer, scharfe, lange Klinge, eher was militärisches. Aber..“ Sander stand auf: „Ja ich weiß, alles andere nach der Obduktion. Na dann weg mit ihm, bevor unsere junge Kollegin umfällt.“ Britta Fuchs war immer blasser geworden und hielt sich nur noch mit Mühe auf den Beinen. Es war auch kein schöner Anblick, den der eben dazugekommene Tarek nur mit der Bemerkung: “Ach du heilige Scheiße“ kommentierte.

„Tarek, du kümmerst dich jetzt um Britta und bringst sie in die kleine Pension in die Wichmannstraße, direkt beim LKA um die Ecke. Zum Schlafen kommt jetzt sowieso in nächster Zeit keiner. Ich habe bei der ganzen Sache ein sehr ungutes Gefühl. Es ist noch nicht zu Ende. Wir sehen uns morgen 08:00 Uhr im großen Beratungsraum. Ich will auch einen Kollegen vom Abschnittskommissariat des 66. dabei haben. Die Ergebnisse vom Wohnungsbesuch beim Toten sollen Paul und Susi direkt mir berichten, per Telefon, egal wann. Alle sind erreichbar, per Handy ab sofort und immer.“

Als alle ihrer Wege gingen, sah Karl Sander, wie Oberst Kreibig seinen letzten Weg in die Gerichtsmedizin antrat. Dann überlegte er kurz, dass es wieder mal Zeit schien, mit dem Team “um die Häuser“ zu ziehen oder bei Peter was zu trinken. War schon sehr lange her. Die Neue hatte einen guten Eindruck auf ihn gemacht, noch etwas zurückhaltend vielleicht. Aber das würde alles werden. Er wollte jetzt erst nach Hause, etwas ausruhen und seine Gedanken sortieren, zu viel ging ihm durch den Kopf. Viele Fragen. Wer hatte das „Schwein“ im wahrsten Sinne des Wortes abgestochen? Warum grade jetzt? Sander wusste, dass viele Kreibig hassten, eigentlich alle, die ihn kannten, aber wer machte daraus Ernst? Antworten sollten her, schnell und jetzt. Was ihn am meisten beunruhigte war, dass er zur Tatzeit nicht einmal einhundert Meter entfernt bei Peter im Anker gesessen hatte. Da würde er noch heute Abend anfangen sich umzusehen.

Was der 1. Hauptkommissar zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste - der Schlüssel zur Lösung des Falls lag bei ihm vor der Haustür im Allende-Viertel, im Müggelschlösschenweg. Ein Ereignis vor zweiunddreißig Jahren.

3.

… vor 32 Jahren, ein Frühsommerabend 1987:

Der Leutnant der „VP“ (heute Kriminalkommissar) Karl Sander kam an diesem Abend ausnahmsweise mal pünktlich vom Dienst aus der Karlstraße nach Hause. Es war ein sehr guter Tag gewesen. Er konnte seinen ersten Fall erfolgreich lösen. Im Ergebnis einer Kneipenschlägerei in Baumschulenweg war ein Mann vor dem „Grünen Baum“ liegen geblieben. Mit einer Flasche erschlagen. An Hand von Zeugenaussagen, Fingerabdrücken und dem entscheidenden Hinweis vom Wirt der Kneipe, der Angst um seine Lizenz hatte, konnten Sander und seine Kollegen einen dreißigjährigen Hilfsarbeiter festnehmen. Die gerade erst eingeführten Gentests mussten nicht zum Einsatz kommen. Den Täter würde eine Anklage wegen Totschlags erwarten und Karl Sander stand für einen Tag im Mittelpunkt. Er war stolz und zufrieden. Als er gerade sein Fahrrad abstellen wollte, fuhren am Nachbarhaus drei Autos vor und parkten teilweise abenteuerlich auf der Wiese vor dem Haus. Die Autos und die Typen, die da ausstiegen, kannte Sander ganz genau. Sie gehörten zur Sonderkommission oder wie sie auch bei der Kripo abwertend genannt wurden: Mielkes schnelle Eingreiftruppe. Karl Sander wusste, immer wenn die auftauchten, gab es für die Kripo nichts mehr zu tun. Sie kamen bei sicherheitspolitisch bedeutsamen Fällen zum Einsatz, wobei die Stasi entschied, was bedeutsam war.

Sander wollte auf keinen Fall von den arroganten Typen gesehen werden und versteckte sich grade noch rechtzeitig hinter dem kleinen Spielplatz neben den Häusern. Er hatte Recht, sie ließen keinen mehr ins Haus Nr. 36 oder auch nur in die Nähe.

Nach einer kurzen Zeit, die Sander wie eine Ewigkeit erschien, kamen erst zwei von den Typen raus, dann der Rest. Jetzt blieb Sander das Herz fast stehen, die Leute, die dort in Handschellen aus dem Haus geführt wurden, kannte er. Es war Familie Viertel, erst Bernd Viertel, dann die junge im dritten Monat schwangere Liesel. Genaueres wusste er auch nicht, aber die Viertels arbeiteten wohl im Funkwerk in der Wendenschloßstraße, im Sicherheitsbereich.

Ebenso schnell, wie alle gekommen waren, waren sie wieder weg, nur die zerfahrene Wiese vor dem Haus zeugte von dem überfallartigen Besuch. Karl Sander konnte sein Versteck verlassen und verschwand in seiner Wohnung. Jetzt wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Vater anzurufen, der als Offizier des MfS sicher etwas herausbekommen konnte. Aber obwohl seine Eltern quasi fast um die Ecke wohnten, gab es außer heimlichen Treffen mit der Mutter schon seit Jahren keinen Kontakt: „eine andere Geschichte“, erklärte er immer auf Nachfragen von Nachbarn oder Kollegen.

Schon am nächsten Tag wurde die Wohnung leer geräumt, renoviert und nach einer Woche zogen neue Leute ein. Nach ein paar Tagen befragte man auch Karl Sander in der Dienststelle, ob er die Familie kennen würde, und als er nicht ganz wahrheitsgemäß antwortete: außer ab und zu sehen und „Guten Tag“ und „Guten Weg“ – ließ man ihn in Ruhe.

Allerdings vergaß Karl Sander dieses Erlebnis nie und er vergaß auch den Mann nicht, der ihn befragte, den Leiter der MfS Kreisdienststelle Köpenick, Oberstleutnant Willi Kreibig, der noch kurz vor der Wende zum Oberst befördert wurde. Außerdem war sich Sander sicher, dass es eben Kreibig war, der damals diesen Einsatz der Spezialkommission geleitet hatte. Diese markante und auch Furcht einflößende Person vergaß man nicht.

4.

Sander wusste es. Die erste Dienstberatung, bevor die Ermittlungen so richtig Fahrt aufnahmen, war die wichtigste. Deshalb wollte er als Erster im Kommissariat in der Keithstraße sein. Außerdem würde er heute noch in die Gerichtsmedizin der Charité zu Professor Weinert fahren. Wie er den Professor kannte, war die Obduktion schon abgeschlossen und die Ergebnisse lagen vor. Aber auch, wenn er die Ergebnisse sicher bereits auf seinem Computer hatte, bei Mordfällen traf er sich immer direkt mit dem Professor. Es gab da immer noch Beobachtungen und Analysen, die nicht im Bericht standen und die wichtig waren. Da sich beide, der Gerichtsmediziner und der Kommissar, schon seit Jahren gut kannten, gab es keine Befindlichkeiten oder Geheimnisse zwischen ihnen. Mit der Assistentin und Vorort Gerichtsmedizinerin Dr. Marie Dreger, fast gleichaltrig mit Sander, gab es etwas mehr als nur Freundschaft, aber das, so würde Sander sagen, ist wieder eine andere Geschichte.

Pünktlich sechs Uhr stand der kleine wuselige Oberkommissar Paul Landgraf bei Sander vor der Tür. Er wohnte fast in der Nachbarschaft, auch wie Sander in Köpenick, in der Siedlung Kämmerheide. Sie hatten vereinbart, dass Landgraf seinen Chef abholen würde. Heute musste es etwas schneller gehen. Er würde sich auch als erstes in der Keithstraße einen Dienstwagen nehmen und für die Zeit der Ermittlungen behalten. Paul Landgraf war der bodenständigste in Sanders Team, Familie, zwei Kinder und Haus. Da gab es dann noch Susi Weiß, die jüngste. Aber mit ihren 29 Jahren war sie schon erfahrener als alle anderen zusammen. Man würde der kleinen zierlichen blonden Frau nie zutrauen, dass sie schon zwei Jahre Kosovo als Ausbilderin hinter sich gehabt hatte. Über das dort Erlebte sprach sie nur selten. Der dritte im Bunde der Tatortermittler war Oberkommissar Tarek Uri - ein Urberliner, dessen Eltern Ende der sechziger Jahre als Christen in Marokko Repressalien ausgesetzt waren und deshalb das Land verlassen mussten. Tarek erfüllte das Klischee „Araber“. Fast zwei Meter groß, dunkelhaarig, braune Augen, Bart. Nur das kleine goldene Kreuz, das er immer um den Hals trug, irritierte seine vermeintlichen „Landsleute“ etwas. Tarek war Katholik, mit Leib und Seele. Mit der zweiten Hauptkommissarin war das Team genau zum richtigen Zeitpunkt wieder komplett. Kriminalrat Winter wollte vor einiger Zeit Sanders Meinung wissen, ob Frau Fuchs etwas fürs LKA Berlin wäre. Sander entschied sich sofort, die freie Stelle in seinem Team mit ihr zu besetzen. Sie wollte auf eigenen Wunsch möglichst weit weg aus Nürnberg, nachdem in ihrer Dienststelle einiges schief gelaufen war. In Nürnberg war sie bei der SOKO, hatte sich mit deren Chef auf eine Affäre eingelassen, die ging schief und so landete sie seit gestern hier. Schließlich gab es da noch zwei richtig wichtige und urige Typen im Team. Sander musste lächeln, wenn er an die beiden dachte. Neben ihm fluchte sich Paul Landgraf durch den Berufsverkehr.

Jetzt würden sie gleich von Renate Klein, Sanders Sekretärin, begrüßt werden. Renate - freundliche Kollegen bezeichnen sie als vollschlank und impulsiv. Andere, wenig respektierlich, als fette Cholerikerin. In Wirklichkeit war sie eine liebe, leicht verletzliche, sehr fleißige Person, die für ihren Chef und das Team durchs Feuer ging. Sie wachte mit Argusaugen, dass niemand ihrem Chef zu nahe kam. Sie war eine Löwin, die die Herde zusammenhielt. Mit nur einer Schwäche- Schokolade. Für eine Tafel, oder gar eine Schachtel Pralinen bekam man von ihr fast alles. Sander schätzte sie über alles und hielt alle Angriffe von ihr fern. Alles was bei Sander auf den Tisch kam war aufbereitet, sortiert und auch mit Renates persönlicher Meinung versehen. Sie war eher eine Assistentin, als eine Sekretärin.

 

„Paul, ich unterbreche nur ungern deine Kommunikation mit dem Berufsverkehr. Denkst du aber bitte dran, dass ich zur Dienstberatung unbedingt auch Max dabei haben will.“ Paul Landgraf nickte nur kurz, grinste und fragte: „Mit Pizza …oder ohne?“

Max, eigentlich Maximilian Hof, freier Mitarbeiter im LKA, wobei er das „frei“ sehr wörtlich nahm. Er war Computer- und Nachrichtenspezialist. Das Wort „Problem“ gab es bei ihm nicht. Nur eine Leidenschaft, außer Computer – Pizza mit Thunfisch, früh, mittags, abends und nachts.

Im LKA wurde viel gelästert, Sander, der Übervater und Renate Klein, die Glucke. Wenn Sander das hörte, konnte er sehr wütend werden.

Sander und Paul Landgraf waren überzeugt, zu der extrem frühe Stunde die Ersten zu sein. Weit gefehlt, da waren schon Britta und Tarek. Offensichtlich bemühten sich beide, den Computer auf Brittas Schreibtisch zum Laufen zu bringen. Tarek tauchte unter dem Tisch auf und bemerkte nur: „Jetzt sollte es klappen. Das Lan-Kabel sitzt.“ Sander war erstaunt: „Habt Ihr hier übernachtet?“ Britta sprang auf, um die Beiden zu begrüßen: „Nein, wir haben uns nur vor einer Stunde hier getroffen, um schnell alles vor der Dienstberatung einzurichten.“ Jetzt kam auch Tarek vor: „Renate ist auch schon da und hat einiges auf dem Schreibtisch. Die Spusi und Gerichtsmedizin haben wohl die Nacht durchgemacht.“ Wie auf Kommando kam Renate mit einem riesigen Tablett voll dampfender Kaffeetassen. „Morchen, hier Doping. Mit der neuen Kollegin, Tschuldigung - kleinen Chefin, hast Du ja mal richtig Geschmack bewiesen, Karl.“ Dabei zwinkerte sie Britta zu. Karl war zufrieden, das war also auch kein Problem mehr.

„ So, genug Teambildung, bereitet Euch auf die Dienstberatung vor, alles was wir bis jetzt haben auf den Tisch. Ich war gestern Abend noch bei Peter im Anker und habe mich umgehört, nichts, leider.“ Alle mussten grinsen. Nur Susi Weiß sah Sander ernst an: „Dann warst Du ja nur einhundert Meter vom Tatort entfernt. Auch noch zur Tatzeit?“ Sander nickte ihr zu. „Susi, Du fährst gleich nach der Beratung raus nach Köpenick und siehst Dich um. Wer verhält sich auffällig am Tatort oder hat Fragen gestellt, bleibt lange dort stehen usw. Nachher zur Beratung kommt noch ein Kollege vom 66. aus Köpenick, fahrt zusammen raus, vielleicht bringst du noch was in Erfahrung. Das war jetzt außerhalb des Protokolls. Also los, an die Arbeit und um 08:00 Uhr-pünktlich. Britta in zehn Minuten bei mir, zur Abstimmung.“ Mit diesen Worten verschwand Sander in seinem Büro, das eher ein mit einer Glaswand abgetrennter Teil des Großraumbüros war. Aber nur hier kam er zur Ruhe. Nicht heute, da waren sie wieder - die Bilder aus dem Jahr 1987. Das schlimmste aber, der jetzt tote Kreibig, sah ihn direkt an und grinste so, als ob er ihn verhöhnen wollte.

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