Das Geld

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From the series: Die Rougon-Macquart #18
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Sooft Saccard, der kleiner war als sie, ihr begegnete, folgte er ihr interessiert mit den Augen und war insgeheim neidisch auf diese hohe, vor Gesundheit strotzende Gestalt. Und nach und nach erfuhr er von den Leuten aus der Gegend die ganze Geschichte der Hamelins. Caroline und Georges waren die Kinder eines Arztes aus Montpellier, eines bedeutenden Gelehrten und überspannten Katholiken, der ohne Vermögen gestorben war. Als der Vater aus dem Leben schied, waren das Mädchen achtzehn und der Junge neunzehn Jahre alt; und da Georges gerade in die Ecole polytechnique40 aufgenommen worden war, folgte ihm Caroline nach Paris, wo sie als Erzieherin in Dienst trat Sie steckte ihm Hundertsousstücke zu, sie versorgte ihn während der zwei Studienjahre mit Taschengeld; als er später wegen seines schlechten Zeugnisses ohne Arbeit war, unterstützte sie ihn wiederum, bis er eine Anstellung fand. Die beiden Geschwister beteten einander an und träumten davon, einander nie zu verlassen. Als sich jedoch eine unverhoffte Heirat bot – das feine Benehmen und der lebhafte Verstand des jungen Mädchens hatten in dem Haus, wo sie in Stellung war, einen millionenschweren Brauer erobert –, wollte Georges, daß sie einwilligte; er mußte es aber bitter bereuen, denn nach wenigen Ehejahren war Caroline gezwungen, eine Trennung zu verlangen, wenn sie nicht von ihrem Gatten, der ein Trinker war und sie in unsinnigen Eifersuchtsanfällen mit einem Messer bedrohte, umgebracht werden wollte. Sie war damals sechsundzwanzig Jahre alt und wieder arm geworden, da sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, keinen Unterhalt von dem Mann zu fordern, den sie verließ. Aber ihr Bruder hatte endlich nach sehr vielen Versuchen eine Aufgabe gefunden, die ihm gefiel: er sollte mit der Kommission, die mit den ersten Vorarbeiten für den Suezkanal beauftragt war, nach Ägypten gehen, und er nahm seine Schwester mit; sie richtete sich tapfer in Alexandria ein und begann wieder Stunden zu geben, während er durch das Land zog. So blieben sie bis 1859 in Ägypten und waren bei den ersten Spatenstichen am Strand von Port Said dabei: ein kümmerlicher Trupp von knapp hundertfünfzig Erdarbeitern, der sich im Sand verlor und von einer Handvoll Ingenieure angeleitet wurde. Dann schickte man Hamelin nach Syrien, wo er Lebensmittel beschaffen sollte, und nach einem Streit mit seinen Vorgesetzten blieb er dort. Er ließ Caroline nach Beirut kommen, wo neue Schüler sie erwarteten, und stürzte sich in ein großes Unternehmen, das von einer französischen Gesellschaft gefördert wurde; es ging um die Trasse einer befahrbaren Straße von Beirut nach Damaskus, den ersten und einzigen Weg, der durch die Schluchten des Libanon führte. Sie blieben dort noch drei Jahre bis zur Fertigstellung der Straße; er besichtigte die Berge, unternahm eine zweimonatige Reise über den Taurus nach Konstantinopel, sie folgte ihm, sobald sie loskommen konnte, und machte sich seine Projekte zu eigen, dieses alte Land wiederzuerwecken, das unter der Asche der toten Kulturen schlummerte. Er hatte eine ganze Mappe gefüllt, die von Ideen und Plänen überquoll, und er verspürte die gebieterische Notwendigkeit, nach Frankreich zurückzukehren, wenn er diesen umfangreichen Unternehmungen Gestalt verleihen, Gesellschaften gründen und Kapital finden wollte. So kehrten sie nach neun Jahren Aufenthalt im Orient zurück. Aus Neugier reisten sie über Ägypten, wo die Arbeiten am Suezkanal sie begeisterten: in vier Jahren war aus dem Sand des Strandes von Port Said eine Stadt gewachsen, ein ganzes Volk war da am Werke, die menschlichen Ameisen hatten sich vervielfacht und veränderten das Antlitz der Erde. Aber in Paris erwartete Hamelin ein dauerndes Pech. Seit fünfzehn Monaten schlug er sich dort mit seinen Projekten herum, ohne mit seinem Glauben daran jemanden überzeugen zu können, denn er war zu bescheiden und nicht sehr redegewandt; und so war er in diesem zweiten Stockwerk des Palais dʼOrviedo gestrandet, in einer kleinen Fünfzimmerwohnung, die er für zwölfhundert Francs mietete, weiter vom Erfolg entfernt als einst, da er die Gebirge und die Ebenen Asiens durchstreift hatte. Ihre Ersparnisse waren rasch erschöpft, und die beiden Geschwister gerieten in große Geldverlegenheit.

Und genau das erweckte Saccards Interesse, diese zunehmende Traurigkeit von Frau Caroline, deren schöne Heiterkeit sich verdüsterte, weil sie ihren Bruder mutlos werden sah. In ihrem Haushalt war sie ein wenig der Mann. Georges, der ihr äußerlich sehr ähnlich, nur schmächtiger war, konnte in der Arbeit ungewöhnlich ausdauernd sein; aber er vertiefte sich in seine Studien, bei denen man ihn keinesfalls stören durfte. Er hatte sich nie verheiraten wollen, weil er nicht das Bedürfnis dazu verspürte und seine Schwester anbetete – das genügte ihm. Vielleicht hatte er dann und wann eine Geliebte, die man nicht kannte. Und dieser alte Streber von der Ecole polytechnique, der großzügige Ideen hatte und einen so glühenden Eifer für alle seine Unternehmungen, war manchmal von so kindlicher Einfalt, daß man ihn für ein bißchen beschränkt halten konnte. Im engstirnigsten Katholizismus erzogen, hatte er sich seine Kinderreligion bewahrt und befolgte aus voller Überzeugung alle kirchlichen Vorschriften; seine Schwester dagegen hatte durch ihr vieles Lesen, durch die umfassende Bildung, die sie sich an seiner Seite in den langen Stunden erwarb, da er sich in seine technischen Arbeiten vertiefte, ihre geistige Unabhängigkeit zurückgewonnen. Sie beherrschte vier Sprachen, sie hatte die Nationalökonomen und die Philosophen gelesen und sich zeitweilig für die sozialistischen und evolutionistischen Theorien begeistert; dann aber war sie ruhiger geworden. Ihren Reisen, ihrem langen Aufenthalt in fernen Ländern vor allem verdankte sie eine große Toleranz und eine schöne Ausgeglichenheit und Weisheit. Wenn sie auch nicht mehr gläubig war, so hatte sie doch Achtung vor dem Glauben ihres Bruders. Beide hatten sich einmal darüber ausgesprochen und nie wieder davon angefangen. Bei all ihrer Schlichtheit und Gutmütigkeit war sie eine kluge Frau, begabt mit einem außergewöhnlichen Lebensmut und einer fröhlichen Tapferkeit, die den Grausamkeiten des Schicksals widerstand; nur ein einziger Kummer nagte an ihr, so sagte sie: kein Kind zu haben.

Einmal ergab es sich, daß Saccard Hamelin eine Gefälligkeit erweisen konnte, indem er ihm eine kleine Arbeit für eine Kommanditgesellschaft vermittelte, die für die Begutachtung einer neuen Maschine einen Ingenieur brauchte. Und so gelang es ihm, zu den Geschwistern ein vertrauliches Verhältnis zu gewinnen; fortan ging er häufig auf eine Stunde zu ihnen in den Salon hinauf, ihr einziges großes Zimmer, das sie in einen Arbeitsraum umgewandelt hatten. Dieser Raum wirkte völlig kahl, er war nur mit einem langen Zeichentisch, einem zweiten, mit Papieren beladenen kleineren Tisch und einem halben Dutzend Stühle möbliert. Auf dem Kamin stapelten sich die Bücher. Aber ein improvisierter Wandschmuck heiterte diese Leere auf: eine Reihe von Plänen und eine Folge heller Aquarelle, jedes Blatt mit vier Nägeln an der Wand befestigt. Das waren die Projekte aus Hamelins Mappe, die er so zur Schau stellte, seine in Syrien gemachten Aufzeichnungen, sein ganzes künftiges Vermögen; die Aquarelle stammten von Frau Caroline, Ansichten von dort unten, charakteristische Gestalten, Trachten – alles, was ihr auffiel, wenn sie ihren Bruder begleitete, hatte sie mit einem sehr persönlichen Sinn für Farben, doch ohne jeden künstlerischen Anspruch skizziert. Zwei breite Fenster, die auf den Garten des Palais Beauvilliers hinausgingen, ließen helles Licht auf diese kunterbunt durcheinander aufgehängten Zeichnungen fallen, die ein anderes Leben heraufbeschworen, den Traum einer in Staub zerfallenen antiken Gesellschaft, und die Entwürfe erweckten den Anschein, als wollten sie diese Gesellschaft mit festen, mathematischen Linien wiederaufrichten, sie gleichsam stützen mit dem soliden Gerüst der modernen Wissenschaft. Und wenn sich Saccard mit jenem Aufwand an Betriebsamkeit, der seinen Charme ausmachte, nützlich erwiesen hatte, versenkte er sich hingerissen in die Pläne und Aquarelle und bat unaufhörlich um neue Erklärungen. In seinem Kopf keimte schon ein ganzer großer Plan.

Eines Morgens traf er Frau Caroline allein an, sie saß vor dem kleinen Tisch, den sie zu ihrem Schreibtisch gemacht hatte. Sie war todunglücklich, ihre Hände ruhten müßig zwischen den Papieren.

»Was wollen Sie? Das nimmt bestimmt noch ein böses Ende ... Trotzdem verliere ich nicht den Mut. Aber es fehlt uns bald an allem zugleich, und was mir das Herz zerreißt, ist die Kraftlosigkeit, in die das Unglück meinen armen Bruder versetzt, denn er ist nur tapfer, hat nur Kraft bei der Arbeit ... Ich hatte daran gedacht, wieder irgendwo eine Stellung als Erzieherin anzunehmen, um ihm wenigstens zu helfen. Ich habe gesucht und nichts gefunden ... Aber ich kann doch nicht als Aufwartefrau gehen.«

Nie hatte Saccard sie so fassungslos und niedergeschlagen gesehen.

»Zum Teufel! Soweit sind Sie doch noch nicht!« rief er.

Sie schüttelte den Kopf, war voller Bitternis über das Leben, das sie für gewöhnlich so mutig annahm, selbst wenn es sich als böse erwies. Und da Hamelin in diesem Augenblick nach Hause kam und die Nachricht von einem letzten Mißerfolg brachte, flossen ihr langsam dicke Tränen über die Wangen. Sie sprach nicht mehr, die Hände hatte sie, zu Fäusten geballt, auf den Tisch gelegt, und ihre Augen blickten verloren vor sich hin.

»Wenn man bedenkt«, entfuhr es Hamelin, »daß es da unten Millionen gibt, die auf uns warten, und niemand hilft mir, sie zu gewinnen!«

Saccard hatte sich vor einem Entwurf aufgepflanzt, der den Aufriß für einen inmitten großer Lagerhäuser gebauten Pavillon darstellte.

»Was ist denn das?« fragte er.

»Oh, das habe ich nur zum Spaß gemacht«, erklärte der Ingenieur. »Das ist der Entwurf für ein Wohnhaus da unten in Beirut, für den Direktor der Gesellschaft, von der ich immer träumte, Sie wissen ja, die Allgemeine Gesellschaft der vereinigten Dampfschiffahrtslinien.«

 

Er wurde lebhaft, führte weitere Einzelheiten an. Während seines Aufenthalts im Orient hatte er festgestellt, wie mangelhaft das Transportwesen war. Die wenigen Reedereien mit Sitz in Marseille machten sich durch die Konkurrenz tot, kamen nicht auf die ausreichende Zahl von Schiffseinheiten, die mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet sind; daher war es eine seiner ersten Ideen, bevor er überhaupt an seine vielen anderen Unternehmungen dachte, diese Reedereien in einem Kartell zusammenzufassen, sie in einer großen, mit einem Millionenkapital versehenen Gesellschaft zu vereinigen, die das ganze Mittelmeer ausbeuten und beherrschen könnte, indem sie einen Linienverkehr nach allen Häfen Afrikas, Spaniens, Italiens, Griechenlands, Ägyptens, Asiens und bis ins Schwarze Meer hinein einrichtete. Dieser Plan zeugte von einem großen organisatorischen Spürsinn und zugleich von einem hohen staatsbürgerlichen Bewußtsein: damit war der Orient erobert und Frankreich zum Geschenk gemacht, ganz davon zu schweigen, daß auf diese Weise Syrien näher rückte, wo seinem Wirken noch ein weites Feld offenstand.

»Die Kartelle«, murmelte Saccard, »da scheint heute die Zukunft zu liegen ... Das ist eine so mächtige Form des Zusammenschlusses! Drei oder vier kleine Einzelunternehmen, die sich nur knapp über Wasser halten, gelangen unausweichlich zu neuem Leben und zu neuer Blüte, sobald sie sich zusammentun ... Ja, das Morgen gehört den großen Kapitalien, den vereinten Anstrengungen der großen Massen. Die ganze Industrie, der ganze Handel werden schließlich nur noch ein einziger, ungeheuer großer Basar sein, auf dem man sich mit allem versorgt.«

Er war wieder stehengeblieben, diesmal vor einem Aquarell, das eine wild zerklüftete Landschaft darstellte, eine ausgetrocknete Schlucht, die ein riesiger, mit Gestrüpp bewachsener Felssturz versperrte.

»Oh, oh«, versetzte er, »das ist ja das Ende der Welt. In diesem gottverlassenen Winkel wird man bestimmt nicht von Fußgängern angerempelt.«

»Eine Schlucht im Karmel«, antwortete Hamelin. »Meine Schwester hat das während der Untersuchungen gemalt, die ich dort angestellt habe.« Und er fügte noch hinzu: »Sehen Sie, zwischen den Kreidekalkfelsen und dem Porphyrgestein, das den Kalkstein auf der ganzen Gebirgsflanke gehoben hat, gibt es ein beachtliches Schwefelsilberlager. Ja, ein Silbererzvorkommen, dessen Abbau nach meinen Berechnungen ungeheure Gewinne bringen würde.«

»Ein Silbererzvorkommen«, wiederholte Saccard lebhaft.

Frau Caroline, die in ihrer Traurigkeit immer noch in die Ferne blickte, hatte zugehört, und als wäre eine Vision heraufbeschworen worden, sagte sie:

»Der Karmel! Ach, was für eine Einöde, was für Tage der Einsamkeit! Alles steht voller Myrten und Ginster, das duftet, die laue Luft ist wie von Balsam erfüllt. Und hoch oben schweben immerfort Adler ... Nein, und das viele Silber, das neben soviel Elend in diesem Grab schlummert! Man möchte glückliche Menschen sehen, Bauplätze, aufblühende Städte, ein durch Arbeit erneuertes Volk ...«

»Eine Straße wäre leicht vom Karmel nach Akka erschlossen«, fuhr Hamelin fort. »Und ich glaube bestimmt, man würde auch Eisen entdecken, denn es ist in Hülle und Fülle in den Gebirgen des Landes vorhanden ... Ich habe auch eine neue Art der Förderung entwickelt, die bedeutende Einsparungen bringen würde. Alles ist bereit, es handelt sich nur noch darum, Kapitalien zu finden.«

»Die Silberbergwerksgesellschaft des Karmel!« murmelte Saccard.

Aber jetzt sprang der Ingenieur erhobenen Blickes von einem Plan zum anderen über, diese Arbeit seines ganzen Lebens hatte ihn wieder gepackt, und er fieberte bei dem Gedanken an die strahlende Zukunft, die dort schlummerte, während ihm die Hände gebunden waren, weil er kein Geld hatte.

»Und das ist erst der Anfang«, fuhr er fort. »Schauen Sie diese Reihe von Plänen an, das hier ist der große Coup, ein ganzes Eisenbahnnetz quer durch Kleinasien ... Der Mangel an bequemen und schnellen Verkehrsverbindungen ist nämlich der Hauptgrund für die Stagnation, in der dieses so reiche Land verkommt. Sie finden dort keinen befahrbaren Weg, für jede Reise und jeden Transport sind Sie dort noch immer auf Maultiere oder Kamele angewiesen ... Stellen Sie sich vor, was für eine Umwälzung es wäre, wenn Eisenbahnstrecken bis an die Grenzen der Wüste vordringen! Industrie und Handel würden sich verzehnfachen, das wäre der Sieg der Zivilisation, und Europa stieße endlich die Tore zum Orient auf ... Wenn Sie das nur ein wenig interessiert, so können wir darüber noch im einzelnen sprechen. Und Sie sollen mal sehen, Sie sollen mal sehen!«

Übrigens konnte er es nicht lassen, sogleich Erläuterungen zu geben. Vor allem während seiner Reise nach Konstantinopel hatte er die Absteckung für sein Eisenbahnnetz studiert. Die einzige große Schwierigkeit bestand in der Überquerung des Taurus, aber er war über die verschiedenen Passe gezogen und versicherte, daß es möglich sei, eine direkte und verhältnismäßig wenig kostspielige Linie anzulegen. Er dachte ohnehin nicht daran, das gesamte Netz auf einmal bauen zu lassen. Hatte man vom Sultan die Konzession für das ganze Projekt erlangt, so wäre es klug, zunächst nur die Hauptstrecke, die Linie von Brussa nach Beirut über Angora und Aleppo, in Angriff zu nehmen. Später könnte man an die Nebenstrecken von Smyrna nach Angora und von Trapezunt nach Angora über Erzerum und Siwas denken.

»Später, noch später ...«, fuhr er fort.

Doch er vollendete nicht, er begnügte sich zu lächeln, weil er nicht zu sagen wagte, wie weit er in der Kühnheit seiner Pläne gegangen war. Das war der Gipfel seiner Träume.

»Ach, die Ebenen am Fuße des Taurus«, versetzte Frau Caroline mit der schleppenden Stimme einer Traumwandlerin, »was für ein köstliches Paradies! Man braucht die Erde nur anzukratzen, und die Ernten reifen üppig heran. Die Obstbäume brechen unter der Last der Pfirsiche, Kirschen, Feigen und Mandeln. Und die Felder mit Öl- und Maulbeerbäumen, wie große Wälder kommen sie einem vor! Und was für ein natürliches und leichtes Leben in dieser linden, ewig blauen Luft!«

Saccard brach in jenes schrille, gierige Gelächter aus, das ihn immer ankam, sobald er Geld witterte. Und als Hamelin noch von weiteren Vorhaben, besonders von der Gründung einer Bank in Konstantinopel, sprach und ein Wort über die allmächtigen Verbindungen fallenließ, die er vor allem zur Umgebung des Großwesirs angeknüpft hatte, unterbrach ihn Saccard vergnügt.

»Aber das ist ja ein Schlaraffenland, das ließe sich verkaufen!«

Dann stützte er sehr vertraulich beide Hände auf Frau Carolines Schultern, die immer noch an ihrem Tisch saß.

»Verzweifeln Sie doch nicht, Frau Caroline! Ich mag Sie sehr, Sie werden sehen, ich mache mit Ihrem Bruder etwas sehr Gutes für uns alle ... Haben Sie Geduld und warten Sie ab!«

Im darauffolgenden Monat verschaffte Saccard dem Ingenieur erneut einige kleine Arbeiten, und obwohl er nicht mehr von den großen Geschäften sprach, mußte er doch fortwährend daran denken, wälzte er sie in seinen Gedanken, auch wenn er vor der erdrückenden Größe der Unternehmungen zögerte. Aber was die entstehenden Bande ihrer vertrauten persönlichen Beziehungen enger knüpfte, war die ganz natürliche Art, in der sich Frau Caroline mit seinem Haushalt befaßte. Als alleinstehender Mann wurde er von überflüssigen Kosten aufgefressen und um so schlechter bedient, je mehr Diener er hatte. Er, der nach außen so wendig war und mit starker, geschickter Hand in den trüben Wassern der großen Räubereien fischte, ließ bei sich zu Hause alles drunter und drüber gehen, unbekümmert um die erschreckenden Verluste, die seine Ausgaben verdreifachten; obendrein machte sich das Fehlen einer Frau bis in die kleinsten Dinge hinein empfindlich bemerkbar. Als Frau Caroline die Plünderung bemerkte, gab sie ihm zunächst Ratschläge, mischte sich dann schließlich ein und verhalf ihm zu zwei oder drei Einsparungen, so daß er ihr eines Tages lachend anbot, seine Hausdame zu werden. Warum auch nicht? Da sie eine Stelle als Erzieherin gesucht hatte, konnte sie sehr wohl eine für sie ehrenhafte Stellung annehmen, die ihr erlaubte abzuwarten. Das im Scherz gemachte Angebot wurde ernst. War das nicht eine geeignete Form, sich zu beschäftigen, ihren Bruder mit den dreihundert Francs zu unterstützen, die ihr Saccard monatlich geben wollte? Und sie willigte ein; binnen acht Tagen ordnete sie den Haushalt neu, entließ den Küchenchef und seine Frau und stellte dafür nur eine Köchin ein, die mit dem Kammerdiener und dem Kutscher zur Bedienung ausreichen mußte. Ebenso behielt sie nur ein Pferd und einen Wagen, nahm völlig das Heft in die Hand und prüfte die Rechnungen mit so peinlicher Sorgfalt, daß sie nach den ersten zwei Wochen die Ausgaben um die Hälfte verringert hatte. Saccard war entzückt, scherzte und sagte, daß jetzt er sie um ihr Geld brächte und daß sie einen gewissen Prozentsatz von all den Gewinnen hätte fordern müssen, zu denen sie ihm verhalf.

Von nun an lebten sie sehr eng zusammen. Saccard hatte den Einfall gehabt, die Schrauben herausdrehen zu lassen, die die Verbindungstür zwischen den beiden Wohnungen versperrten, und man stieg wieder ungehindert über die Innentreppe von einem Speisesaal in den anderen; Frau Caroline überließ ihren eigenen Haushalt der Sorge ihres einzigen Dienstmädchens und ging zu jeder Tageszeit hinunter, um wie bei sich zu Hause ihre Anordnungen zu erteilen, während ihr Bruder oben von früh bis spät bei verschlossenen Türen arbeitete, um seine Akten aus dem Orient in Ordnung zu bringen. Saccard freute sich über das ständige Erscheinen dieser schönen großen Frau, die die Räume durchquerte mit ihrem festen und stolzen Schritt, mit der immer wieder neuen, überraschenden Heiterkeit ihres weißen Haars, das ihr um das junge Gesicht flatterte. Sie war wieder sehr fröhlich, sie hatte ihren Lebensmut zurückgewonnen, seitdem sie sich nützlich fühlte, ihre Stunden ausfüllte und fortwährend auf den Beinen war. Ohne Schlichtheit vortäuschen zu wollen, trug sie immer nur ein schwarzes Kleid, aus dessen Tasche das helle Geklingel des Schlüsselbundes zu vernehmen war; und fraglos machte sie, die Gelehrte und Philosophin, sich ein Vergnügen daraus, nichts weiter als eine gute Hausfrau zu sein, die Haushälterin eines Verschwenders, den sie zu lieben begann, so wie man die mißratenen Kinder liebt. Saccard, der einen Augenblick ganz hingerissen war und sich ausrechnete, daß der Altersunterschied zwischen ihnen nur vierzehn Jahre betrug, hatte sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er sie eines schönen Abends in die Arme nähme. Durfte er annehmen, daß sie seit zehn Jahren, seit ihrer erzwungenen Flucht aus dem Hause ihres Gatten, von dem sie mit ebensoviel Schlägen wie Zärtlichkeiten bedacht worden war, wie eine reisende Amazone gelebt hatte, ohne einen Mann anzusehen? Vielleicht hatten die Reisen sie geschützt. Indes wußte er, daß ein Kaufmann und Freund ihres Bruders, der in Beirut geblieben war und dessen Rückkehr nahe bevorstand, sie sehr geliebt hatte; um sie heiraten zu können, hatte er den Tod ihres Gatten herbeigesehnt, der wegen Säuferwahnsinn in ein Irrenhaus eingeliefert worden war. Offenbar hätte diese Heirat nur ein sehr entschuldbares, beinahe legitimes Verhältnis geregelt. Warum sollte er, Saccard, nun nicht der zweite sein, wo es ja schon einen gegeben haben mußte? Aber Saccard ließ es beim bloßen Gedanken bewenden, denn er fand sie so kameradschaftlich, daß das Weib oft gänzlich in den Hintergrund trat. Sooft er sie mit ihrer bewundernswerten Gestalt vorbeigehen sah, fragte er sich von neuem, was wohl geschehen würde, wenn er sie umarmte. Und er gab sich selbst die Antwort, daß sehr gewöhnliche, vielleicht ärgerliche Sachen passieren würden, und er verschob den Versuch auf später, drückte ihr nur, beglückt über ihre Herzlichkeit, kräftig die Hand.

Dann war Frau Caroline plötzlich wieder sehr bekümmert. Eines Morgens kam sie niedergeschlagen, sehr blaß und mit verschwollenen Augen herunter. Er konnte nichts aus ihr herausbringen und fragte sie nicht weiter aus angesichts der Hartnäckigkeit, mit der sie behauptete, sie habe nichts, sie sei wie alle Tage. Erst am nächsten Tag begriff er, als er oben einen Brief fand, in dem die Heirat von Herrn Beaudoin mit der sehr jungen und unermeßlich reichen Tochter eines englischen Konsuls angezeigt wurde. Der Schlag mußte um so härter gewesen sein, als die Nachricht ohne jegliche Vorbereitung, sogar ohne ein Lebewohl, nur mit diesem banalen Brief eintraf. Das war ein richtiger Zusammenbruch im Dasein der unglücklichen Frau, der Verlust der fernen Hoffnung, an die sie sich in den Stunden des Unglücks klammerte. Und wie es der Zufall wollte, der abscheuliche Grausamkeiten bereithält, hatte sie gerade zwei Tage zuvor erfahren, daß ihr Gatte gestorben war, und achtundvierzig Stunden lang an die nahe bevorstehende Verwirklichung ihres Traums geglaubt. Ihr Leben stürzte zusammen, sie war vernichtet. Am gleichen Abend wartete noch eine weitere unangenehme Überraschung auf sie: als sie, ehe sie zum Schlafen hinaufging, wie gewöhnlich bei Saccard eintrat, um sich mit ihm über die Anordnungen für den folgenden Tag zu unterhalten, sprach er so teilnahmsvoll von ihrem Unglück, daß sie in Schluchzen ausbrach. Rührung überkam sie, ihre Willenskraft war wie gelähmt, und sie fand sich plötzlich in seinen Armen, sie gab sich ihm hin, freudlos für beide. Als sie wieder zu sich kam, begehrte sie nicht auf, aber sie war unendlich traurig. Warum hatte sie das geschehen lassen? Sie liebte diesen Mann nicht, und er liebte sie wohl auch nicht. Keineswegs schien er ihr in einem Alter und von einem Aussehen, die intimer Zärtlichkeit unwürdig wären. Gewiß war er keine Schönheit und auch nicht mehr jung, doch sein lebhaftes Mienenspiel, der Tatendrang seiner ganzen kleinen dunkelhäutigen Person nahmen sie für ihn ein; ohne ihn genau zu kennen, wollte sie ihn für gefällig, überdurchschnittlich intelligent und für fähig halten, die großen Unternehmungen ihres Bruders mit der üblichen Allerweltsehrlichkeit zu verwirklichen. Nur, was für ein blödsinniger Fehltritt! Sie, die so vernünftig, durch die harte Erfahrung so klug geworden, so voll Selbstbeherrschung war, mußte wie eine sentimentale Grisette in einem Tränenausbruch erliegen, ohne zu wissen, wie und warum! Das schlimmste war, daß sie spürte, wie er gleich ihr über das Abenteuer erstaunt und beinahe verärgert war. Als er sie zu trösten suchte, als er mit ihr über Herrn Beaudoin wie über einen einstigen Geliebten sprach, dessen gemeiner Verrat nur vergessen zu werden verdiente, und sie sich dagegen verwahrte und schwor, daß zwischen ihnen nie etwas gewesen sei, glaubte er zunächst, sie hätte aus weiblichem Stolz gelogen; aber sie wiederholte diesen Schwur mit soviel Nachdruck, und ihre Augen blickten dabei so schön, so klar und ehrlich, daß er schließlich von der Wahrheit ihrer Geschichte überzeugt war: wie sie sich aus Redlichkeit und Würde für ihren Hochzeitstag aufheben wollte und der Mann sich zwei Jahre lang geduldete, dann müde wurde und bei Gelegenheit eine andere heiratete, deren Jugend und Reichtum sich ihm allzu verführerisch darbot. Und das Merkwürdige daran war, daß diese Entdeckung, diese Überzeugung, die Saccard hätte in Leidenschaft versetzen müssen, ihn im Gegenteil beinahe verwirrte, so sehr begriff er die lächerliche Zufälligkeit seines unverhofften Glücks. Übrigens taten sie es nie wieder, da offenbar keiner von beiden Lust dazu verspürte.

 

Vierzehn Tage lang war Frau Caroline schrecklich traurig. Die Lebenskraft, dieser Antrieb, der aus dem Leben eine Notwendigkeit und eine Freude macht, hatte sie verlassen. Sie ging zwar ihren vielfältigen Beschäftigungen nach, war aber irgendwie geistesabwesend, ohne sich über Sinn und Zweck der Dinge noch Täuschungen hinzugeben. Die menschliche Maschine arbeitete aus Verzweiflung über die Nichtigkeit allen Tuns. Ihre einzige Zerstreuung in diesem Schiffbruch ihrer Tapferkeit und Heiterkeit war es, alle ihre freien Stunden an einem Fenster des großen Arbeitszimmers zu verbringen, die Stirn an die Scheiben gepreßt und den Blick starr auf den Garten des Nachbarhauses geheftet, jenes Palais de Beauvilliers, dessen bittere Not und verborgenes Elend sie seit den ersten Tagen nach ihrem Einzug erraten hatte, obwohl man sich so verzweifelt bemühte, den Schein zu wahren. Dort gab es auch Wesen, die litten; ihr eigener Kummer war wie durchtränkt von diesen Tränen, und sie verfiel in tödliche Schwermut, so daß sie sich bisweilen gefühllos und tot im Schmerz der anderen vorkam.

Diese Beauvilliers, denen früher in der Rue de Grenelle ein herrliches Palais gehörte, ganz zu schweigen von ihren riesigen Gütern in der Touraine41 und im Anjou42, besaßen in Paris nur noch dieses ehemalige Lusthaus, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts außerhalb der Stadt errichtet worden war; heute war es von den dunklen Häusern der Rue Saint-Lazare eingeschlossen. Die letzten schönen Bäume des Gartens standen dort wie in der Tiefe eines Brunnens, das Moos zerfraß die Stufen der zerbröckelnden, geborstenen Freitreppe. Man hätte meinen können, das Ganze sei ein Stück Natur im Gefängnis, ein ruhiger, trauriger Winkel von stummer Verzweiflung, in den die Sonne nur noch als grünliches Tageslicht hinabdrang, dessen Kälte die Schultern erstarren ließ. Und der erste Mensch, den Frau Caroline in diesem feuchten Kellerfrieden oben auf jener zerfallenen Freitreppe entdeckte, war die Gräfin Beauvilliers, eine große, magere Frau von sechzig Jahren, mit schlohweißem Haar, eine sehr vornehme, ein wenig altmodische Erscheinung. Mit der großen geraden Nase, den dünnen Lippen und dem ungemein langen Hals sah sie wie ein uralter Schwan von trauriger Sanftmut aus. Hinter ihr war fast gleichzeitig ihre Tochter erschienen, Alice de Beauvilliers, fünfundzwanzig Jahre alt, aber so kümmerlich, daß man sie ohne ihren schlechten Teint und ihr eingefallenes Gesicht für ein kleines Mädchen gehalten hätte. Der Mutter war sie wie aus dem Gesicht geschnitten, nur schmächtiger, ohne die aristokratische Vornehmheit, der Hals lang bis zur Häßlichkeit; sie besaß nichts weiter als den kläglichen Reiz eines aussterbenden großen Geschlechts. Die beiden Frauen lebten allein, seitdem der Sohn, Ferdinand de Beauvilliers, nach der von Lamoricière verlorenen Schlacht bei Castelfidardo43 bei den päpstlichen Zuaven44 diente. Wenn es nicht regnete, kamen sie täglich, eine hinter der anderen, aus dem Haus, stiegen die Freitreppe hinab und machten einen Gang um den schmalen Rasen in der Mitte, ohne ein Wort zu wechseln. Es gab nur Efeueinfassungen, Blumen wären nicht gewachsen oder vielleicht zu teuer gewesen. Und dieser langsame Verdauungsspaziergang der beiden blassen Frauen unter den hundertjährigen Bäumen, die so viele Feste gesehen hatten und denen nun die Bürgerhäuser aus der Nachbarschaft die Luft nahmen, war von so schmerzlicher Schwermut, als führten beide die Trauer um die alten toten Dinge spazieren.

Frau Caroline, deren Teilnahme erwacht war, beobachtete ihre Nachbarinnen mit zärtlicher Sympathie, ohne böse Neugier; und da sie von ihrem Platz aus den Garten überblicken konnte, drang sie allmählich in das Leben der beiden Frauen ein, das diese mit eifersüchtiger Sorge nach der Straße zu verbergen wollten. Immer noch stand ein Pferd im Stall und ein Wagen in der Remise, ein alter Diener, der Kammerdiener, Kutscher und Concierge in einer Person war, versorgte beides; dann war noch eine Köchin da, die auch als Stubenmädchen diente. Doch wenn auch der Wagen, korrekt angespannt, aus dem Hauptportal fuhr und die Damen mit ihm ihre Besorgungen erledigten, wenn auch die Tafel bei den im Winter alle vierzehn Tage stattfindenden Diners, zu denen einige Freunde kamen, einen gewissen Luxus wahrte – mit welch langem Fasten, mit welch knausrigen Einsparungen zu jeder Stunde war dieser trügerische Schein des Reichtums erkauft! In einem kleinen Schuppen, den Blicken verborgen, wurden ständig die armseligen, von der Seife zerfressenen, Faden für Faden geflickten Sachen gewaschen, um die Rechnung für die Wäscherei niedrig zu halten; ein bißchen verlesenes Gemüse bildete die Abendmahlzeit, das Brot ließ man auf einem Brett altbacken werden, um weniger davon zu essen; da gab es alle möglichen Kniffe der Sparsamkeit, unscheinbar und rührend: der alte Kutscher nähte wieder und wieder die durchlöcherten Stiefelchen des Fräuleins, die Köchin schwärzte die Fingerspitzen der allzu abgetragenen Handschuhe der gnädigen Frau mit Tinte, die Kleider der Mutter gingen nach geschickt ersonnenen Umarbeitungen auf die Tochter über, und die Hüte überdauerten dank den ausgetauschten Blumen und Bändern Jahre. Wenn niemand erwartet wurde, waren die Empfangssalons im Erdgeschoß sowie die großen Räume im ersten Stockwerk sorgfältig verschlossen, denn von der ganzen weitläufigen Wohnung bewohnten die beiden Frauen nur noch ein schmales Zimmer, das sie zu ihrem Eßzimmer und Boudoir gemacht hatten. Wenn das Fenster etwas offenstand, konnte man die Gräfin wie eine arme kleine Bürgersfrau beim Wäscheausbessern sehen, während das junge Mädchen zwischen seinem Klavier und seinem Wasserfarbenkasten Strümpfe und Fäustlinge für die Mutter strickte. Eines Tages, als ein starkes Gewitter tobte, sah man die beiden im Garten, wie sie den Sand zusammenschaufelten, den der heftige Regen weggespült hatte.