Das Geld

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From the series: Die Rougon-Macquart #18
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Bei dieser Jagd auf die Schuldner war die Méchain eine seiner bevorzugten Gehilfinnen; denn wenn er dafür eine kleine Truppe von Treibern zu seiner Verfügung haben mußte, so lebte er doch in ständigem Mißtrauen gegen diese übelbeleumdeten, ausgehungerten Leute; die Méchain dagegen hatte selber einen schönen Batzen und besaß hinter dem Montmartre ein ganzes Häuserviertel, die Cité de Naples, ein weites Gelände, auf dem wacklige Hütten standen, die sie monatsweise vermietete: ein Winkel schrecklichen Elends, ein Haufen Hungerleider im Kot, Schweinekoben, die man sich gegenseitig streitig machte und aus denen sie erbarmungslos die Mieter samt ihrem Mist hinausfegte, sobald sie nicht mehr bezahlten. Was sie auffraß, was ihre Gewinne aus der Cité de Naples wieder verschlang, das war ihre unglückselige Spielleidenschaft. Und sie fand auch Gefallen an den vom Geld geschlagenen Wunden, an den Bankrotten, an den Feuersbrünsten, bei denen man geschmolzenen Schmuck stehlen kann. Wenn Busch sie beauftragte, eine Auskunft einzuholen, einen Schuldner zu exmittieren, so setzte sie manchmal aus der eigenen Tasche zu und verausgabte sich um des Vergnügens willen. Sie bezeichnete sich als Witwe, doch niemand hatte ihren Mann gekannt. Sie kam von Gott weiß woher, und mit ihrem schwabbeligen Fett und ihrer dünnen Kleinmädchenstimme schien sie immer fünfzig Jahre alt gewesen zu sein.



Als sich an jenem Tag die Méchain auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte, war das Arbeitszimmer voll, gleichsam verstopft von diesem letzten Paket aus Fleisch, das da hingeplumpst war. Vor seinem Schreibtisch glich Busch einem Gefangenen, der in einem Meer von Akten vergraben war, aus dem nur sein eckiger Schädel auftauchte.



»Da«, sagte sie und schüttete aus ihrer alten, zum Platzen vollen Tasche den ungeheuren Papierhaufen, »das schickt mir Fayeux aus Vendôme ... Aus dem Bankrott von Charpier hat er für Sie alles aufgekauft, wie Sie ihm durch mich hatten ausrichten lassen ... Hundertzehn Francs.«



Fayeux, den sie ihren Cousin nannte, hatte sich in Vendôme ein Kuponeinnahmebüro eingerichtet. Er besaß die Konzession für die Einnahme der Kupons der kleinen Rentiers34 vom Lande, und als Verwahrer dieser Kupons und des Geldes spekulierte er hemmungslos.



»Nicht viel los mit der Provinz«, murmelte Busch, »aber trotzdem macht man dort auch mal einen tollen Fund.«



Er beschnupperte die Papiere, wählte sie schon mit kundiger Hand aus und ordnete sie grob nach einer ersten Einschätzung, nach dem Geruch. Sein ausdrucksloses Gesicht verdüsterte sich und nahm einen enttäuschten, brummigen Ausdruck an.



»Hm! Nichts Fettes dabei, nichts zum Anbeißen. Zum Glück war das nicht teuer ... Hier sind Wechsel ... noch mal Wechsel ... Wenn das junge Leute sind und wenn sie nach Paris kommen, werden wir sie vielleicht erwischen ...«



Doch da entfuhr ihm ein leiser Ausruf der Überraschung.



»Nanu, was ist denn das?«



Er hatte die Unterschrift des Grafen de Beauvilliers entziffert, auf einem Blatt Stempelpapier, auf dem nur drei Zeilen standen, in einer großen, greisenhaften Handschrift: »Ich verpflichte mich, an Fräulein Léonie Cron am Tage ihrer Volljährigkeit den Betrag von zehntausend Francs auszuzahlen.«



»Der Graf de Beauvilliers«, versetzte er langsam und überlegte ganz laut, »ja, bei Vendôme hat er Pachthöfe gehabt, eine ganze Domäne sogar ... Er ist bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen und hat eine Frau und zwei Kinder in Not zurückgelassen. Ich habe früher Wechsel gehabt, die sie nur unter Schwierigkeiten bezahlen konnten ... Ein Angeber, ein Taugenichts ...«



Plötzlich lachte er laut auf, denn er ahnte, wie die Geschichte verlaufen sein mußte.



»Ach, der alte Gauner hat die Kleine reingelegt! ... Sie wollte nicht, und er hat sie mit diesem rechtlich wertlosen Fetzen Papier rumgekriegt. Dann ist er gestorben ... Wollen doch mal sehen, datiert ist das 1854, vor zehn Jahren also. Zum Teufel, das Mädchen muß jetzt volljährig sein! Wie konnte dieser Schuldschein Charpier in die Hände fallen? Einem Getreidehändler wie diesem Charpier? Der betrieb doch kurzfristige Wuchergeschäfte. Zweifellos hat ihm das Mädchen das da als Pfand für einige Taler abgelassen, oder vielleicht war er mit der Beitreibung beauftragt ...«



»Aber das ist doch sehr gut, ein richtiger Coup ist das!« unterbrach ihn die Méchain.



Busch zuckte verächtlich die Achseln.



»Ach was, nein! Ich sage Ihnen doch, daß das rechtlich wertlos ist ... Wenn ich das den Erben vorlege, können sie mich zum Teufel schicken, denn es müßte der Beweis angetreten werden, daß das Geld wirklich geschuldet worden ist ... Aber wenn wir das Mädchen ausfindig machen, könnte ich sie vielleicht dazu bringen, vernünftig zu sein und sich mit uns zu verständigen, um unangenehmes Aufsehen zu vermeiden ... Verstehen Sie? Suchen Sie diese Léonie Cron, schreiben Sie an Fayeux, damit er sie uns aufstöbert. Dann können wir uns ins Fäustchen lachen.«



Er hatte aus den Papieren zwei Haufen aussortiert, die er gründlich prüfen wollte, sobald er allein war; jetzt verharrte er reglos, auf jedem Haufen eine Hand.



Nach einer Pause fuhr die Méchain fort:



»Ich habe mich mit Jordans Wechseln beschäftigt ... Ich glaubte schon, unseren Mann gefunden zu haben. Er war irgendwo angestellt und schreibt jetzt in den Zeitungen. Aber unsereins wird in den Redaktionen so schlecht empfangen; sie weigern sich, uns die Adressen zu geben. Und dann glaube ich auch, daß er seine Artikel nicht mit seinem richtigen Namen unterschreibt.«



Ohne ein Wort zu sagen, hatte Busch den Arm ausgestreckt, um die Akte Jordan von ihrem alphabetischen Platz zu nehmen. Das waren sechs Wechsel zu je fünfzig Francs, die schon vor fünf Jahren im Abstand von je einem Monat ausgestellt worden waren – Wechsel über insgesamt dreihundert Francs, die der junge Mann in den Tagen seines Elends einem Schneider unterzeichnet hatte. Bei Vorlage waren sie nicht bezahlt worden, so daß zu den Wechseln riesige Unkosten hinzugekommen waren, aus dem Hefter quoll eine wahre Flut von Gerichtsakten. Jetzt war die Schuld auf siebenhundertdreißig Francs und fünfzehn Centimes gestiegen.



»Wenn das ein Bursche mit Zukunft ist«, murmelte Busch, »werden wir ihn schon noch erwischen.«



Da mußte ihm ein Gedanke gekommen sein, denn er fragte plötzlich:



»Sagen Sie mal, in der Angelegenheit Sicardot tut sich wohl gar nichts?«



Klagend hob die Méchain die dicken Arme zum Himmel. Ihre ganze monströse Person wabbelte vor Verzweiflung.



»Ach, Herrgott!« ächzte sie mit ihrer Flötenstimme. »Ich lasse noch Haut und Haare dabei!«



Die Angelegenheit Sicardot war ein richtiger kleiner Roman, den sie gern erzählte. Eine Cousine von ihr, Rosalie Chavaille, die spätgeborene Tochter einer Schwester ihres Vaters, war mit sechzehn Jahren eines Abends in einem Haus in der Rue de la Harpe, wo sie und ihre Mutter eine kleine Wohnung im sechsten Stock hatten, auf der Treppe genommen worden. Aber was das schlimmste war: der Betreffende, ein verheirateter Mann, der erst vor acht Tagen mit seiner Frau aus der Provinz gekommen war und bei einer Dame im zweiten Stockwerk zur Untermiete wohnte, hatte sich so verliebt gezeigt, daß er der armen Rosalie die Schulter ausrenkte, als er sie allzu stürmisch gegen eine Treppenkante drückte. Daher der gerechte Zorn der Mutter, die beinahe einen abscheulichen Skandal gemacht hätte, obwohl die Kleine unter Tränen eingestand, daß sie es durchaus willig getan habe, daß es ein Unfall gewesen sei und daß es ihr großen Kummer bereiten würde, wenn man den Herrn ins Gefängnis steckte. Da schwieg die Mutter und begnügte sich damit, diesem Mann eine Summe von sechshundert Francs abzufordern, auf zwölf Wechsel verteilt, so daß sie ein Jahr lang monatlich fünfzig Francs erhalten sollte; und es gab keine häßliche Feilscherei, das war sogar noch bescheiden, denn ihre Tochter, die gerade ihre Schneiderlehre beendet hatte, verdiente nichts mehr, lag krank im Bett, kostete ein Heidengeld; sie wurde übrigens so schlecht behandelt, daß sich die Muskeln an ihrem Arm verkürzten und sie zum Krüppel wurde. Vor Ende des ersten Monats war der Herr verschwunden, ohne seine Anschrift zu hinterlassen. Und das Unglück ging weiter, schlug drein wie das Hagelwetter: Rosalie kam mit einem Knaben nieder, verlor ihre Mutter, ergab sich einem schmutzigen Lebenswandel und geriet in bitterste Not. In der Cité de Naples bei ihrer Cousine gestrandet, trieb sie sich, bis sie sechsundzwanzig war, auf den Straßen herum, da sie sich ihres Armes nicht bedienen konnte, verkaufte bisweilen Zitronen in den Markthallen, verschwand wochenlang mit Männern, die sie betrunken und grün und blau geschlagen wieder nach Hause schickten. Schließlich war ihr vor einem Jahr das Glück widerfahren, daß sie an den Folgen einer Sauftour, die abenteuerlicher war als alle anderen, draufging. Und die Méchain hatte Victor, das Kind, behalten müssen. Von diesem ganzen Abenteuer blieben nur die zwölf unbezahlten, mit »Sicardot« unterschriebenen Wechsel. Man hatte nie mehr darüber in Erfahrung bringen können, als daß der Betreffende Sicardot hieß.



Wieder streckte Busch den Arm aus und griff nach der Akte Sicardot, einem dünnen Hefter aus grauer Pappe. Noch hatten sich keine Unkosten ergeben, nur die zwölf Wechsel waren da.



»Wenn Victor wenigstens artig wäre!« jammerte die alte Frau. »Aber stellen Sie sich vor, ein furchtbares Kind ... Ach, das kommt einen hart an, solche Erbschaften zu machen wie diesen Bengel, der mal am Galgen enden wird, und diese Papierfetzen, aus denen ich nie etwas herausschlagen werde!«



Busch starrte mit seinen großen blassen Augen unverwandt auf die Wechsel. Wie oft hatte er sie so untersucht und gehofft, in einer bisher nicht bemerkten Einzelheit, in der Form der Buchstaben, ja vielleicht sogar in der Narbe des Stempelpapiers einen Hinweis zu entdecken! Diese spitze, feine Handschrift kam ihm irgendwie bekannt vor, behauptete er.

 



»Seltsam«, wiederholte er noch einmal, »solche langgezogenen A und O, die wie lauter I aussehen, habe ich bestimmt schon gesehen.«



Gerade in diesem Augenblick klopfte es, und er bat die Méchain, die Hand auszustrecken und aufzumachen, denn das Zimmer ging direkt auf die Treppe. Man mußte es durchqueren, wenn man in das andere Zimmer mit Blick auf die Straße gelangen wollte. Die Küche, ein luftloses Loch, befand sich auf der anderen Seite des Treppenabsatzes.



»Herein, mein Herr.«



Saccard trat ein. Er lächelte, denn er mokierte sich immerhin über das Kupferschild an der Tür, auf dem in dicken schwarzen Lettern stand: Streitsachen.



»Ach ja, Herr Saccard, Sie kommen wegen dieser Übersetzung ... Mein Bruder ist dort im anderen Zimmer ... Gehen Sie nur hinein.«



Aber die Méchain versperrte völlig den Durchgang, und sie musterte den Neuankömmling mit wachsendem Erstaunen. Es bedurfte eines richtigen Manövers: er wich auf die Treppe zurück, sie selbst kam heraus und trat auf dem Treppenabsatz beiseite, so daß er eintreten und endlich in das Nebenzimmer gelangen konnte, wo er verschwand. Während dieses komplizierten Bewegungsvorganges hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen.



»Oh!« schnaufte sie beklommen. »Diesen Herrn Saccard habe ich noch nie so richtig aus der Nähe gesehen ... Victor ist sein ganzes Ebenbild.«



Busch schaute sie zuerst verständnislos an. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf, und er erstickte einen Fluch.



»Donnerwetter, so ist es! Ich wußte doch, daß ich das irgendwo gesehen hatte!«



Und diesmal erhob er sich, warf die Akten durcheinander und fand schließlich einen Brief, den ihm Saccard vor einem Jahr geschrieben hatte, um ihn zu bitten, einer zahlungsunfähigen Dame etwas Zeit zu lassen. Aufgeregt verglich er die Handschrift auf den Wechseln mit der dieses Briefes. Das waren wirklich die gleichen A und die gleichen O, nur noch spitzer geworden mit der Zeit, und auch bei den Großbuchstaben herrschte eine offensichtliche Übereinstimmung.



»Das ist er, das ist er«, wiederholte er. »Bloß, warum Sicardot, warum nicht Saccard?«



Aber da fiel ihm eine verworrene Geschichte ein, Saccards Vergangenheit, die ihm ein Makler namens Larsonneau, der heute Millionär war, erzählt hatte: wie Saccard am Tage nach dem Staatsstreich in Paris auftauchte, um die im Entstehen begriffene Macht seines Bruders Rougon auszubeuten, sein anfängliches Elend in den düsteren Straßen des alten Quartier Latin35 und dann sein rascher Aufstieg dank einer zwielichtigen Heirat, nachdem er das Glück gehabt hatte, seine Frau begraben zu können. Bei diesem schwierigen Anfang damals hatte er seinen Namen Rougon für Saccard eingetauscht, indem er einfach den Namen seiner ersten Frau, die Sicardot hieß, abwandelte.



»Ja, ja, Sicardot, ich erinnere mich genau«, murmelte Busch. »Er hat die Stirn besessen, die Wechsel mit dem Namen seiner Frau zu unterschreiben. Zweifellos hatten die beiden diesen Namen angegeben, als sie in der Rue de la Harpe abstiegen. Und dann traf der Kerl alle möglichen Vorsichtsmaßregeln und ist beim geringsten Anzeichen umgezogen ... Er war also nicht nur hinter dem Geld her, er hat auch noch die Mädchen auf den Treppen umgelegt! Das war dumm, das wird ihm noch Scherereien machen!«



»Pst, pst!« versetzte die Méchain. »Wir haben ihn in der Hand, und man kann wohl sagen, daß es einen lieben Gott gibt. So werde ich nun endlich belohnt für alles, was ich für diesen armen kleinen Victor getan habe, den ich trotz allem sehr gern habe, obwohl er unverbesserlich ist.«



Sie strahlte, und ihre kleinen Augen funkelten in dem schmelzenden Fett ihres Gesichts.



Aber nach der Aufregung über diese lange gesuchte Lösung, die ihm der Zufall jetzt brachte, wurde Busch beim weiteren Überlegen wieder kühl und schüttelte den Kopf. Zweifellos schien ihm Saccard, obwohl er im Augenblick ruiniert war, noch gut zum Rupfen. Man hätte auch auf einen weniger vorteilhaften Vater stoßen können. Bloß würde Saccard sich nichts gefallen lassen, er konnte fürchterlich zubeißen. Und was dann? Er wußte bestimmt selbst nicht, daß er einen Sohn hatte, er konnte es trotz dieser außerordentlichen Ähnlichkeit, die die Méchain so verblüffte, leugnen. Außerdem war er ein zweites Mal Witwer und damit frei, er schuldete niemandem Rechenschaft über seine Vergangenheit; selbst wenn er den Kleinen anerkannte, war aus keiner Furcht und keiner Drohung gegen ihn Vorteil zu ziehen. Und aus seiner Vaterschaft nur die sechshundert Francs für die Wechsel zu schlagen war wirklich zu jämmerlich, da lohnte es nicht die Mühe, daß einem der Zufall so wunderbar zu Hilfe kam. Nein, nein! Er mußte nachdenken, mußte das hegen und pflegen, das Mittel finden, die Ernte in voller Reife einzubringen.



»Wir wollen nichts übereilen«, schloß Busch, »übrigens liegt er jetzt am Boden; lassen wir ihm die Zeit, wieder auf die Beine zu kommen.«



Und bevor er die Méchain verabschiedete, prüfte er mit ihr noch die kleinen Geschäfte, mit denen er sie beauftragt hatte: eine junge Frau, die ihren Schmuck für einen Geliebten verpfändet hatte, ein Schwiegersohn, dessen Schulden seine Schwiegermutter und gleichzeitige Geliebte bezahlen würde, wenn man es richtig anzupacken verstand, und schließlich die heikelsten Spielarten in der so verwickelten und schwierigen Beitreibung der Schuldforderungen.



Als Saccard das Nebenzimmer betrat, verharrte er einige Sekunden, geblendet von dem grellen Sonnenlicht, das durch das gardinenlose Fenster fiel. Das mit einer blaßblauen Blümchentapete ausgeschlagene Zimmer war ganz kahl: nur ein kleines eisernes Bettgestell stand in einer Ecke und in der Mitte ein Tisch aus Fichtenholz mit zwei Strohstühlen. An der linken Zwischenwand dienten roh gehobelte Bretter als Bücherschrank, sie waren mit Büchern, Broschüren, Zeitungen und allen möglichen Papieren überladen. Aber in dieser Höhe breitete das helle Tageslicht eine Art jugendlicher Heiterkeit, unschuldigen frischen Lachens über die Kahlheit des Zimmers. Buschs Bruder Sigismond, ein bartloser junger Mann von fünfunddreißig Jahren mit langem, spärlichem kastanienbraunem Haar, saß am Tisch. Er stützte die breite gebuckelte Stirn in die magere Hand und war so in ein Manuskript vertieft, daß er nicht einmal den Kopf wandte, weil er nicht gehört hatte, wie die Tür aufging.



Dieser Sigismond war ein kluger Kopf. Er hatte die deutschen Universitäten besucht und sprach außer Französisch, seiner Muttersprache, Deutsch, Englisch und Russisch. 1849 hatte er in Köln Karl Marx kennengelernt und war der beliebteste Redakteur an seiner »Neuen Rheinischen Zeitung«36 geworden; von diesem Augenblick an stand seine Religion fest, er verkündete voll glühenden Glaubens den Sozialismus, denn er hatte sich mit Leib und Seele der Idee einer nahe bevorstehenden sozialen Erneuerung verschrieben, die den Armen und Erniedrigten das Glück bringen sollte. Seitdem sein Meister, aus Deutschland verbannt und gezwungen, nach den Junitagen37 auch Paris zu verlassen, in London lebte, dort schrieb und sich bemühte, die Partei zu organisieren, vegetierte Sigismond, in seine Träume versponnen, dahin und kümmerte sich derart wenig um sein leibliches Wohlergehen, daß er sicher verhungert wäre, wenn nicht sein Bruder ihn in der Rue Feydeau nahe der Börse aufgenommen und auf den Gedanken gebracht hätte, seine Sprachkenntnisse zu nutzen und sich als Übersetzer niederzulassen. Dieser ältere Bruder vergötterte seinen jüngeren Bruder mit wahrhaft mütterlicher Leidenschaft; ein grausamer Wolf für die Schuldner und sehr wohl imstande, einem Menschen, der schon verblutete, noch zehn Sous zu stehlen, war er sogleich zu Tränen gerührt und besaß die leidenschaftliche, umsichtige zarte Fürsorge einer Frau, sobald es sich um diesen zerstreuten großen Jungen handelte, der ein Kind geblieben war. Er hatte ihm das schöne Zimmer zur Straße gegeben, er bediente ihn wie ein Kindermädchen, führte ihren absonderlichen Haushalt, kehrte aus, machte die Betten und kümmerte sich um das Essen, das zweimal am Tag aus einer kleinen Gastwirtschaft in der Nachbarschaft heraufgebracht wurde. Er, der immer beschäftigt war und den Kopf mit tausenderlei Geschäften voll hatte, duldete den Müßiggang seines Bruders, denn mit dem übersetzen ging es nicht voran, persönliche Arbeiten hinderten ihn daran; er verbot ihm sogar zu arbeiten, da er über ein böses Hüsteln beunruhigt war. Und trotz seiner hartherzigen Liebe zum Geld, seiner mörderischen Raffgier, die in der Eroberung des Geldes den einzigen Daseinszweck erblickte, lächelte er nachsichtig über die Theorien des Revolutionärs, überließ ihm das Kapital, wie man einem Bengel ein Spielzeug läßt, auch auf die Gefahr hin, sehen zu müssen, wie er es zerbricht.



Sigismond seinerseits ahnte nicht einmal, was sein Bruder im Nebenzimmer trieb. Er wußte nichts von diesem schrecklichen Geschäft mit den entwerteten Papieren und dem Kauf von Schuldforderungen, er lebte in höheren Sphären, in einem alles beherrschenden Traum von Gerechtigkeit. Der Gedanke an Barmherzigkeit verletzte ihn, brachte ihn außer sich: Barmherzigkeit war das Almosen, die durch Güte geheiligte Ungleichheit, er aber ließ nur die Gerechtigkeit gelten, die zurückeroberten, in unverbrüchlichen Grundsätzen der neuen Gesellschaftsordnung verankerten Rechte eines jeden einzelnen. Im Gefolge von Karl Marx, mit dem er in ständigem Briefwechsel stand, verbrachte er seine Tage damit, diese Ordnung zu studieren, unaufhörlich die Gesellschaft von morgen auf dem Papier zu verändern und zu verbessern, riesige Bogen mit Zahlen zu bedecken und auf der Grundlage der Wissenschaft das komplizierte Gerüst für das universelle Glück aufzubauen. Er nahm den einen das Kapital weg, um es unter die anderen aufzuteilen, er bewegte die Milliarden hin und her, verschob mit einem Federstrich das Vermögen der Welt, und das in dieser kahlen Stube, ohne eine andere Leidenschaft als seinen Traum, ohne jegliches Bedürfnis nach Genuß; er lebte so bescheiden, daß sein Bruder erst böse werden mußte, damit er einen Schluck Wein trank und etwas Fleisch aß. Er, der sich bei der Arbeit umbrachte und von nichts lebte, wollte, daß die Arbeit eines jeden Menschen seinen Kräften angemessen sei und die Befriedigung seiner Wünsche gewährleisten solle. Losgelöst vom irdischen Leben, sehr sanft und sehr rein, begeisterte er sich wie ein wahrer Weiser nur am Studium. Seit dem letzten Herbst hatte sich sein Husten immer mehr verschlimmert, die Schwindsucht verheerte ihn, ohne daß er es überhaupt nur zur Kenntnis nahm und sich schonte.



Doch als Saccard eine Bewegung machte, hob Sigismond erstaunt die großen verschwommenen Augen und wunderte sich, obwohl er den Besucher kannte.



»Ich möchte mir nur einen Brief übersetzen lassen.«



Die Überraschung des jungen Mannes wuchs, denn er hatte die Kunden entmutigt, die Bankiers, die Spekulanten und die Wechselmakler, diese ganze Börsenwelt, die besonders mit England und Deutschland einen umfangreichen Briefwechsel unterhielt, Rundschreiben und Gesellschaftsstatuten empfing.



»Ja, ein Brief in russischer Sprache. Oh, bloß zehn Zeilen.«



Nun streckte er die Hand aus, Russisch war sein Spezialfach geblieben, und von allen anderen Übersetzern im Viertel, die vom Deutschen und Englischen lebten, übersetzte er allein es fließend. Die Seltenheit der russischen Schriftstücke auf dem Pariser Markt erklärte, weshalb er oft lange Zeit ohne Arbeit war.



Mit lauter Stimme las er den Brief auf französisch vor. Er enthielt ganz kurz in drei Sätzen die günstige Antwort eines Bankiers aus Konstantinopel, ein einfaches Ja in einer geschäftlichen Angelegenheit.



»Oh, danke«, rief Saccard, der sehr erfreut zu sein schien.



Und er bat Sigismond, die paar Zeilen der Übersetzung auf die Rückseite des Briefes zu schreiben. Aber dieser bekam einen schrecklichen Hustenanfall und hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um seinen Bruder nicht zu stören, der immer gleich herbeilief, sobald er ihn so husten hörte. Als dann der Anfall vorüber war, erhob er sich und öffnete das Fenster ganz weit, weil er bald erstickte und frische Luft atmen wollte. Saccard, der ihm gefolgt war, warf einen Blick hinaus und stieß einen leisen Ruf der Überraschung aus.



»Oh, Sie sehen ja auf die Börse! Wie komisch sie von hier oben aussieht!«



Er hatte sie tatsächlich noch nie aus einem so eigenartigen Blickwinkel gesehen, aus der Vogelperspektive, mit den vier großen verzinkten Flächen ihres außerordentlich weitläufigen Daches, bespickt mit einem Wald von Röhren. Die Spitzen der Blitzableiter ragten wie riesige Lanzen drohend in den Himmel hinein. Und das Gebäude selbst war nur noch ein Steinwürfel, an dem die Säulen regelmäßige Striche bildeten, ein nackter, häßlicher, schmutziggrauer Würfel, auf dem eine zerlumpte Fahne hing. Aber mit Erstaunen betrachtete er vor allem die Stufen und die Vorhalle, die mit schwarzen Ameisen wie besät waren: ein wimmelnder Ameisenhaufen in ungeheurer Aufregung, die man sich von so hoch oben gar nicht erklären konnte, so daß man Mitleid haben mußte.

 



»Wie klein das von hier aussieht!« versetzte er. »Man möchte fast sagen, daß man sie alle mit einem Griff in die Hand nehmen kann.«



Und da er die Ideen seines Gesprächspartners kannte, fügte er lachend hinzu:



»Und wann fegen Sie das alles mit einem Fußtritt hinweg?«



Sigismond zuckte die Achseln.



»Wozu? Ihr richtet euch doch selbst zugrunde.«



Jetzt wurde er allmählich lebhafter, sein Lieblingsthema brachte ihn zum Reden. Aus dem Bedürfnis heraus, Jünger zu werben, stürzte er sich bei der geringsten Andeutung in die Darlegung seines Systems.



»Ja, ja, ihr arbeitet für uns, ohne daß ihr es ahnt ... Ihr seid dort ein paar Usurpatoren, die die Masse des Volkes expropriieren, und wenn ihr euch vollgestopft habt, brauchen wir unsererseits nur noch euch zu expropriieren ... Jeglicher Wucher, jegliche Zentralisierung führt zum Kollektivismus. Ihr gebt uns eine praktische Lehre, ebenso wie die Großgrundbesitzer, die das Land stückchenweise schlucken, wie die Großproduzenten, die die Heimarbeiter verschlingen, wie die großen Kreditinstitute und die großen Kaufhäuser, die jede Konkurrenz abwürgen und durch den Ruin der kleinen Banken und der kleinen Geschäfte fett werden; all das führt langsam, aber sicher zu der neuen Gesellschaftsordnung hin ... Wir warten, bis alles kracht, bis die gegenwärtige Produktionsweise in letzter Konsequenz zu unerträglichem Elend geführt hat. Dann werden selbst die Bürger und die Bauern uns helfen.«



Saccards Interesse war geweckt, und er sah ihn leicht beunruhigt an, obwohl er ihn für verrückt hielt.



»Aber nun erklären Sie mir doch endlich mal, was das ist, Ihr Kollektivismus!«



»Der Kollektivismus ist die Umwandlung des Privatkapitals, das vom Konkurrenzkampf lebt, in ein einheitliches soziales Kapital, das durch die Arbeit aller ausgebeutet wird ... Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der die Produktionsinstrumente das Eigentum aller sind, in der jedermann nach seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Kraft arbeitet, in der die Produkte dieser gesellschaftlichen Zusammenarbeit auf jeden einzelnen, entsprechend seiner Leistung, verteilt werden. Nichts ist einfacher, nicht wahr? Gemeinsame Produktion in den Fabriken, auf den Bauplätzen, in den Nationalwerkstätten, dann Austausch, Bezahlung in Naturalien. Wenn es einen Produktionsüberschuß gibt, lagert man ihn in den öffentlichen Speichern, aus denen er wieder genommen wird, um die Verluste auszugleichen, die sich ergeben können, das Gleichgewicht wird hergestellt ... Und das fällt den morschen Baum wie mit einem Axthieb. Keine Konkurrenz mehr, kein Privatkapital mehr, also keinerlei Geschäfte mehr, kein Handel, keine Märkte und keine Börsen mehr. Der Gedanke an Gewinn hat keinen Sinn mehr. Die Quellen der Spekulation, der ohne Arbeit gewonnenen Renten, sind versiegt.«



»Hoho«, unterbrach ihn Saccard, »das würde die Gewohnheiten von sehr vielen Leuten verteufelt verändern! Aber was machen Sie mit denen, die heute Renten haben? ... Mit Gundermann zum Beispiel, nehmen Sie ihm seine Milliarde weg?«



»Keineswegs, wir sind keine Diebe. Wir würden von ihm für in jährliche Leibrenten aufgeteilte Gutscheine seine Milliarde, alle seine Wert- und Staatspapiere zurückkaufen. Und stellen Sie sich bloß dieses ungeheure Kapital vor, das auf diese Weise durch einen beklemmenden Reichtum an Konsumgütern ersetzt wird: in weniger als hundert Jahren wären die Nachkommen Ihres Gundermann wieder darauf angewiesen, selbst zu arbeiten wie alle anderen Bürger auch; denn die Leibrenten würden sich schließlich doch einmal erschöpfen, und sie könnten ihre erzwungenen Ersparnisse, den Überschuß dieser erdrückenden Masse von Vorräten nicht zum Kapital schlagen, selbst wenn man annimmt, daß das Erbrecht unangetastet bliebe ... Ich sage Ihnen, daß das auf einen Schlag nicht nur die Einzelunternehmen, die Aktiengesellschaften und alle anderen Vereinigungen von Privatkapital, sondern auch alle mittelbaren Quellen für Renten, alle Kreditformen, Darlehen, Mieten und Pachten hinwegfegt ... Es gibt nur noch die Arbeit als Maß für den Wert. Der Lohn fällt natür