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Während der zwei Jahre, in denen er seinen Master of Fine Arts in Kalifornien machte, schwand die Scham über seine Herkunft. Viele der Freunde, die er an der Universität kennenlernte, stammten aus ähnlichen kulturellen Wüsten, hatten die Dünen der freien Künste erklommen und waren mit der Genugtuung, die unfairen Voraussetzungen überwunden zu haben, oben angekommen. Dieser gemeinsame Aufstieg aus der Mittelmäßigkeit war es, der ihnen das Recht verlieh, Kunst zu machen – im Gegensatz zu all diesen aufgeblasenen Söhnen und Töchtern von Sammlern und Kuratoren mit ihren eigenen Treuhandfonds. Er hieß Pat wieder in seinem Leben willkommen, sie war der Beweis, wie weit er es gebracht hatte.

In Kalifornien begann er, ernsthaft Kunst zu produzieren. Die meiste Zeit des zweiten Studienjahrs beschäftigte er sich mit einem einzigen Projekt und stellte eine Reihe winziger Drohnenhelikopter her. Die Drohnen waren mit Weitwinkelkameras ausgestattet, mit denen sie große Flächen absuchen und sich an verdächtige Zeichen von Armut heranzoomen konnten; baufällige Dächer, Müll, Entfernung zur Wasserversorgung, Nähe zu gefährlichen Abfällen. Diese Faktoren wurden in ihre Wiedererkennungssysteme für Bildmaterial aufgenommen. Anhand dessen, was die Drohne fand, war es theoretisch möglich, sagte Louis, die Gegenden zu bestimmen, in denen Entwicklungshilfe am dringendsten benötigt wurde. Bei der Ausstellung, die seine Abschlussarbeit begleitete, zeigte er wandgroße und erstaunlich hoch aufgelöste Drucke einer Gegend, die die Drohne aus der Luft aufgenommen und als Gefahrenzone markiert hatte: den Campus der Universität. Zerfallende Gebäude, Müllhaufen, und die gefährliche Nähe zu einer Chemiefabrik hatten den Campus als geeignetes Ziel für Hilfsleistungen identifiziert.

Sein Fünf-Jahres-Vertrag mit Basquiatt war nun schon zur Hälfte abgelaufen. Sie hatten ihn noch vor Ende seines Studiums eingestellt, das Ticket nach Berlin für die Woche nach seinem Abschluss gebucht. Er war der Einzige aus seinem Jahrgang, der direkt zum Berater aufstieg. Viele seiner Klassenkameraden sollten später auch diese Laufbahn einschlagen, mussten aber erst wenigstens den Anschein erwecken, etwas geleistet zu haben, das sie für einen Job im Consulting qualifizierte.

(Seine Zeit in Berlin war ziemlich klar; Anja hatte viele Daten über ihn aus den letzten drei Jahren. Jede Menge gemeinsame Freunde, denen sie Details aus den Rippen leiern konnte. Es hatte vor ihr ein paar Frauen gegeben, aber nur ein paar.)

Dies waren die Fakten, anhand derer sie sich ausmalte, wie Louis’ Rückkehr nach Indiana zur Beerdigung verlaufen war, die Geschichte, die sie sich selbst erzählte. Einige Informationen gab er von sich aus preis – Nierenversagen, zum Beispiel. Bei Frauen über 60 sei dies eine häufige Todesursache, hatte er gesagt. Sie war über 60 gewesen? 59.

Pat hatte ihn also nicht fernsehen lassen. Die Tatsache an sich war die erste Information. Aber dieses Detail hatte darüber hinaus eine weitere Bedeutung: Louis brachte das Gespräch nun von sich aus auf Pat. Er hatte ihren Namen seit seiner Rückkehr bislang nicht ausgesprochen.

»Du hast Pat noch kein einziges Mal erwähnt, seit du wieder da bist«, sagte Anja.

Er nickte. »Ich weiß, das ist schräg. Ich habe kaum über sie nachgedacht. Und ich habe auch seit der Beerdigung nicht geweint.« Er war nach dem Duschen nun völlig trocken und stieg in seine Shorts. Sie starrte ihn an.

»Du hast auf der Beerdigung geweint?«

»Ja, es ist so krass, was die mit der Kirche gemacht haben.«

»Mit der Kirche?«

»Die First Christian Church, in der mein Vater früher gespielt hat.«

Kirche, Vater, Orgel: Check.

»Was haben sie gemacht?«

»Die Kanzel abgerissen, das war so ein schöner Thron aus Holz. Scheinbar ist es für die Prediger nicht mehr angesagt, stillzustehen, sie sollen rumlaufen, als wollten sie Jesus verkaufen. Sie haben eine riesige Leinwand angebracht, um Filme zu zeigen und eine Stereoanlage für Christrock. Ich nehme mal an, die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Leute ist nicht mehr lang genug, um für die Dauer einer ganzen Predigt stillzuhalten, wenn es keine Multimedia Show gibt. Die verstehen nur nicht, dass dieses Gebäude nicht dafür gemacht ist, es taugt nicht zur Megakirche.«

»Das ist die Kirche von Eero Saarinen, oder?« Zusatzinformationen, danke, Google. Anja wusste, dass Columbus eine Brutstätte der modernen Architektur war. Ein Leuchtfeuer der Kultur im Mittleren Westen, die großen Namen tummelten sich hier. Louis war auf dieses Thema immer wieder zu sprechen gekommen und hatte seine Bedeutung jedes Mal aufs Neue betont.

»Nein, Eliel, sein Vater. Die Kirche war die erste große Architektur in Columbus.«

»Gibt es da keinen Denkmalschutz?«

Er saß auf dem Bettrand und zog seine Socken an, die er normalerweise beim Schlafen trug. »Columbus hat so eine schräge Mischung aus anspruchsvoll und ordinär, die echt schwer zu erklären ist. Architektonische Meisterwerke zwischen Einkaufszentren, heruntergekommenen Garagen und Wohnwagensiedlungen. Die Leute merken gar nicht, dass die öffentliche Bibliothek von I.M. Pei ist, die Teenager wissen nur, dass es in ihr viele dunkle Ecken zum Rumknutschen gibt. Dann ist da noch dieser riesige Ring an Industriebauten um die Stadt, weil die Motorenfirma zwar für all die schicke Architektur gezahlt, ihre eigenen Fabriken aber nie auf Vordermann gebracht hat. Also leben und arbeiten die meisten Leute tatsächlich in diesen echt beschissenen Anlagen, aber die Stadt sieht immer noch schön aus für die Touristen.

»Die Motorenfirma hat für die Architektur bezahlt?« Sie tastete sich vor. Kein Glück.

»Das Unternehmen wollte was für die Gesellschaft tun. Philanthropie. Damals war es noch neu, dass Unternehmen so was machen.«

Sie wusste, in welche Richtung sich das Gespräch bewegte. Es bewegte sich sehr weit weg von Pat, weg vom emotionalen Inhalt, hin zum intellektuellen. Und er hatte Laura noch beschuldigt, ihr Interesse fürs Fernsehen hinter einem akademischen Anspruch zu verstecken. Er wusste, wovon er sprach.

Doch sie zog mit, spielte ihre Rolle. »Was hatten die Leute von der Motorenfirma davon, dass sie für die Architektur bezahlt haben?«

»Das ist die Sache mit dem wohltätigen Engagement von Unternehmen, es ist nicht klar, was die davon haben. Die machen das aus vielerlei Gründen, fürs öffentliche Ansehen, die Arbeitsmoral. Aber wenn man das ein bisschen allgemeiner betrachtet, ist das auch eine Art, wie sie die Leute überzeugen, dass wir die Regierungen für öffentliche Dienstleistungen gar nicht brauchen. Wenn Unternehmen wohltätig sind und Bäume pflanzen und schöne Gebäude bauen, werden die Leute nicht die Regierung unter Druck setzen, dass die ihren Job macht und mitmischt. Wie heißt es so schön, Philanthropie ist ein Grundpfeiler des Neoliberalismus.«

Er ging ins Badezimmer und kehrte mit seiner Zahnbürste in der Hand zurück. »Warte mal, wie lange läuft Der Bachelor eigentlich schon? Ist das nicht schon vor zwanzig Jahren rausgekommen?«

»Noch länger her. Das ist die älteste noch laufende Reality-TV-Sendung aller Zeiten. Außer Big Brother vielleicht.«

»Kaum zu glauben«, sagte Louis, der wieder ins Badezimmer zurückgegangen war und sich die Zähne putzte.

Sie rief ihm zu: »Aber warum interessiert sich eine Motorenfirma für moderne Architektur? Scheint mir ein bisschen ein Nischenthema zu sein.«

»Da war ein Superhirn am Werk«, gurgelte er zurück. Sie wartete, bis er ausgespuckt hatte, und sie das Wasser in den Abfluss laufen hörte.

»Ein Superhirn also.« Er kam aus dem Badezimmer und hockte sich auf die Bettkante.

»Ja, ein Vordenker!« Er lehnte sich zurück, um sie anzusehen. »J. Irwin Miller, Prototyp des ethischen Firmenbosses der Zukunft.«

Sie lachte. »Willst du mir die Geschichte erzählen?«

»Eine Gutenachtgeschichte. Lass mich kurz nachdenken.« Er fuhr sich gespielt übers Kinn, offensichtlich gab es nichts, worüber er nachdenken musste. Er war bestens vorbereitet auf die Welt gekommen. »Gehen wir zurück in die 1940er Jahre.« Sie lachte erneut.

»Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg.«

»Okay.«

»J. Irwin Miller, in Columbus geboren und aufgewachsen, übernimmt nach dem Tod seines Onkels die Cummins Motoren Company.

»Gut. Und dann?«

»Der Company geht es nicht wirklich gut. Aber auch, wenn er keinen Schimmer davon hat, wie man so ein Unternehmen führt, bringt er sie doch schnell wieder auf Trab. Er ist von Natur aus ein großartiger Manager und alle lieben ihn. Er ist Humanist und Christ und während er bei der Navy ist und Seite an Seite mit dem gemeinen Volk schuftet, entwickelt er einen gewissen Fetisch für die Arbeiterklasse. Er setzt sich für die Arbeiterrechte ein. Er hilft sogar seinen eigenen Arbeitern, eine Gewerkschaft zu gründen.«

»Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen Haken.« Louis lächelte, halb ernst, wie immer. »Er ist ein guter Christ. Und schließlich ist die Firma so gewachsen, dass sich die ganze Stadt verdoppelt hat. Die Schulen und öffentlichen Gebäude sind alle nicht mehr groß genug, und die Regierung baut ganz schnell all diese beschissenen Anlagen, um die Leute unterzubringen. Also beschließt unser Held, J. Irwin, die Gewinne der Firma zu nutzen, um richtige Architekten dafür zu bezahlen, diese Gebäude zu entwerfen.«

»Und er bezahlt für alles?«

»Er stockt den Regierungshaushalt auf, um gute Architekten zu bekommen, und nicht irgendwelche Plattenbauten.«

»Also baut er zuerst eure Kirche.«

»Die Kirche ist seine ganz besondere Herzensangelegenheit. Das war so eine Art Testlauf, um die Stadt davon zu überzeugen, dass moderne Architektur schon okay ist. Die Provinzeier im Mittleren Westen ›kapieren‹ die Moderne eben nicht, wenn du ihnen das Ganze nicht mit Religion versüßt. Er überzeugt die Gemeinde, indem er den Leuten das Gefühl gibt, sie wären am Gestaltungsprozess beteiligt. Er fragt sie, was sie eigentlich von einer Kirche wollen.«

 

»Bürgerbeteiligung – partizipatorische Raumpraxis, bottom-up!«

»Genau.« Louis lachte. »Seiner Zeit um Lichtjahre voraus.«

»Warum weißt du so viel darüber?«

»Ich habe während des Studiums eine Arbeit dazu geschrieben.«

»Was war das für eine Arbeit?«

Er räusperte sich und tat so, als würde er eine Brille seine Nase hochschieben.

»Nun, meine These lautete, dass Irwin der Urvater der kreativen Stadtplanung ist, weil er eine Architektur bauen ließ, die kluge, junge Leute in die Einöde locken würde, um für seine Motorenfirma zu arbeiten. So begründete er das kulturelle Kapital der Stadt und konnte berühmte Architekten kennenlernen. Und gleichzeitig entwickelte er auch noch diesen aufwendigen Steuertrick. Er erfand die Unternehmensphilanthropie als Werbemaßnahme und als einen Weg, Steuern zu sparen. Er brachte öffentliche, private und persönliche Interessen in Einklang. Der perfekte Dreier.«

»Was macht Cummins heute?«

»Nichts mehr, so richtig. Die Zeit des Diesels ist vorbei. Und nach Irwins Tod haben sie ihre Innovationsbereitschaft verloren. Es war kein Geld mehr da, um neue Architektur zu bauen oder meine Kirche instandzuhalten.«

Meine Kirche. Ein sonderbarer Besitzanspruch. Ein Besitzanspruch, der einem Mangel entwuchs.

»Vielleicht brauchen die einen neuen Irwin«, sagte sie.

»Die Welt braucht einen neuen Irwin.«

»Vielleicht bist du der neue Irwin.«

»Eher nicht.« Er sah weg, in Richtung Fenster und der absoluten Dunkelheit dahinter. »Weißt du, was mir klar geworden ist, als ich zuhause war?«

»Was?«

»Ich habe keinen Grund mehr, nach Columbus zurückzukehren.«

Wie sie vermutet hatte, waren sie wieder dort angelangt, wo ihr Gespräch begonnen hatte. Sie konnte ihn mit den Händen in der Luft herumwirbeln, sich um Konzepte und seine eigenen Gedanken drehen lassen, während sie im Stillen neue Kreise zog. Irgendwann kehrte er immer zum Ausgangspunkt zurück und sie konnte entschlüsseln, warum er welchen Weg eingeschlagen hatte. Der Weg war immer ein anderer – darum ging sie überhaupt mit – aber die Methode, fortzugehen, um zurückkehren zu können, war so vorhersehbar, so ineffizient.

Zum ersten Mal verspürte sie Ärger darüber, dass Louis sich selbst immer erst hinter sich lassen musste, um dann wieder zurückkehren zu können. Wenn er die ganze Welt in Worte fassen konnte, sollte es ihm doch auch möglich sein, die eigene Existenz direkt in Worte zu fassen. Wenn er das nicht konnte, worin lag dann der Sinn all der Runden, die sie gemeinsam drehten?

5

Am Freitag wollte Louis unbedingt ausgehen. Prinz war in einer Tiki Bar im Westen und sie sollten ihn dort treffen. Das schien normal und völlig in Ordnung, und es war auch völlig in Ordnung für Anja. Auf der anderen Seite fühlte sie sich schwammig und unfähig zu Small Talk. All ihre Kleider rochen, als hätten sie zu lange in der Waschmaschine gelegen. Sie wählte ein klammes, gelbes Stricktop aus, weiße Leinenhosen und Plateausandalen mit kleinen Plastikblumen zwischen den Zehen, dann sprühte sie ihren ganzen Körper mit Febreze ein.

»Strandklamotte!« rief Louis anerkennend vom Bett herüber, während er eine Textnachricht schrieb. Er trug das Haar zu einem langen Fischgrätenzopf geflochten, eine Lederjacke hing über seinen Schultern. Er zog Jacken nie wirklich an, warf sie sich nur über, ohne die Arme einzufädeln, so dass die Ärmel leer herabbaumelten, als wäre er ein Kleiderständer.

Louis konnte alles tragen. Es war unglaublich. Er konnte Quastenslipper tragen, er konnte Surfshorts tragen, er konnte Nadelstreifenblazer tragen. Traf man ihn das erste Mal, wirkte das befremdlich – die Beliebigkeit der Kleidung, und dass er nicht das superironische Auftreten jener Personen hatte, die üblicherweise solche Klamotten trugen. Er hatte Ironie nicht nötig. Ästhetischer Trumpf war immer der Körper und die unglaubliche Feinheit der Haut auf seiner Stirn, die lange, schmale Nase, das exquisite Grübchen über der Oberlippe, der trapezförmige Torso, diese sehnigen Beine – man vergaß die Klamotten einfach; sie hoben seine Erscheinung nur noch hervor. Tweedjacke, weiße Tennissocken, mit einem Stück Kordel zurückgebundenes Haar. Es war grässlich und angeberisch, und doch wirkten sorgfältig gekleidete Männer neben ihm unbedeutend und prätentiös.

Anja bemühte sich sehr um ein stimmiges Erscheinungsbild. Mit jedem Outfit versuchte sie eine wohlkalkulierte Kombination verschiedener Referenzpunkte zu präsentieren. Gewöhnlich bestimmte ein Thema, das sie von Kopf bis Fuß einhielt, ihre Kleiderwahl. Quietschende Materialien, Grunge, Business Uncasual, Gelb, Markenklamotten, No-Name-Klamotten, Denim mit Seide. Ihr war bewusst, dass sie kleine, scharfe Gesichtszüge hatte, die den extrem akkuraten Koordinaten einer Reliefkarte zu folgen schienen, und ihr Ziel war es, diese Präzision in ihren Outfits zu spiegeln. Louis hatte einmal zu ihr gesagt, dass ihr Gesicht im Profil gesehen merklich inkongruent mit seiner Frontalansicht war, was ihn faszinierte. Es war, als existierte sie in zwei verschiedenen Dimensionen.

Ihre Strandklamotten entsprachen zwar der Wetterlage im Haus, waren jedoch die falsche Wahl für das Wetter in der Welt. Draußen war es plötzlich kühl geworden, die Feuchtigkeit gefror in der Luft und klebte an allem wie ein Hauch Frost. Es wurde spürbar kühler, als sie hinabstiegen, ganz so, als brächte der Berg sein eigenes Mikroklima hervor. In gewisser Hinsicht stimmte das auch; bei dem Versuch, die Temperatur in ihrem Inneren zu regulieren, gaben ihre Häuser wahrscheinlich Hitze ab. Sie waren schon die Hälfte des Berges hinabgestiegen, als Anja wieder zum Haus hochlaufen musste, um sich eine Jacke zu holen. »Mein kleines Modeopfer«, sagte Louis liebevoll zu ihr, als sie am Fuß des Berges wieder zu ihm stieß. Sie bemerkte, dass er die Arme durch die Ärmel seiner Jacke gesteckt hatte.

Vor der Tiki Bar hing Prinz auf einem Barhocker. Sara und Sascha hockten links und rechts von ihm. Anja sah Louis an. Die beiden Event-Tussen hatte sie hier nicht erwartet. Er zuckte mit den Schultern. Sara und Sascha konnten ziemlich nerven – da war Louis ihrer Meinung, doch gerade deswegen konnte Anja nicht verstehen, warum er Prinz so sehr liebte, wo doch in ihren Augen Prinz, Sara und Sascha vom gleichen Schlag waren. Ihr war schon mehrfach der Gedankte gekommen, dass Charaktereigenschaften wie kleinlich, manipulativ und tratschsüchtig Männern vielleicht eher nachgesehen wurden.

Der Boden im Inneren der Tiki Bar war, wie auch der Gehweg vor der Bar, mit einer dünnen Schicht Sand bedeckt. Ace of Base ertönte aus einem Lautsprecher über ihren Köpfen, verzerrte Bässe ließen den Sand leicht erzittern. Anja erklomm einen Hocker und Louis ging nach drinnen, um eine Runde Mai Thais zu bestellen.

In seiner Abwesenheit klickte die Unterhaltung ins Deutsche.

»Das Wetter!«, sagte Sara. »Oder?«

»Sorry«, sagte Sascha zu Anja. »Wir wussten nicht, dass es so kalt werden würde. Der falsche Abend für Tiki.«

»Keine Sorge«, sagte Anja. »In unserem Haus ist es so heiß, dass es draußen fast schon angenehm ist.«

»Kommst du nachher auch mit?«, fragte Sara, wie auf Stichwort.

»Das letzte Mal hatten wir so viel Spaß. Dieses Mal musst du mitkommen«, sagte Sascha, als hätte jemand einen Knopf auf ihrer Stirn betätigt. »Prinz hat Gästelistenplätze.« Man konnte sich darauf verlassen, dass Sara und Sascha ständig über Events redeten, die gerade stattgefunden hatten oder bald stattfinden würden, ohne je Substanzielles darüber zu sagen. Die einfache Tatsache, dass Events stattfanden und dass Sara und/oder Sascha davon wussten, war der Grund, warum sie überhaupt miteinander redeten. Ein weiteres Ziel bestand darin, dich (und möglicherweise einander) in einen konstanten Zustand leichter Panik zu versetzen, denn es könnte ja etwas passieren, in das du nicht eingeweiht warst. Wenn niemand sie aufhielt, trieben sie diese Art von vor- oder nachbereitenden Planungsgesprächen stundenlang, insbesondere, wenn du zu er-kennen gabst, dass es dir unangenehm war.

»Klar«, sagte Anja. »Louis hat gesagt, er will vielleicht noch ins Baron.« Prinz nickte und bestätigte, dass er sie dank der von ihm ergatterten Gästelistenplätze alle reinkriegen könnte.

S und S klatschten anerkennend in die Hände. Sie trugen das gleiche Netzoberteil in unterschiedlichen Farben. Als sie bemerkten, wie Anja von einer zur anderen blickte, sagte Sara: »Ich weiß, so peinlich. Wir haben die heute beide auf der Arbeit bekommen, und haben unsere Outfits nicht abgestimmt, bevor wir aus dem Haus sind.« Die beiden arbeiteten in einem Modeladen in Mitte und machten ihre Master in irgendetwas. Kunstgeschichte. Soziologie. Feminismus? Sara stand das Oberteil besser.

Louis kehrte mit den Drinks zurück und sie war erleichtert. Nun würde er für sie das Gespräch übernehmen. Sie konnte den Stab kreisen lassen, ohne sich verpflichtet zu fühlen, ihn selbst für mindestens eine halbe Stunde zu halten; er konnte an ihrer Stelle lustige Sachen sagen.

Alle erhoben ihre Gläser. Der künstliche Geschmack des Mai Tais erinnerte sie an eine Szene an einer Poolbar, vor langer Zeit. Eva, im Badeanzug mit Zebramuster, ausgestreckt auf einer Liege, ihre Haut gleichmäßig gebräunt und glitzernd, langsam hob und senkte sich ihr Bauch in der Sonne wie das unbehaarte Bäuchlein eines Chihuahuas. Anja fragte sich, wie Eva diese Tiki Bar wohl finden würde. Widerlich, ohne Zweifel.

»Als Teenager«, sagte Prinz gerade, »war ich ständig in dieser Bar.« Er war in Berlin aufgewachsen und erzählte gerne Geschichten, die seine besondere Beziehung zur Stadt hervorhoben. »Ich habe meine ersten Biere hier getrunken«, er sprach weiter, setzte zu einer Geschichte an. Anja hörte nur mit halbem Ohr zu, bekam aber mit, worum es ging.

Eines Tages hatte ein älterer Freund dem jungen Prinz erzählt, dass der Kellner in der Tiki Bar Gras verkaufte, und dass Fanta das Codewort war. Natürlich probierte Prinz es gleich aus. Er schwänzte die Schule, um sicherzugehen, dass er den richtigen Kellner antreffen würde, setzte sich hin und als er nach seiner Bestellung gefragt wurde, sagte er verschwörerisch das Code-Wort. Der Kellner musterte ihn von oben bis unten und schüttelte den Kopf. Haben wir nicht mehr, sagte er. Die Ablehnung machte Prinz so wütend, dass er beschloss, sich auf simple Art zu rächen. Er verbrachte den Rest des Tages damit, an der Bar Cola zu trinken, und als die Bar schloss, ging er in ein Restaurant um die Ecke, um noch mehr Flüssigkeit aufzunehmen. Sieben Stunden lang ging er nicht auf die Toilette. In den frühen Morgenstunden kehrte er an den Ort seiner Erniedrigung zurück und pinkelte in den Sand vor der Bar.

»Ach, deshalb willst du nie hierherkommen?«, fragte Sara, die den Sand zu ihren Füßen beäugte.

»Ich hab die Bar nicht mit Absicht gemieden. Hat sich danach nur immer komisch angefühlt.«

»Dein Stolz wurde verletzt«, sagte Louis. »Bei Teenagern kann Erniedrigung sehr traumatisierend wirken. Das verstehe ich gut.«

»Hey«, sagte Sara. »Wie wär’s, wenn wir jetzt Fanta bestellen? Meinst du, das funktioniert noch?«

»Definitiv nicht«, sagte Prinz. »Berlin hat sich verändert.«

»Amen«, sagte Louis. Alle schüttelten in Andacht ihre Köpfe.

»Aber was kommt als nächstes?«, fragte Sascha.

»Ich habe gehört Dublin«, sagte Sara. »Oder Vilnius?«

»Auf keinen Fall«, sagte Louis. Er legte den Arm um Anja und küsste sie auf die Wange. »Das hier ist die Endstation. Von hier geht’s nirgendwo mehr hin.«

finstere sonne, endgültige nacht/schauder (-1º )

Sie wollten ein Taxi nehmen, doch sie waren zu fünft und es war Freitagabend, bei den auf Angebot und Nachfrage abgestimmten Preisen würde sie ein Großraumtaxi so viel kosten wie drei Runden Drinks, also ließen sie davon ab und gingen zur Bushaltestelle, wo sie sich in zwei Grüppchen gedrängt in den Wind stellten: Jungs und Mädchen.

Sara trat näher und streichelte Anja über den Arm. »Ist mit Louis alles in Ordnung?« Sie triefte vor Anteilnahme. Sara warf bedeutungsvolle Blicke zu Louis und Prinz hinüber, die gerade in ein blökendes Gelächter ausbrachen.

 

»Es geht ihm gut«, sagte Anja. »Er kommt wirklich klar. Danke, dass du fragst.« Sie war sich nicht sicher, ob sie für die Unterbrechung des Partytalks dankbar sein oder sich angegriffen fühlen sollte.

»Er muss sooooo traurig sein«, sagte Sara. »Gibt es irgendetwas, das wir tun können?« Beide hatten eine Hand auf ihren Arm gelegt. Ihre Gesichter wirkten begierig, nicht zu helfen, sondern Informationen zu sammeln, selbst wenn es nur Informationen in Form einer emotionalen Reaktion waren. Anja wich zurück. Sie spürte, wie sie immer unwichtiger wurde, nichts weiter als ein Anhängsel. Tod als Tratsch, Tod als Währung.

»Macht euch keine Sorgen, er will einfach nur zu seinem normalen Leben zurückkehren«, sagte sie. »Ihr seid so lieb. Wirklich, macht euch keine Sorgen.«

Vorm Baron gingen sie an der Schlange vorbei, ließen die stundenlange Warterei aus, zahlten aber trotzdem Eintritt. Der Türsteher war besonders unfreundlich, auf fast schon absurde Art und Weise. Er betrachtete die E-Mail auf dem Bildschirm von Prinz’ Telefon, glich sie mit der Liste auf dem leuchtenden Tablet vor ihm ab, bevor er sie hereinwinkte. Anja konzentrierte sich auf das vertraute Stacheldraht-Tattoo, das die Fingergelenke der linken Hand des Türstehers umrankte. Eine Spinne kroch das Handgelenk der anderen Hand hoch.

Das Baron war vor einigen Jahren umgebaut worden, und sah nun im Inneren wie eine Höhle aus, samt Tropfsteinen, die von der Decke hingen, in einigen Ecken roch es nach Schwefel, und womöglich nicht nach künstlichem. Als sie drinnen waren, teilten sich Louis und Anja an die Bar gelehnt genüsslich eine Zigarette. Auf dem Berg war das Rauchen verboten. Leute zogen an ihnen vorbei, lächelten, manche hielten an, um ein paar Worte zu wechseln. Louis legte seine Hand auf Anjas Rücken, und sie besprachen flüsternd, wen sie sahen und was die Leute trugen.

»Ich fühle mich wie ein Schwamm«, sagte Anja, »Völlig durchweicht.«

»Der Körper ist eine poröse Schnittstelle«, sagte Louis und sie musste lachen, auch wenn sie sich nicht erinnerte, woher dieses Zitat stammte.

Es schien, als kämen alle, mit denen sie sprachen, gerade von einer Eröffnung, von der Anja nichts wusste, ein Verlag, der zur Fin-Start Gruppe gehörte, hatte eine neue Ebook-Reihe gelauncht.

Prozessbasierter Roman, hörte sie jemanden sagen. Vermögenswerte sind um 0,07 Prozent gestiegen. Prüfung im dritten Quartal.

Anja schrieb Dam mehrere Textnachrichten, sie wünschte sich, er wäre hier, aber er antwortete, dass er heute Abend mit den Schwulen unterwegs war, sorry. Sie war auf sich allein gestellt.

Prinz schlich sich von hinten an sie heran und flüsterte etwas in Louis’ Ohr, der wiederum den Arm um Anja legte und in Richtung Toiletten zeigte.

Die Drogen kamen in Zäpfchenform – nicht gerade geeignet für die gesellige Einnahme, aber die drei drängten sich trotzdem zusammen in eine Kabine, kichernd griffen Louis und Anja einander in die Unterwäsche.

Prinz verdrehte die Augen. »Nichts wie raus hier, Schneewittchen tritt auf.«

Die drei stolperten aus der Toilette und drängten sich durch die Menschenmenge, die sich um Schneewittchen gebildet hatte, der auf einem weißen Sockel hockte. Er trug einen Wikingerhelm, an dessen Rückseite drei blonde Plastikzöpfe geheftet waren, und über seiner Schulter hing eine E-Gitarre wie ein nutzloser, verkümmerter Arm. Er heulte eine Country Ballade in ein Handmikrofon.

Schneewittchen war Louis’ Freund Andy. Dieses Jahr lief sein Vertrag mit O’Reilly aus, und wahrscheinlich würde er sofort bei einer anderen Firma sehr weit oben einstiegen. Laut neuester Gerüchte bei Fin-Start. Bei O’Reilly hatte Andys Gegenwart vor allem verdeutlicht, wie hoffnungslos realitätsfremd die Firma geworden war. Mit seiner wohlkalkulierten Verachtung gegenüber Regeln stach er wie eine Glitzerpaillette aus dem Kader von an Eliteuniversitäten ausgebildeten Beratern mit ihren gläsernen Blicken hervor, Kids, die nie gelernt hatten, dass nur ihre Verträge zu erfüllen sie nicht weiterbringen würde – du musstest subversiv sein oder die Dinge etwas durcheinanderbringen. Einfluss nehmen eben.

Nebenbei kultivierte Andy als Teil seiner Influencer Marke eine Identität als Late-Night-Performer. Er verschaffte dem Publikum eine wohlverdiente Pause zwischen den DJ-Sets, ähnlich der Truppe glitzernder Turnerinnen, die zwischen den beiden Hälften eines Footballspiels herumspringen. Er gab Disney-Musicals zum Besten, oder Kabarett, konkrete Poesie, was auch immer zum Abend passte. Wahrscheinlich hatte Andy aufgrund seiner ständigen Präsenz auf Partys die obersten Sprossen der Erfolgsleiter für lokale Berühmtheiten erklommen – er hatte sich erstaunlicherweise einen gewissen Ruf auch außerhalb Berlins zugelegt. Darin bestand das ultimative Ziel von allen, die einen Vertrag mit Sitz in Berlin angenommen hatten. Um als erfolgreich based in Berlin zu gelten, musstest du an anderen Orten berühmt sein.

Die Menschenmenge wurde immer größer und die Leute riefen Andy Lieder zu, die er spielen sollte. »‘This Kiss’!« Anja realisierte, dass Louis es war, der das rief. War das der Titel eines Country Liedes? Aber Andy schien keine Wünsche entgegenzunehmen. Er hielt sich an sein Repertoire. Sie versuchte, den Text zu verstehen, aber es fiel ihr schwer, sich auf die Worte zu konzentrieren. Sie konnte ihr Hören kaum noch von ihrem Sehen trennen. Die beiden Sinne kamen einander in die Quere. Erst wurde Andys Gesicht scharf, dann seine Stimme. Sie bemerkte einen O’Reilly-Aufkleber an seinem Arm. Der Arm winkte im Rhythmus der Musik, doch die Bewegung schien die Klänge voranzutreiben, anstatt ihnen zu folgen. Sie spürte, dass sie wie eine Fledermaus echolotete.

Louis murmelte ihr ins Ohr: »Wusstest du, dass diese Bar früher Kit n’Caboodle’s Mix-Up Joint hieß? Als das hier noch Ostberlin war.«

Sie schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Optionale Optionen, variable Variablen. Ohne Stimme fragte sie ihn Worte, seine sanften Augen ihren ganz nahe. Bedeutsame Angebote klebten auf ihrer Zunge. Sollen wir? Aber wie? Sie griff nach ihm, um sicherzugehen, dass er noch da war. Er zappelte und starrte hingerissen zu Andy hinauf. Ihre Knie waren wie Eigengewichte. Sie wiegten sich weiterhin im Einklang, als bildeten ihre Gelenke die Kugeln zweier Pendel. Ihr Arschloch brannte, und sie fragte sich, ob das irgendwie auffällig war, ob andere Menschen bemerkten, dass sie darüber nachdachte. Sie sah Louis an und fragte sich, ob er so herumzappelte, weil er über seinen eigenen Arsch nachdachte.

Als sie erneut zu ihm hinübersah, war er verschwunden, also schlenderte sie zurück zur Bar, legte einen Unterarm auf das klebrige Glas und ihre Stirn auf den klebrigen Unterarm. Sie spürte einen Stupser in die Seite, bewegte sich aber nicht, dachte nur vage daran, dass sie sich morgen für diesen Moment der Selbsterkenntnis schämen würde, den Moment, in dem sie realisierte, wie high sie wirklich war. Der Gedanke zog vorüber. Das war der Grund, warum sie diese lila Päckchen mit Detox Tee gekauft hatte, für Morgen wie den morgigen. »Is’ cool«, sagte sie, zu niemandem außer sich selbst, und hob dabei kaum den Kopf.

Sara stand nur wenige Schritte entfernt. »Ich glaube fest dran!«, rief sie Anja zu. Sara kam näher und ließ sich auf sie fallen, passte sich ihrer zusammengesunkenen Form an wie ein Strom aus Lava. Gerade als Anja sich fragte, ob Sara eingeschlafen war, flüsterte sie: »Er macht das mit Absicht, ich weiß es.«

»Wer?«

»Er taucht auf, wenn ich high bin, spät nachts, wenn ich völlig, wenn ich, du weißt schon, so wie jetzt.«

»Wer, Howard?«

Sara hob den Kopf, um Anja anzusehen, und gab ihr einen Klaps.

»Mahatma, natürlich.« Sie richtete sich auf und warf einen verzweifelten Blick zum anderen Ende der Bar. Dort stand Mahatma, ein rotes Bandana um den Kopf, und unterhielt sich mit irgendeinem Mädchen.

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