Oval

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OVAL

ELVIA WILK

aus dem Amerikanischen von Julia Wolf

Das vorliegende Werk ist reine Fiktion. Sämtliche Figuren, Organisationen und Handlungen, die in diesem Roman dargestellt werden, sind frei erfunden.

Das Original erschien unter dem Titel Oval

bei Soft Skull Press, New York.

© 2019 by Elvia Wilk

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Julia Wolf

Lektorat: Christian Ruzicska,

unter Mitarbeit von Stela Knezevic und Jannik Schäfer

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin

Satz: Marco Stölk, Berlin

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-96639-030-9

eISBN 978-3-96639-031-6

Für meine Freunde

Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

ZWEITER TEIL

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

ERSTER TEIL

Geraten Menschen, von denen konventioneller Weise angenommen wird, dass sie einander lieben, in Streit, wünschte ich, sie würden zueinander sagen: »Etwas weniger Liebe, bitte, und etwas mehr Anstand.«

Kurt Vonnegut

1

Nach dem Tod übernimmt die Bürokratie. Vorbereitungen für die Beerdigung müssen getroffen, Konten aufgelöst, Versicherungen ausbezahlt werden. Unbezahlte Steuern. Unbeglichene Schuld. Manche Menschen empfinden die Flut an Papierkram als eine zusätzliche, unerträgliche Verantwortung. Anderen hilft der Ansturm, ihre Trauer zu ersticken. Louis, hatte Anja entschieden, gehörte eindeutig zur letzteren Sorte.

Er redete von nichts anderem mehr als Bürokratie. Während er weg war, bestand die einzige Information, die er ihr zukommen ließ, in einer Reihe von Nachrichten, die die logistischen Vorgänge postmortem schilderten: Er war beim Anwalt, schon wieder. Er war beim Kistenpacken. Dann war er unterwegs, mehr Sprite und Kräcker für die Rentner kaufen. Emoji, Emoji. Er gab der Zeitverschiebung die Schuld, dass er keinen Moment fand, um zu telefonieren.

Das letzte Mal hatte sie seine Stimme gehört, als er sie zwei Wochen zuvor aus der Abflughalle des Flughafens Berlin-Brandenburg angerufen hatte, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. Seine Mutter, tot. Seine Stimme hatte so unbekümmert geklungen, dass sie ihn gefragt hatte, ob er Witze machte. Offenbar hatte er einen Flug in die USA gebucht und war von der Arbeit direkt zum Flughafen gefahren – und all das, ohne seine Freundin vorher anzurufen. Anja war sicher, dass er unter Schock stand. Sie war es, die weinend zusammengebrochen war, als er angerufen hatte.

Er hatte ihr erst mitgeteilt, dass er nach Berlin zurückkommen würde, als er schon am Flughafen von Indianapolis war. Eine SMS mit nichts weiter als seiner Ankunftszeit und Herzchen zwischen den Ziffern.

Anja wartete auf ihn, als sein Flieger am frühen Nachmittag landete. Die Ankunftshalle mit ihrer Glasdecke fühlte sich wie ein beengtes Gewächshaus oder das Innere eines leeren Parfumflakons an, in dem ein fauliger Dunst festhing. Um sie herum fielen sich Familienmitglieder in die Arme, Erasmus-Studenten kehrten von ihren Auslandsaufenthalten zurück, Partytouristen ohne Gepäck suchten nach dem Bus, der sie bis kurz vor die Türen eines Clubs bringen würde.

Anja erschrak, wie schlecht Louis aussah, als er aus der Menschenmasse hervortrat. Sein Äußeres stand im Gegensatz zu der Nonchalance seiner Textnachrichten; er sah elend aus. Er machte keine Witze, um seinen Zustand zu überspielen, umarmte sie nur schwach, nahm ihre Hand und folgte ihr zum Taxistand.

Auf der Rückbank des Taxis lehnte er den Kopf an ihre Schulter und zeigte ihr auf dem iPad, von dem er sagte, er hätte es geerbt, ein Spiel, bei dem Früchte durch die Gegend geschleudert wurden. Das Tablet schien der einzige neue Gegenstand zu sein, mit dem er heimgekehrt war.

Der Fahrer setzte sie am Fuß von The Berg ab und entschuldigte sich: Es war zu schlammig, als dass er hätte weiterfahren können. Die Seilbahn, die sie eigentlich hinaufbefördern sollte, siechte noch immer leblos im Dreck neben dem Pfad, wo sie schon gelegen hatte, als sie eingezogen waren. Anja half Louis, seinen Rollkoffer den gewundenen Pfad hinauf zu schleppen, wuchtete ihn über größere Steine und Pfützen. Als sie schließlich beim Haus ankamen, waren sie beide durchgeschwitzt. Anjas graues Lycra-Shirt hatte Salzränder unter den Achseln.

»Wie das Ufer des Toten Meers«, sagte sie.

Louis, völlig außer Atem, stützte sich auf seine Knie. »Hintern aus Stahl«, sagte er, wie er es immer tat, wenn sie oben angekommen waren. Der vertraute Refrain beruhigte sie nicht. Er bereitete ihr Unbehagen. Ein Echo aus dem Uncanny Valley.

Während Anja nach ihren Schlüsseln wühlte, wischte Louis mit der Hand über die feuchte Holzmaserung der Eingangstür. »Sie schwitzt auch«, sagte er.

Das Haus hatte bereits kurz nach ihrem Einzug das weibliche Pronomen erhalten. Irgendwas aus einem Fernsehfilm, den Louis als Kind gesehen hatte, in dem ein Smart-Home verrückt spielt.

Anja nickte. »Hat sie schon die ganze Woche über.« Im Inneren des Hauses war es so feucht, dass sich auf allen Oberflächen Kondenswasser sammelte. Mittlerweile hatte sich das unbehandelte Holz damit vollgesogen. »Die Fensterrahmen sind zu aufgedunsen«, sagte sie. »Ich kann die Fenster nicht mehr öffnen, um die Feuchtigkeit rauszulassen.«

Er lachte. »Menopause? Aber sie ist noch so jung.«

Anja drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür mit der Hüfte auf. »Nein, sie ist nur nachtragend. Sie ist traurig, dass du weg warst.«

Es war zu heiß zum Schlafen, Anja wachte auf, bevor es draußen hell wurde, und als sie sich umdrehte, fand sie Louis ausgestreckt auf dem Bauch liegend vor. Er war nackt, hielt das Tablet in seine Armbeuge gekuschelt und stach auf Zombies ein, die über den Bildschirm trieben. Sie verließ das Bett, wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab, das zusammengeknüllt auf der Kommode lag, fand ein T-Shirt, und tastete sich durch den Flur, während sie sich das Shirt über den Kopf zog. Der poröse Boden war kühl und rutschig; sie stützte sich mit dem Handballen an der Wand ab.

In der Küche kniete sie sich vor das Waschbecken und zog das Hauptüberwachungssystem hervor. Es sollte in Echtzeit die Temperaturstatistik des Hauses an die unschönen Tech-Uhren, die man ihnen gegeben hatte, übermitteln, aber die Metallverkleidung der Schublade blockierte das Signal. Sie hatten darüber diskutiert, die Verkleidung der Schublade ganz zu entfernen, um das Signal durchzulassen, doch Anja hatte sich Wirbelstürme im Inneren des Hauses ausgemalt und beschlossen, dass sie nicht selbst daran herumbasteln sollten. Der Vertrag, den sie vor ihrem Einzug unterschrieben hatte, war hinsichtlich eigenmächtiger Veränderungen an der Technik eindeutig. Schließlich hatten sie es aufgegeben, die Uhren zu tragen und auch darüber zu sprechen.

Sie spähte einen Moment lang auf die matte Anzeige und seufzte. Dann knallte sie die Schublade wieder zu, tappte den Flur entlang zurück, beinahe wäre sie ausgerutscht, bevor sie den Durchgang zum Schlafzimmer erreichte.

Sie posierte mit vorgestreckter Hüfte im Türrahmen, ein Carrie-Bradshaw-Move, den sie irgendwann mal aus Spaß vollführt hatte, der aber inzwischen seinen Bezug zum Original verloren hatte und zum Reflex geworden war. »Die Anzeige besagt, dass unter dem Bodenbelag zu viel Abfall liegt und der Kompost sich zu schnell zersetzt. Hier drinnen ist es heiß, aber der Boden fühlt sich kühl an, finde ich. Sollten wir nicht die Hitze aufsteigen spüren?«

 

Er lachte und tippte immer noch auf dem kleinen Bildschirm herum. »Zu viel Abfall? Du warst zwei Wochen lang ohne mich hier.«

»Ich hatte keine Probleme mit dem internen Abflusssystem. Läuft alles glatt.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Seite ihrer Hüfte.

»Knackig.« Er drückte den runden Knopf an seinem Tablet, schob es unters Kissen unter seinem Kopf und verdrehte den Hals in ihre Richtung. »Wir können also nicht deiner Verdauung die Schuld geben?«

Sie nickte. »Ich rufe Howard in ein paar Stunden an.« Sie kletterte neben ihn ins Bett. Das Laken, IKEA blau, war an zwei länglichen Stellen schweißdurchnässt: Hüfte und Schultern. Sie vermied es, sich auf ihren eigenen Abdruck zu legen und rollte sich halb auf ihn.

Er musterte ihr Gesicht. Sie musterte seins. Er sah aus wie der liebe, normale Louis. Sie runzelte die Stirn.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

»Was?« Es wäre an ihr gewesen, diese Frage zu stellen. Sie wich einige Zentimeter mit ihrem Gesicht zurück. »Bist du okay?«

»Mir geht es gut.«

»Gestern hast du nicht gut gewirkt.« Sie hielt inne, um ihre Aussage von der Beobachtung zur Beurteilung gleiten zu lassen. Er nickte. Das war ein gutes Zeichen. Selbsterkenntnis.

»Ich war nur erschöpft«, sagte er, und zuckte unter ihr mit den Schultern. Das war kein gutes Zeichen. »Hey«, protestierte er. »Guck mich nicht so an.«

»Ich gucke dich gar nicht so an.«

»Tust du wohl, ’n bisschen.«

»Das sind bloß der Liebe heiße Strahlen.«

»Okay, verbrenn mich nur nicht.«

Sie suchte in seinem Gesicht nach Spuren der Traurigkeit vom Vortag. Gestern war Sonntag gewesen. Der Tag, an dem seine Mutter normalerweise anrief.

»Ich kann nicht wieder einschlafen«, sagte er. »Ich hab Jetlag.« Er deutete in Richtung Dusche. »Sollen wir den Tag beginnen?«

Sie setzte sich neben ihm auf und zog die Knie hoch, um die Schweißflecken auf dem Laken nicht zu berühren. »Ich verstehe nie, was du damit meinst, wenn du das sagst. Wir beginnen den Tag nicht.«

»Wer denn sonst?«

»Er beginnt einfach. Die Sonne, die kosmische Rotation.«

»Mein Tag beginnt in mir.« Er zeigte auf seinen Bauch. »Interne Rotation, der innere Kosmos.« Er stand auf und ging grinsend Richtung Badezimmer.

»Eklig«, sagte Anja. Sie lachte. »Seitdem wir in diesem Haus leben, reden wir viel zu offen über unsere Scheiße.«

Um acht Uhr morgens ging Howard nicht an sein Telefon, also schrieb sie ihm eine Mail, auf die er umgehend antwortete. Nein, vor elf werde er nicht sprechen können, aber warum komme sie auf dem Weg ins Labor nicht einfach bei ihm zuhause vorbei? Er wolle ohnehin mit ihr über die Arbeit reden. In der Zwischenzeit werde er jemanden vorbeischicken, der die Ausdünstungssituation des Hauses checken würde. Er unterschrieb seine Mail mit »Cheers« und sie konnte nicht entschlüsseln, wie sarkastisch das gemeint war.

Louis und sie tranken Smoothies am Küchentresen. Auch wenn die Küche etwas zu sehr mit ihren nützlichen Einrichtungen und innovativen Apparaturen prahlte, war sie doch bei weitem der schönste Raum im Haus. Durch die Reihe Fenster an den beiden Wänden, die nach Osten zeigten, drang genügend Helligkeit, sodass sie die meiste Zeit des Tages auf künstliche Beleuchtung verzichten konnten, und die Arbeitsflächen aus recyceltem Plastik-plus-irgendeinem-anderen-Stoff reflektierten erfolgreich die Sonnenstrahlen bei minimaler Grelle und maximaler Erhellung, wie es die Designer vorgesehen hatten.

»Lassen sie dich nicht noch ein paar Tage freinehmen?« Anja schenkte Louis Smoothie nach. Er war nochmals eingeschlafen, nachdem er geduscht hatte, und in einer anderen Zeitzone erwacht, distanziert und unbeteiligt. Jet-Lag – wenn die Seele nicht mitkommt.

»Doch, natürlich. Sie sagen ständig, ich soll noch eine Woche freinehmen, aber was sonst sollte ich mit meiner Zeit anstellen?«

»Ich weiß nicht. Schlafen? Das, was passiert ist, verarbeiten? Eine Auszeit nehmen?«

»Ich brauche Ablenkung. Und da ist gerade viel los. Ein großes Projekt steht an.«

»Bist du sicher?« Sie streckte die Hand aus und drückte seinen Nacken.

»Im Ernst, mir geht’s gut.« Er nahm die Hand. »Alles, was ich brauche, ist Small Talk, Organisatorisches, einfache Arbeiten.«

Sie lächelte. »Ein typischer Tag in der Kreativindustrie.«

»Ein einzigartiges Privileg. Die Maloche der Elite.«

Sie stellte den Mixer in die Spüle und drehte das Wasser auf, um ihn auszuspülen. Das Wasser kam in unregelmäßigen Schüben aus dem Hahn.

»Hast du schon mal richtig gearbeitet, mit deinen Händen?«

»Klar.« Er fuhr mit dem Finger über den Rand seines Glases und leckte ihn ab. »Ich habe einen Sommer lang in San Francisco auf einer Baustelle gearbeitet. Während der Uni.«

»Hast du manchmal Lust, das wieder zu machen?«

»Ständig. Ich könnte meinen idealistischen Job kündigen und mich um das Nachhaltigkeitsfiasko kümmern, in dem wir hier leben. Was Praktisches machen. Hausmann und Umweltschützer werden.«

»Und ich müsste die Kohle ranschaffen? Aber ich verdiene nicht genug.«

»Dann müsstest du eben deinen Treuhand-Fun anzapfen.«

Sie schlug auf den Hahn, für den Fall, dass er verstopft war. War er nicht. Der Wasserstrahl verebbte zu einem Tröpfeln. »Von wegen Fun. Merkst du, dass Leute wie du das immer ansprechen?«

Sie sah ihn über die Kücheninsel hinweg an. Das vertraute Geplänkel schien ihn zu beruhigen. Im Laufe der Zeit war sie zu einer Expertin geworden in diesem Spiel aus endlosen Kontern und Gegenkontern und Wortspielen, eine typisch amerikanische, spiralförmige Art der Gesprächsführung, in der das Vergnügen rein semantischer Natur und die Bedeutung einer Aussage stets ihrer Formulierung untergeordnet war.

Louis tat eine regelmäßige Dosis Geplänkel gut, und im Verlauf ihrer Beziehung, während sie das Spiel zu spielen lernte, hatte sie unerwarteter Weise festgestellt, dass es ihr auch guttat. Zunächst hatte sie es noch, typisch europäisch, für oberflächlichen Small Talk gehalten, aber im Laufe der Zeit hatte sie sich überzeugen lassen, dass das Geplänkel nicht nur harmlos war, sondern auch eine wichtige Art von Meta-Inhalt darstellte. Diese Plaudereien machten die emotionale Bindung zwischen ihnen nicht zunichte, sie verstärkten sie noch. Ihr Englisch hatte während dieses Prozesses seinen Feinschliff erhalten.

Er stand auf und legte seine Hand an ihr Gesicht, sodass sie die Wange in ihr ruhen lassen konnte. »Wenigstens weißt du, dass ich dich nicht nur deines Geldes wegen liebe, du gibst es ja nicht einmal aus.«

Sie verdrehte die Augen. Dieser alte Scherz hatte etliche Stadien durchlaufen: Provokation > ein wenig beleidigend, aber lustig > tatsächlich beleidigend, weil übermäßig strapaziert > zulässig > liebenswertes Relikt der gemeinsamen Vergangenheit. War der Rückgriff auf alte Insiderwitze eine gute Sache?

»Howard hat mich gebeten, heute Morgen direkt zu ihm zu kommen, anstatt zur Arbeit zu fahren«, sagte sie.

»Schräg. Glaubst du, ich sollte dich begleiten? Geht es um das Haus?«

»Ich glaube, es ist in Ordnung. Wahrscheinlich will er nur, dass ich eeeendlich aufhöre, mich ständig zu beschweren«, sagte sie, einen übertriebenen britischen Akzent anschlagend.

Vergnügt verließ Louis an diesem Morgen das Haus und ließ Anja zurück, die, über ihren halb ausgetrunkenen Smoothie gebeugt, auf den Boden des Glases herabgesunkene Avocadobrocken beäugte, ihr war übel. Sie ermahnte sich, nicht ständig über sein Verhalten nachzudenken. Doch er wirkte so unvorstellbar normal, dass dies nur eine Abnormalität darstellen konnte. An ihm war heute nicht die leiseste Spur von Trauer zu bemerken. Das fahle Gesicht von gestern war verschwunden, stattdessen sah er leicht verquollen aus, rotbackig und frisch. Das war unerhört, fast schon verletzend. All die schlaflosen Nächte, in denen sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte, aus Loyalität zu ihm deprimiert gewesen war, sich im Bett gewälzt hatte. Immer wieder hatte sie ihre eigenen Eltern angerufen, um sicherzugehen, dass sie noch am Leben waren. Es war offensichtlich, dass Anja dabei war, sich etwas anzueignen, und das musste aufhören.

Scheiß auf trauermantra.com und beistandsgruppe.de, dachte sie dann – es gab sehr wohl einen falschen Umgang mit Gefühlen. Angenommen, es handelte sich bei Louis’ Verhalten nur um Getue, war es dann nicht ein sehr schlechtes Zeichen, dass er so tat, als wäre alles ganz normal? Sollte sie sich auf kranke Scheiße in der nahen Zukunft gefasst machen? Oder konnte er tatsächlich genau so sein wie vorher, wie es den Anschein machte? Was war vorher?

Ein Mal in diesem Vorher hatte Louis bei einer Dinner Party eine Geschichte nacherzählt, die er im New Yorker gelesen hatte. Der Artikel war eine Enthüllungsgeschichte über russische Gefängnisse in der sogenannten »Schwarzen Zone«, einem gesetzlosen Bereich der Strafanstalt, in der es wenig Überwachung von oben gab und die Gefangenen sich im Grunde genommen selbst regierten. In der Schwarzen Zone hatten sich strenge Sitten entwickelt, die Neuankömmlinge lernen mussten, wenn sie nicht abgestochen werden wollten. Die meisten Verhaltensregeln waren ursprünglich aus praktischen Gründen geschaffen worden, mittlerweile hatten sie sich aber zu willkürlichen Gesetzen verkehrt, deren einzige Funktion darin bestand, ein Gefühl von sozialem Zusammenhalt durchzusetzen. Zum Beispiel galt eines der größten Tabus dem Wegschmeißen von verschimmelten Brotresten. In den frühen Jahren der Schwarzen Zone, in denen Nahrungsknappheit geherrscht hatte, war es notwendig gewesen, jeden Krümel zu bewahren. Heutzutage versorgte ein florierender Schwarzmarkt die Insassen mit Champagner und Kaviar – und doch blieb das Tabu, Brot zu verschwenden, bestehen. Wer vergammeltes Essen wegschmiss, gab sich als Außenseiter zu erkennen, als jemand, der sich der Geschichte von Mangel und Entbehrung nicht bewusst war, aus der heraus sich die Regeln entwickelt hatten. In Hinsicht auf Brot, erklärte Louis, war die Kultur der Schwarzen Zone eine Kultur der Zugehörigkeit durch Wertschätzung.

So ähnlich verhielt es sich auch in Anjas und Louis’ sechs Haushalte umfassender Ökosiedlung, oder Ökokolonie, oder Kolonoskopie, einem Sortiment experimenteller Architektur, angehäuft in etwa tausend Meter Höhe am Hang von The Berg. Das Zero-Waste-Prinzip, nach dem alle Bewohner und Bewohnerinnen selbst für das interne Ökosystem und Mikroklima ihrer Häuser verantwortlich waren, wurde eher durch den internalisierten Druck imaginierter Regeln in Kraft gesetzt als durch tatsächliche Überwachung von Fin-Start Corp. Die winzigen roten Lichter der Kameras, die in jedem Zimmer blinkten, waren eine Art Hinweis auf Fin-Starts Präsenz – und die abstrakte Idee von Überwachung –, aber Anja war sich sicher, dass niemand sie tatsächlich beobachtete. Die Klausel im Vertrag war eindeutig: Hier spionierte einzig und allein ein maschinell sehender Algorithmus, dessen Aufgabe darin bestand, Anomalien und Worst-Case-Szenarios anzuzeigen. Tornados. Feuer.

Dieser Mangel an expliziten Anweisungen hatte bereits für einige Verwirrung gesorgt. Als sie frisch eingezogen waren, war Anja jeden Abend mit einem Rucksack voller Bioabfälle und anderem Müll, den sie tagsüber angesammelt hatte, den Berg hinaufgeklettert, um ihn in die Müllentsorgung zu kippen und somit dem Recyclingsystem ihren Gesamtnettomüll zuzuführen. Es war ihr Müll, egal, wo sie ihn produzierte, und sie wollte damit ehrlich umgehen. Doch der Überschuss an Verpackungen, Schalen und Taschentüchern hatte den Abfluss verstopft und die Toilette zum Überlaufen gebracht; Anja verbrauchte weitaus mehr Materie, als das Haus verschwinden lassen konnte.

»Könntest du das Zeug nicht irgendwo anders wegschmeißen?« fragte Louis sie, während er Klumpen eines übelriechenden Papierbreis aus dem Abfluss in der Küche schöpfte. Er zog einen langen, dicken Streifen blau-braunen Papiers hervor. »Was ist das, eine Einkaufstasche aus der Mall?«

»Ich habe sie nur benutzt, um meinen Müll zu transportieren. Mein Gott, ist ja nicht so, als hätte ich in der Mall eingekauft.«

 

Er starrte sie an, den nassen Streifen hochhaltend. »Du hast eine Tüte aus einem dieser Fast-Fashion-Läden mit nach Hause gebracht, die du nur gebraucht hast, um deinen anderen Müll darin zu transportieren, und hast sie dann in unseren Abfluss gekippt.« »Ja, stimmt. Ich habe die Tüte benutzt. Ergo ist sie auch Teil meiner Abfallproduktion.«

Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, das mit dem Müll gilt nur, wenn du zuhause auf dem Berg bist.«

»Nein, ich glaube nicht, dass das räumlich begrenzt ist. Es geht um alles, was du, als menschlicher Konsument, in deinem täglichen Leben wegwirfst. Der Punkt besteht doch genau darin, unser Tun vollständig zu kompensieren.« Sie bemerkte, dass sie ihre Hände wie zur Betonung zusammengefaltet hatte. Ohne es zu wollen, blickte sie hoch zur Stelle über den Schränken, wo sich die Kamera befand.

»Richtig, das steht auf der Webseite. Aber alle wissen, dass wir es nur so aussehen lassen sollen, als würde das Haus funktionieren. Wir versuchen zu beweisen, dass es möglich ist, nachhaltig zu leben und nicht so ein Theater darum zu machen. Das bedeutet, dass du gerade nicht deinen Müll mit dir herumtragen sollst!«

Anja löste ihre Hände und faltete sie erneut. »Aber den Müll an einem anderen Ort zu entsorgen, ist Schummelei«, sagte sie. »Wenn das Haus nicht mit all meinem Müll klarkommt, dann haben die Designer ihren Job nicht richtig gemacht und sollten die Sache auch beheben.«

»Die haben ganz offensichtlich ihren Job nicht richtig gemacht, Anja. Nichts funktioniert in diesem verdammten Haus. Ich werde nicht jeden Tag meinen ganzen Müll heimschleppen. Das ist einfach nicht realistisch – willst du, dass ich die Verpackung von meinem Mittagessen aufhebe? Wo hört das auf? Soll ich etwa mit dem Scheißen warten, bis ich nach Hause komme?«

»Warte mal, wieso ist dein Mittagessen verpackt? Ich habe dir eine Lunchbox gekauft!«

Am Ende hatte sich Louis’ praktisches Wesen durchgesetzt, wie es das gerne mal tat. Er hatte recht: Anja konnte mit dem Scheißen nicht warten, bis sie zuhause war, und sie konnte auch nicht den Überblick behalten über alles, was sie verbrauchte. Allein der Versuch hatte zu einem ontologischen Zusammenbruch auf der Mikroebene ihres Alltags geführt. Waren Wimpern und Hautzellen gleichzusetzen mit Haargummis und Kaffeebechern? Waren Einweg-Kaffeebecher gleichzusetzen mit einem Becher, der mit Grauwasser aus dem Haus gereinigt werden musste, das hochzupumpen wieder Energie verbrauchte? Sie konnte sich nicht dazu durchringen, die Nachbarn zu fragen, wie sie die Dinge handhabten, überzeugt davon, dass alle automatisch die Regeln verstanden. Ihre Verwirrung offenzulegen, hätte geheißen, alles offenzulegen, einschließlich ihrer Zweifel.

Das war erst wenige Monate her, doch neuerdings, da immer mehr Teile des Systems verstopften oder ins Stocken gerieten, hatten die beiden angefangen, das genaue Gegenteil von dem zu praktizieren, was Anja ursprünglich getan hatte: Sie trugen ihren Müll den Berg hinunter und entsorgten ihn klammheimlich in den orangefarbenen Mülleimern am Straßenrand. Zunächst hatte Anja sich geschämt, den Hang mit einem Rucksack, vollgestopft mit einem vom Laptop plattgedrückten Bündel Müll, herunterzumarschieren, doch Louis versicherte ihr, dass sie nur taten, was von ihnen verlangt wurde: Sie verliehen der Nachhaltigkeit ein gutes, sauberes Gesicht. Irgendwann fühlte es sich genauso verantwortungsbewusst an, den Müll vom Berg hinunterzubringen, wie es sich zuvor angefühlt hatte, ihn hinaufzutragen.