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Sie gab sich Selbstzweifeln hin, verdeckte in seiner Gegenwart ihre Arme, ihre Waden, ihre Brüste, wurde sprunghaft, und sorgte für immer peinlichere Szenen. Am Tiefpunkt ihrer Beziehung beschuldigte sie ihn, beim Sex immer nach ihren fettesten Körperpartien zu greifen. Er sagte: »Selbstverständlich, die mag ich am liebsten«, und das war dann das Ende.

Louis hingegen wurde von Eva akzeptiert. »Ich hab ein Bild von ihm im Internet gefunden«, sagte sie. »Der ist heiß. Siehst du, es hat nur einen Monat gedauert, bis du einen Besseren gefunden hast. Du solltest eine höhere Meinung von dir selbst haben.«

Anja beschloss, in diesen Angelegenheiten nicht mehr auf Eva zu hören. Sie hatte das schon oft beschlossen und war immer wieder eingeknickt, doch bei Louis gelang es ihr endlich, Eva nicht immer weiter mit Details zu füttern; Louis sollte ein heiliger Raum bleiben, frei von bohrenden Fragen. »Du musst es ernst mit ihm meinen«, hatte Eva gesagt. »Ich höre keinen Mucks von dir. Nutzt er dich aus? Ich habe gerade erst online einen Artikel gelesen, da ging es um dieses Mansplaining.«

So konnte sie nicht Evas schlechten Ratschlägen die Schuld geben, als sie und Louis nach nur wenigen Monaten in eine Krise gerieten. Es lag an ihrer Wohnsituation – an der wiederum Anja die Schuld trug. Der Schrebergarten, in dem sie illegal lebten, sollte abgerissen werden und sie hatten keine Ahnung, wohin. Sobald irgendwo tief im Inneren des Ordnungsamtes das betreffende Papier den betreffenden Stempel erhalten hatte, sollte die gesamte jahrhundertalte Schrebergarten-Kolonie zugunsten eines Apartment-Komplexes plattgemacht werden. Man konnte den Verlust des geschichtsträchtigen Erbes beklagen, noch lauter ließ sich jedoch über den Mangel an erschwinglichem Wohnraum klagen, und so war der Bau der Wohnanlage ohne großen Protest beschlossen worden.

Ihr Schrebergarten lag gerade noch innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Grenze jenes Teils der Stadt markierte, in dem sich komfortabel leben ließ. Vor langer Zeit waren die Tausenden von Gartenparzellen als urbane Zufluchtsorte geschaffen worden, über die Stadt verteilte Naturstücke, in denen ausgelassene Kinder frei herumtollen konnten. Doch als während des Ersten Weltkriegs Nahrungsmittel plötzlich knapp wurden, verwandelte man die kleinen Gärten rasch in urbane Bauernhöfe, was einer Urbewegung des nachhaltigen Lebens gleichkam. Später, als der Krieg vorbei war, die Embargos gelockert wurden und die vom Elend erschütterte Stadt kurzzeitig sich selbst überlassen war, richteten sich die Ärmsten der Ärmsten in den Gärten ein. Hütten wurden zu Heimen, aus hausen wurde wohnen. Doch bevor es sich irgendjemand zu gemütlich machen konnte, leerte der nächste Krieg die Gärten ein weiteres Mal, überließ sie dem Wildwuchs, und zum ersten Mal in vielleicht tausend Jahren übernahm wieder die Natur.

In der nächsten Nachkriegszeit, der Ära der großen Teilung, wurden einige Gärten in der Mitte durchgeschnitten und entwickelten sich zu Portalen des Schmuggels unter dem wuchernden Grün. Schließlich fiel die Mauer, oder besser gesagt, die Mauer wurde von Tausenden von Händen und Maschinen niedergerissen, und wieder einmal verwandelte sich die Stadt in eine riesige Fläche von leeren Immobilien; die Gärten wurden wieder parzelliert und in Naherholungsgebiete fürs Wochenende umfunktioniert; die Vorfahren von Menschen wie Anja und Louis begannen aufzukreuzen. So wurde jeder winzige Garten mitsamt all seinem historischen Gepäck ein Stückchen Privatbesitz zu Freizeitzwecken. Die ganze Sache, das heißt, die ganze Stadt, bewegte sich im Kreis, die Geschichte drehte und verwickelte sich wie ein Haarknäuel im Abfluss.

Zu dem Zeitpunkt, als Anja in der Stadt ankam, waren die Mieten innerhalb des S-Bahn-Rings höher denn je und alle zentral gelegenen Schrebergärten bereits renoviert und vergeben. Nicht übersaniert wie die meisten Wohnblöcke in der Stadt, vielmehr nutzte man ihren Miniaturcharme, um sie in winzige, überteuerte Mieteinheiten zu verwandeln, die Städtern eine »Ausflugserfahrung« bieten sollten. Nur einige entlegenere Gärten jenseits der Peripherie waren immer noch verwahrlost und nicht reguliert. Anja hatte ihren Garten auf einem langen Wochenendspaziergang Richtung Süden entdeckt. Fernab von allen Bahnhöfen stieß sie auf die umzäunte Anlage aus zwölf kleinen Häusern, die durch zottelige Hecken voneinander getrennt waren und zusammen nur etwa den Platz von zwei Häuserblöcken einnahm. Die meisten dieser Hütten waren besetzt, doch drei standen leer, und eine davon hatte sogar ein anständiges Dach. Nachdem sie ein paar Mal zurückgekehrt war und herumgeschnüffelt hatte, fand sie die Frau, die die Verwaltung zu improvisieren schien, und zahlte bei ihr in bar für sechs Monate im Voraus.

Nachdem die sechs Monate um waren, mittlerweile war Louis bei ihr eingezogen, konnten sie zu keiner Entscheidung gelangen, was sie nun tun sollten. Sie waren sich einig, dass die Hütte immer unbewohnbarer wurde, der Zustand des Daches verschlechterte sich von Tag zu Tag, doch eine richtige Wohnung zu finden und zu bezahlen schien unmöglich. Strenggenommen noch immer nur als Praktikantin bei RANDI angestellt, verdiente Anja zu dieser Zeit lächerlich wenig Geld, und wollte weder ihren Fonds anzapfen noch zulassen, dass Louis den Großteil der Miete für eine neue Wohnung alleine zahlte. Louis war es egal, ob er dafür zahlen musste (mit seinem aufgeblasenen Gehalt bei Basquiatt hätte er leicht die Miete für eine neue Wohnung stemmen können), er wollte einfach nur raus aus dem feuchten, zerfallenden, dem Untergang geweihten Gartenhaus. Anja bestand jedoch darauf, dass ihn zahlen zu lassen eine ungesunde Abhängigkeit schaffen würde. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wie der nächste Schritt aussehen sollte und bewegten sich am Abgrund einer Trennung entlang.

Das sechsseitige Einladungsschreiben, dem neuen sozio-ökologischen Wohnexperiment beizutreten, tauchte wie aus dem Nichts in ihrem Postschließfach auf. Es war in komplexem, bürokratischem Deutsch verfasst, das Louis, bevor Anja nach Hause kam, mittels Google zu übersetzen versucht hatte, was ihn, da er glaubte, es handele sich um einen Räumungsbescheid, in Panik versetzt hatte. Anja überflog die erste Seite und wusste sofort, wer für dieses Schreiben verantwortlich war.

(Howard war sich des maroden Zustands der Gartenhütte sehr genau bewusst, da er selbst ein paar Mal dort übernachtet hatte, in der Zeit vor Louis. Die Schäbigkeit hatte ihm gefallen, war sie doch ein handfester Beweis dafür, dass er Sex mit einer Sechsundzwanzigjährigen hatte. Mit ihr auf der Matratze am Boden zu liegen, hatte ihm das Gefühl gegeben, sehr weltoffen zu sein.)

Der Brief war eine protzige Demonstration seiner Großmut, deren Ausmaß allein die Geschichte mit Anja unbedeutend erscheinen ließ, und prahlte gleichzeitig mit seinem Einfluss – wie viele soziale und professionelle Hebel musste er in Bewegung gesetzt haben, um dieses Kunststück zu vollbringen? Sie verstand den Subtext nur zu gut. Howard war ein reifer Mann, der keinen Groll hegte. Er hatte ihr nicht nur eine kostenlose Wohnung zuteilwerden lassen, die aufgeladen war mit kulturellem und moralischem Kapital, sondern einen Ort, an dem sie beide leben konnten: Anja plus Louis, der Typ, der ihn ersetzt hatte. Hatte Anja etwa kleingeistige Eifersucht und Rachsucht von ihm erwartet?

Sie hatte gezögert, das Angebot anzunehmen, aber Louis hatte sich entschlossen gezeigt. Die Ökosiedlung war zu gut, als dass sie hätten Nein sagen können, ganz egal, wie die Sache zustande gekommen war. Eifersucht war kein Thema für ihn, und alles in allem, hatte Anja entschieden, war sie dankbar dafür.

3

Louis hatte die Kunst des Telefonierens noch nie beherrscht. Er klang distanziert und abgelenkt, als würde er von einem Zimmer aus anrufen, in dem ihm niemand zuhören sollte. Das war typisch männlich und nicht weiter schlimm. Anja störte sich nur noch daran, weil es sie indirekt an die Unfähigkeit ihrer Eltern erinnerte, per Telefon zu kommunizieren. Wochenlang meldeten sie sich gar nicht, waren in einem Wirrwarr aus Zeitzonen nicht erreichbar, und dann schickten sie plötzlich eine Reihe penetranter Sprachnachrichten: Alles in Ordnung bei dir??? Melde dich bitte??? Nur, um dann wieder genau so plötzlich in der Dunkelheit zu verschwinden.

Nachdem sie Howards Wohnung verlassen hatte, beschloss sie, Louis eine SMS zu schreiben, anstatt ihn anzurufen. Die Unterhaltung wollte sie sich für später aufheben, wenn er körperlich anwesend und ganz er selbst war. Aber nachdem sie ihm eine Nachricht mit einem kurzen Update geschickt hatte, klingelte sofort ihr Handy. Sie war gerade auf ihr Fahrrad gestiegen und musste den Ständer wieder herunterklappen, und als sie seine Stimme plötzlich so nah hörte, erinnerte sie sich auch daran, die Ohrstöpsel herauszunehmen.

»Das ist großartig!« Er klang, als würde er ins Telefon grinsen. »Endlich würdigen sie dich!«

Sie runzelte die Stirn. »Ist ja nicht so, dass ich herumgesessen und auf Anerkennung gewartet habe.«

»Sei nicht so bescheiden.«

»Ich bin nicht bescheiden. Ich habe nur nicht das Gefühl, dass ich schon in der Position bin, um …«

»Früher oder später wäre das ohnehin passiert. Nun ist es also früher geschehen als erwartet.«

»Aber ich habe nichts erwartet – Beraterin zu werden, war nie mein Ziel.«

»Du musst das annehmen! Das ist dein Schicksal«, sagte er lachend. »Wir werden eine Familie von Beratern sein.«

»Ich wollte eigentlich weiter forschen.«

»Du kannst weiter forschen.«

»Ich weiß nicht. Das ist richtiges Consulting. Du weißt, was ich meine. Ich bin kein Künstler wie du. Ich werde Effizienzstudien machen müssen und Revisionen und all das.«

 

»In jedem Job gibt es Papierkram. Du weißt doch, dass ich die Hälfte meiner Zeit mit E-Mails verbringe. Aber in der restlichen Zeit kannst du tun, was du willst. Du kannst gucken, was verbesserungswürdig ist und es einfach verbessern. Wie viele Berater hat RANDI momentan? Nur zwanzig, oder so? Das ist doch ein Riesending!«

Als er sie weiterhin ermunterte, schien sein Enthusiasmus immer weniger mit ihr zu tun zu haben. Ihr war das peinlich. Sie wiegelte die Komplimente ab und erkundigte sich, wie sein erster Arbeitstag lief. Er versprach, einen der Blumensträuße, die er geschenkt bekommen hatte, mit nach Hause zu bringen. Sein Postfacheingang war sagenhaft voll, der Rückstau scheinbar unüberwindbar; er hatte einige Praktikanten wie ein Rudel Hunde darauf angesetzt.

»Prinz lässt dich übrigens grüßen.« Prinz war also bei ihm. Oberflächlich betrachtet war das nicht ungewöhnlich; Prinz hing immer in seiner Nähe herum.

»Was macht ihr so?«

»Er hat mir gerade dieses Buch über Psychotropika gekauft, von dem er mir erzählt hatte.«

Es folgte ein Exkurs über psychotrope Substanzen, die die menschliche Erinnerung umstrukturieren konnten, wobei die Struktur des Gehirns modifiziert wurde, um durch negative Ereignisse entstandene Schäden zu heilen. Anja hätte das vielleicht interessant finden können, war aber zu beschäftigt damit, Louis gedanklich mit dieser Person in Einklang zu bringen, die ihr da freiwillig so viel am Telefon erzählte. »Prinz sagt, in dem Buch steht, dass die Leute mitunter zwanzig Jahre jünger aussehen, nachdem ihre Erinnerungen neu verdrahtet wurden. Die Geschichten sind total abgefahren.«

»Bleibt er den ganzen Tag, oder was?«

»Er wollte nur mal nach mir schauen.«

»Das ist nett von ihm.«

»Jep.«

Sie zögerte. »Arbeitest du heute länger?«

»Ich weiß nicht. Kommt darauf an, wie viel ich für dieses Projekt erledigen kann, das jetzt endlich in Gang kommt.«

»Cool.« Die Frage hing in der Luft; Anja atmete ins Handy, und übergab sie damit dem Gerät. Sie würde nicht fragen. Sie ging auf Nummer sicher. »Dann sprechen wir wohl später.«

»Prinz und ich wollten vielleicht abends was essen gehen.«

»Na klar. Viel Spaß.« Sie achtete darauf, ihren Worten keinen bitteren Unterton zu verleihen.

»Komm doch mit! Warum kommst du nicht einfach mit?«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Ihr zwei solltet Zeit miteinander verbringen.«

Sie dachte so angestrengt über jede ihrer Antworten nach, dass sie nicht sicher war, ob sie in Echtzeit antwortete, oder ob eine wahrnehmbare Verzögerung entstand. Die Dynamik zwischen ihnen während dieser Unterhaltung war aus dem Ruder gelaufen und doch so festgefahren. Sie wusste einfach nicht, wie sie sie umleiten sollte. Ihre schlimmsten Unsicherheiten, die sich seit Ewigkeiten nicht gemeldet hatten – sein Mangel an Abhängigkeit von ihr, das Gefühl, dass er Erfüllung im gesellschaftlichen Leben suchte und nicht bei ihr, seine glatte Unverletzlichkeit –, gingen nun mit ihr durch. Warum waren sie zurück? War sie diejenige, die diese Dynamik verursachte, oder er? Oder keiner von beiden?

»Ich hatte ohnehin schon mit Dam und Laura besprochen, dass wir vielleicht zusammen essen«, log sie.

»Oh, okay. Dann vergiss es.« Es gelang ihm, leicht beleidigt zu klingen.

Sie ruderte zurück. »Ich wusste ja nicht, ob du Pläne hast …«

»Ist schon in Ordnung. Wir sehen uns heute Abend.«

Nein, entschied sie, wenn einer den Verlauf dieses Gesprächs bestimmte, dann er. Er wusste immer genau, was er tat.

Anja wusste, dass sie jammerte, und sie wusste auch, dass Laura und Dam sie nicht dafür bestrafen würden. Sie hatte nur drei Garnelen gegessen, die sie mit spitzen Fingern aus den kleinen Mais-Torvilla-Schalen zog, hatte aber den Mangel an Kalorien mit Wodka kompensiert.

»Seit er wieder da ist, scheinen all unsere Gespräche einen Subtext zu haben«, sagte sie in Lauras Richtung. »Unter Wasser lauern merkwürdige Schatten.«

»Fische«, sagte Laura. »Die gibt's in jeder Beziehung. Die Frage ist, warum du überhaupt unter Deck guckst.«

»Wie weise! Spätabends glänzt meine Schwester mit Weisheit«, warf Dam ein.

»»Schon klar«, sagte Anja. »Ich halte absichtlich nach ihnen Ausschau, als wollte ich sie unbedingt finden. Aber ich weiß, da ist ein großer Fisch im Anmarsch. Ich kann ihn spüren.«

»Wie lange ist Louis überhaupt schon wieder zurück? Vierundzwanzig Stunden? Dreh nicht durch«, sagte Laura. »Du machst alles nur schlimmer, wenn du jetzt durchdrehst.«

»Ich mache immer alles schlimmer, weil ich durchdrehe.«

Sie hatte zum Abendessen bei Laura und Dam Schutz gesucht, ohne auch nur vorher angerufen und sich angekündigt zu haben. Vielleicht war es ja ein Überbleibsel spanischen Familienlebens, dass die beiden unter der Woche fast jeden Abend zusammen aßen, Dam danach immer abspülte, Drogen nahm und irgendeinen dunklen Ort aufsuchte, den er zu erreichen hoffte, bevor die Wirkung einsetzte. Er hatte sich schon umgezogen, um auszugehen, ein schwarzer Dreiecks-BH war unter dem lose gewebten gelben Tanktop zu sehen, die kniehohen Stiefel lehnten neben der Tür, der Vinyl Trenchcoat hing über seiner Stuhllehne. Von seinem Kopf baumelten zwei lange Dreadlocks, die in der Woche zuvor noch nicht dagewesen waren.

»Weißt du«, sagte Laura, »der große Beziehungsfisch kommt irgendwann immer. Wenn es jetzt nicht der Trennungsfisch ist, wird es eines Tages der Todesfisch sein. Du kannst nur hoffen, dass der Fisch langsam schwimmt.«

»Wenigstens hast du einen Fisch«, sagte Dam. Anja registrierte, dass er gekrümmt über seinem Teller saß, mit rotem Gesicht und matten Augen.

»Trinkst du nur aus Solidarität zu mir?« fragte sie.

»Solidarität, Baby. Außerdem mache ich gerade diesen fundamental menschlichen Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl durch.« Er warf einen Blick auf sein Handy, was er auch schon während des Abendessens ununterbrochen getan hatte. Dann schloss er die Augen und drückte das Handy dramatisch an sein Herz.

»Oh-oh. Wer ist es?«

»Federico.«

»Frederico?«

»Federico. Er ist ein fürchterlicher alter Troll. Er ist ein Frauenhasser und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch Rassist ist. Er ist wirklich ganz schlimm.«

»Warum willst du dann unbedingt, dass er anruft?«

Dam formte mit seinen Händen ein großes O. »Es geht um die Wurst«, sagte er grinsend. »Aber er arbeitet immer nur. Er ist auch bei Fin-Start, managt da irgendwas.«

»Wer arbeitet nicht bei Fin-Start«, sagte Laura.

»Meinst du, er könnte mir erklären, was bei denen los ist?«, fragte Anja.

»Nicht, wenn er mir nicht zurückschreibt. Sechs Stunden ist zu lang!«, rief Dam und schleuderte sein Handy durch den Raum. Es prallte an der Wand ab und landete in der Nähe des Bücherregals. Dam hechtete von seinem Stuhl darauf zu. Nachdem er ein letztes Mal seine Nachricht gecheckt hatte, schlug er es gegen die Fensterscheibe. Ein lautes Knacken war zu hören.

»Keine Sorge«, sagte er und drehte das Handy um. »Die Schutzhülle funktioniert zumindest.« Er blickte zum Fenster hinauf. »Aber das Fenster hat einen Sprung.«

Sie sprachen einen Toast auf Federico, und Dam sah ein, dass es Zeit war, ihn ziehen zu lassen. Laura stand auf, leicht schwankend, um ihr Handy in den quaderförmigen Lautsprecher beim Fenster zu stecken.

Auch wenn der Lautsprecher, magnetisiert wie in der Werbung versprochen, knapp einen Meter über dem Boden schwebte, funktionierte die Bluetooth-Verbindung doch nie, so dass sie die Endgeräte mit langen, schwarzen USB-Kabeln verbinden mussten, was den ästhetischen Effekt untergrub. Die Leinen wanden sich vom Boden nach oben zum schwebenden Dock und fütterten das Mutterschiff mit Inhalten.

»Nur ein weiterer Beweis, dass alle Vergangenheit Prolog ist«, sagte Laura, und fummelte an dem Kabel herum, bis ein stotternder Laut zu hören war. »Kennt ihr diesen Mix von Koolhaas schon?«

Anja schüttelte demütig den Kopf. Die Art und Weise, wie Laura gefragt hatte, ob sie den Mix kannte, nicht den Produzenten, machte eindeutig klar, dass sie etwas verpasst hatte, einen Fetzen kultureller Materie, der für sich allein unbedeutend war, aber in Kombination mit einer ganzen Menge anderer Dinge, die sie nicht wusste, zum Problem werden konnte – und sie damit zu einer Person, die sich nicht auskannte.

Anja gab nicht vor, von etwas Ahnung zu haben, wenn dem nicht so war. Zwar war ihr irgendwie bewusst, dass ihr andere Optionen offenstanden, als ihr Unwissen preiszugeben, aber sie machte selten von ihnen Gebrauch. Sie gab automatisch nach, wenn ihr Wissen zu einem Thema in Frage gestellt wurde, nicht gewillt, abzulenken oder zu lügen. Sie hoffte, dass dies mitunter den Effekt hatte, die Frage irrelevant werden zu lassen, aber ihr war klar, dass es sie meistens eher naiv wirken ließ.

»Wirklich? Noch nie gehört?« Laura gab ihr eine weitere Chance.

»Wirklich.«

»Ich kenne Koolhaas auch nicht«, sagte Dam. Er zwirbelte seine Dreads zwischen den Fingern und machte einen Schmollmund. Anja bemerkte ein glänzendes Drachentattoo, das sich an der Seite seines Halses hinaufschlängelte. Es war letzte Woche auch noch nicht dagewesen.

»Du bist doch derjenige, der jeden Abend feiern geht«, sagte Laura. »Du solltest dich eigentlich mit Musik auskennen.«

Dam öffnete seinen Mund und streckte Laura die Zunge heraus, dabei präsentierte er eine halb gegessene Garnele.

»Ja, wir sehen dein Essen«, sagte Anja. Sie erhob sich, um auf Lauras Handy nachzusehen, wie der Mix hieß, damit sie ihn später suchen konnte, doch das Kabel von Dams MacBook legte sich wie eine Schlinge um ihren Knöchel, und der Schwanz des Kabels verfing sich an dem winzigen Haken, der das Aufwickeln, Packen und Reisen erleichtern sollte: Serras Verbliste für das digitale Zeitalter. Sie stolperte und fiel, Hände ausgestreckt, das Handgelenk nach unten gedrückt, um den Sturz abzufedern, die Knie und Knöchel verdreht, und riss den Lautsprecher aus seiner kalibrierten Position in der Luft. Der Lautsprecher ging mit ihr zu Boden, knallte dumpf auf und hüpfte sofort wieder nach oben an seinen Platz.

»Scheiße«, sagte Dam und stürzte auf sie zu. »Das tut mir so leid, Babe.«

»Ich sage dir ständig, dass du dein Kabel nicht so rumliegen lassen sollst«, schimpfte Laura.

Anja lachte. Ein Bluterguss kringelte sich um den Knöchel ihres linken Handgelenks. Sie sah ihn zärtlich an. Der Sturz hatte sie mit seiner unfreiwilligen Komik aus ihrer schlechten Stimmung gerissen, und sie war froh, dass sie das lilafarbene Komma daran erinnern würde, nicht alles so verdammt ernst zu nehmen. Einen einzigen Ausrutscher, mehr brauchte es nicht. Sie sollte besser darin werden, sich treiben zu lassen, sich den Gezeiten anzupassen.

»Wisst ihr was? Eins habe ich euch noch gar nicht erzählt«, sagte sie, stand auf und humpelte zum Sofa. Die Geschwister sahen sie an, Dam kniff die Augen zusammen. Sie waren alle viel betrunkener, als sie gedacht hatte. Sie fühlte, wie sich Dankbarkeit in ihr breitmachte, die beiden zu haben – die einzigen Leute, die sie in Berlin kannte, die genetisch aneinander gebunden waren. Von all ihren Beziehungen in Berlin kam jene zu den Geschwistern einer Familie am nächsten, weil die beiden miteinander familiär verbunden waren. Sie waren ein Fiasko, aber sie waren ihr Fiasko. Wer konnte schon sagen, warum die beiden Anja überhaupt in ihre Herde aufgenommen hatten, aber einmal drinnen, hatte sie dort ihren festen Platz.

»Ich bin heute gefeuert worden«, verkündete sie und ließ sich auf das Sofa fallen. »Aber dann wurde ich umgehend wieder eingestellt. Ich bin jetzt Beraterin. Ta-da …«

»Ist das gut?«, fragte Dam. Er setzte sich zu ihr aufs Sofa. »Ich kapier’s nicht.«

»Ich war mir erst unsicher, aber ja, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.«

Er küsste sie auf die Wange und flüsterte, »du bist ganz schön krass, weißt du das?«, dann ließ er seinen Kopf in ihren Schoß gleiten und schloss die Augen.

»Bei was sollst du sie denn beraten? Was ist dein Fachgebiet?«, fragte Laura.

»Das ist nicht ganz klar. Howard sagte …«

»Howard?«

Eva war nicht die einzige, die vehement gegen Howard war. Anja hatte in Lauras Hass ihm gegenüber eine Art Schutzinstinkt ausgemacht, und versuchte, das Gefühl dahinter wertzuschätzen, auch wenn Laura ihre Sorge um Anja meist als Anklage formulierte.

 

»Frag nicht. Es war ein sehr schräger Morgen. Ich habe jedenfalls vom Labor aus die Personalabteilung angerufen, und die sagen, sie wüssten auch nicht, was da los ist, dass es aber stimmt.« Die Frau aus dem Personalbüro hatte ebenso verärgert wie verwirrt geklungen, so dass Anja sich gefragt hatte, ob überhaupt irgendjemand die Gründe für diese Veränderungen kannte. »Klingt jedoch so, als wäre mein neuer Job Bullshit. Hier, ich zeig’s euch, schmeiß mir mal mein Handy rüber.« Laura warf Anja ihr Handy zu und Anja fing es auf. Sie öffnete ihre Mails, scrollte hinab zur Nachricht der Personalleiterin und lud den Anhang herunter.

»Hört euch das an, das ist mein Vertrag. ›Die Beraterin wird ihre bestmögliche Expertise auf dem entsprechenden Gebiet zur Verfügung stellen. Die Beraterin wird niemals Wissen zurückhalten, das als anwendbar erachtet werden könnte.‹ Punkt. Wissen, das als anwendbar erachtet werden könnte. Das ist ein eigener Abschnitt! Anwendbar auf was? Und hier, weiter unten. ›Die Beraterin wird sich bezüglich der Entwicklungen im Feld der Biowissenschaft auf dem neuesten Stand halten‹. Die haben die Bezeichnung des Feldes in einem anderen Schriftsatz ausgefüllt. Das ist ein Standardvertrag. Der wurde wahrscheinlich automatisch generiert.«

»Darfst du überhaupt daraus vorlesen?«, fragte Laura.

»Gute Frage. Am Ende kommt ein langer Abschnitt zu Vertraulichkeit, aber so weit bin ich noch nicht.«

»Es kommt mir total fahrlässig vor, dass sie dir das gemailt haben.«

»Stimmt.«

»Ist das Beschiss?«

»Keine Ahnung.«

»Würden die versuchen, dich um den Job zu prellen?« Wieder ihr Schutzinstinkt, verpackt in eine Anklage, als müsste Anja besser auf sich achtgeben. »Was ist mit dem Typ, mit dem du arbeitest, wurde der auch befördert?«

»Michel? Keine Ahnung.« Michel hatte ihr seit dem Morgen Textnachrichten geschickt. Sie hatte noch nicht geantwortet, unsicher, was sie sagen sollte. Es erschien ihr besser, ihn zu meiden, bis sie die Sache selbst durchdacht hatte. »Keine Sorge, ich habe den Vertrag schon an die Anwältin meiner Familie weitergeleitet. Sie wird mir sagen, ob da irgendwas faul ist.«

Laura nickte, beschwichtigt, weil Anja sicherstellte, dass sie nicht über den Tisch gezogen wurde. Anja lebte nicht wie Laura in der Wahnvorstellung, alle würden sie immer nur ausnutzen wollen, fürchtete aber immer, Laura könne schlecht von ihr denken.

»Das erinnert mich an eine Folge von Celebrity Court, die ich vor Kurzem gesehen habe«, sagte Laura. »Wollen wir sie uns anschauen?«

»Nicht heute Abend. Ich sollte wahrscheinlich nach Hause fahren, falls Louis von seinem Treffen mit Prinz zurückkommt.«

»Ich schick dir den Link.«

»Findest du das armselig?«

»Was bitte soll an Celebrity Court armselig sein?«

»Nein, das mit Louis. Sollte ich ihn nicht einfach anrufen und fragen, ob er okay ist, anstatt mir solche Sorgen zu machen?«

»Verstehe ich nicht. Wenn du dir solche Sorgen machst, warum rufst du ihn nicht an?«

»Ich will mich nicht komisch verhalten. Er verhält sich so normal. Er tut so, als wäre alles wie immer, und ich glaube, er erwartet von mir, dass ich das auch tue. Ich will nicht die Illusion zerstören.«

»Dann tu doch einfach eine Zeitlang so als ob und warte ab, wie das läuft. Hetz ihn nicht.«

»Projiziere ich meine Unsicherheiten auf ihn?«

»Definitiv. Lass ihn sein Ding machen. Trauer ist nicht ansteckend. Du hast keinen Grund, Angst zu haben.«

Anja dachte einen Moment lang darüber nach. Wie schräg. Angst, das war es.

»Was auch immer sonst da gerade los ist, er liebt dich«, sagte Laura. »Er ist eine wahnsinnige Nervensäge, aber offensichtlich liebt er dich.«

»Oh«, Anja lächelte, ohne es zu wollen. »Ja, nehme ich mal an. Danke.«

Sie schüttelte Dams Arm, und seine Augen öffneten sich einen Spaltbreit. Aus ihrem Schoß sah er sie an. »Dam, gehst du heute noch aus, oder was?«

Er runzelte die Stirn. »Zum Teufel, nein. Ich verlasse das Haus nicht. Hast du nicht bemerkt, wie neblig es heute war? Ein seltsamer Geruch liegt in der Luft. Ich traue der Sache nicht.« Er fand sein Handy in der Tasche seiner Cargo-Hose. »Ich sollte wahrscheinlich jetzt ein Update verschicken.« Ohne auf den Bildschirm zu blicken, begann er zu tippen.

»Wie kannst du eine Wettermeldung verschicken, wenn du nicht mal draußen warst?«

Er verdrehte die Augen. »Intuition. Gerüchte. Den ganzen Tag lang schicken mir Leute aus der ganzen Stadt Neuigkeiten. Ich konsolidiere das nur. Wie dem auch sei«, sagte er und lächelte, »ich habe keine Lust, heute auszugehen und ich will nicht, dass irgendjemand ohne mich feiert. Da kann ich sie ebenso gut mit meiner Vorhersage ein bisschen erschrecken.« Er warf Laura einen Blick zu, die ihren Stuhl zurückgekippt hatte und nun an der Wand lehnte. Den obersten Knopf ihrer Hose hatte sie geöffnet und rieb sich den vollen Bauch. »Laurita, sieh dich nur an. Du benimmst dich genau wie Mama, wenn sie zu viel gegessen hat. Mach die verdammte Hose zu.«

hitzewelle trocken / modergeruch / tipp: behaltet eure paranoia besser für euch

Keine Spur von Louis, als sie gegen Mitternacht die Tür aufwuchtete. Dafür Spuren anderer Leute, nahe dem Waschbecken waren einige matschige Fußabdrücke auf dem Küchenboden zu sehen. Offensichtlich hatte Howard jemanden überzeugen können, den Berg hinaufzustapfen und so zu tun, als würde etwas repariert. Aus der Schublade mit dem Kontrollset ragten die nackten Enden einiger Kabel. Sie hatten nur Chaos angerichtet: die Illusion von Fortschritt. Sie huschte aus der Küche, entschied zu schlafen, oder so zu tun, bis Louis nach Hause kam.

Sie war daran gewöhnt, dass er spät aus seinem Atelier bei Basquiatt zurückkam. Niemand zwang ihn, Überstunden zu machen, aber wenn er nicht leidenschaftlich genug war, um länger zu bleiben, warum hatte er den Job dann überhaupt? Sie fragte sich, ob sie nun im selben Boot saß, eine Beraterin ohne feste Arbeitszeiten. Aber sie war nicht er. Er war immer schon so gewesen.

Basquiatt war keine große NGO, und sie stellten immer nur einen Künstler-Berater ein – neben so vielen Freischaffenden, oder kurzfristig Angestellten wie für ein bestimmtes Projekt benötigt –, also musste der Auserwählte ein echter »Querdenker« sein. Genau das war Louis.

Sein Job bestand aus zwei Aufgaben: Pressewirksame Experimente am Rande der eher traditionellen Grenzen des Unternehmens zu generieren, und im Verlauf dieses Prozesses die Unternehmenskultur zu verbessern und die Unternehmenswerte von innen heraus zu stärken. Er sollte nicht an einem konkreten Projekt in einer konkreten Region herumspielen – etwa Städteforschung in Lagos oder Impfkampagnen auf den Philippinen –, er sollte nicht an diesem oder jenem Ort die Welt verbessern, sondern Basquiatt verbessern und somit Basquiatt helfen, die Welt zu verbessern. Er zeigte der Institution neue Wege des Denkens auf, und brachte ihr bei, ihre eigene Institutionalität kritisch zu hinterfragen. Durch seine bloße Anwesenheit sorgte er dafür, dass die Institution hip und frisch blieb. Seine Kreativität war Mittel und Zweck zugleich.

Seinen elitären Status erhielt Basquiatt durch einen strengen Auswahlprozess für Investoren aufrecht. Aktien wurden nicht öffentlich verkauft, sie wurden gezielt Investoren angeboten, die für ihr ethisches Handeln bekannt waren und sich bereit erklärten, mehrere Prüfungen zu durchlaufen, bevor es ihnen gestattet wurde, Anteile zu kaufen. Alle paar Jahre kam es zu einem Skandal, wenn ein Basquiatt-Aktionär sich als geheimer Waffenlieferant oder Geldwäscher entpuppte, aber das Aussortieren fauler Äpfel war nur Teil der Routine, die nötig war, um den generellen Eindruck von Unverdorbenheit aufrechtzuerhalten. Jeder Apfel hatte einen Wurm oder zwei, am besten entlarvte und verbannte man sie mit so viel Pomp wie möglich.