Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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From the series: Kullmann-Reihe #2
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Der Kollege verabschiedete sich und wurde gleich von Theo Barthels, dem Leiter der Spurensicherung, abgelöst: »Bisher haben wir nichts Verwertbares finden können. Das ist ein für unsere Arbeit sehr ungünstiger Tatort, weil hier sehr viele Menschen spazieren und ihre Kinder mitnehmen. Es gibt Schuhabdrücke in allen Größen und Formen. Die können wir gar nicht alle überprüfen.«

»Das hört sich ja genauso an wie damals bei Nimmsgern.«

»Leider ja. Die schönsten Tatorte sind und bleiben eben die in geschlossenen Räumen. Da kann man alle Spuren zuordnen und den Täter herausfiltern«, murrte Theo und machte sich wieder an die Arbeit.

Kullmann und Anke folgten dem schmalen Trampelpfad an dem Gehege der Wildkaninchen vorbei auf einen breiten Spazierweg. Vor ihnen befand sich das Gehege der Alpensteinböcke, die sich durch das Aufgebot an Menschen nicht aus der Ruhe bringen ließen.

Erschrocken fuhr Anke zusammen, als sie Esche erblickte. Er wirkte so, als säße er gelangweilt auf der hölzernen Umzäunung eines kleinen Tümpels, in dem sich nur wenig Wasser befand.

»Was tust du denn hier?«, fragte Kullmann erstaunt.

Gelangweilt ließ Esche seine Beine baumeln, während er antwortete: »Ich habe von dem Mord erfahren und bin gleich hierher gefahren. Inzwischen sind es ja schon zwei Kollegen, die erschossen worden sind, da wollte ich mir einfach mal die Stelle ansehen, an der der Täter dieses Mal zugeschlagen hat.«

»Du weißt, dass das Team der Spurensicherung keinen Wert auf zu viele Menschen am Tatort legt, die vielleicht Spuren verändern oder verwischen können«, tadelte Kullmann.

»Hier laufen so viele Leute herum, dass meine Spuren die Aufklärung nicht verhindern. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass ich mich nicht in die Nähe des Tatortes begeben habe«, ließ Esche sich nicht aus der Fassung bringen.

Kopfschüttelnd ging Kullmann weiter. Anke folgte ihm mit einer großen inneren Genugtuung. Es gefiel ihr, dass Kullmann diesen Feldzug von Esche nicht gutheißen konnte. Sie steuerten den Wagen an. Dort trafen gerade einige Journalisten mit Kameras und Aufnahmegeräten ein. Schnell stiegen sie ein, um sich nicht vor ihnen rechtfertigen zu müssen, und fuhren davon.

»Woher zum Teufel wissen die schon wieder Bescheid?«, schimpfte Kullmann.

»Ich glaube, wir haben den falschen Beruf: Wir sollten bei der Zeitung arbeiten, dann sind wir schneller über alles informiert«, bemerkte Anke sarkastisch.

Auf der Rückfahrt zur Dienststelle merkten sie zu spät, dass es einen Autounfall gegeben hatte, der Verkehr staute sich zurück. Im Schritttempo ging die Fahrt voran. Kullmann nutzte die zäh sich dahinschleppende Zeit, seine Situation zu überdenken. Inzwischen war er vierzig Jahre im Polizeidienst und konnte gar nicht mehr genau zurückrechnen, wie lange er sich schon auf seinen Ruhestand freute. Nun endlich stand er kurz davor, und dann geschah so etwas: zwei Polizistenmorde und keine Verdächtigen, ja noch nicht einmal die geringste Spur. Die Situation war so erdrückend wie noch nie. Von allen Seiten spürte er die Erwartungen, alle wollten eine baldige Lösung von ihm, weil alle Angst hatten, der Nächste zu sein. Er war einfach nicht imstande, ihnen den oder die Täter zu liefern.

Kapitel 5

Als sie endlich auf der Dienststelle eintrafen, herrschte große Aufregung. Kriminalrat Wollny erschien höchstpersönlich, um sich mit Kullmann über die Ermittlungsarbeiten zu beraten. Esche war erstaunlicherweise schon vor ihnen zurück und schimpfte von allen am lautesten herum: »Jetzt ist genau das eingetroffen, was ich prophezeit habe.«

»Hör doch endlich auf, alle hier verrückt zu machen«, schaltete Kullmann sich ein. »Es ist durchaus verständlich, wenn du es nicht verkraftest, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Schließlich hast du bereits einen Teamkollegen auf diese tragische Weise verloren. Wir haben noch weitere Delikte zu bearbeiten, dort kann ich dich auch einsetzen.«

»Nein, ich bitte darum, weiter an diesem Fall arbeiten zu dürfen«, lenkte Esche hastig ein. »Es liegt mir sehr viel daran, den Mörder zu finden, der unsere Kollegen auf dem Gewissen hat.«

»Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt?«, zweifelte Kullmann, doch Esche blieb unbeugsam bei seinem Entschluss: »Je mehr Leute daran arbeiten, desto schneller bekommen wir den Kerl zu fassen. Schließlich sitzen wir hier auf einem Pulverfass, jederzeit kann es einen von uns treffen.«

»Was ist denn in Sie gefahren? Müssen Sie unbedingt Panik in der Abteilung auslösen?«, schimpfte Kriminalrat Wollny.

»Ich habe Angst, das ist doch ganz klar«, antwortete Esche. »Es kann hier jeden erwischen, auch mich.«

»Daran glaube ich leider nicht«, bemerkte Anke bissig.

Überrascht schauten alle auf sie, weil sie solche Reaktionen von Anke nicht kannten. Aber Anke blieb unbekümmert. Sie hatte nur gesagt, was sie dachte, und es hatte ihr gut getan.

»Es nützt uns gar nichts, wenn wir nervös werden, weil wir dann Fehler machen. Wir werden uns nun überlegen, wie wir weiter vorgehen, damit wir schnelle Ergebnisse bekommen«, rief Kullmann in die unruhig gewordene Runde.

»Am effektivsten arbeiten wir, wenn wir nach jemandem suchen, der einen großen Hass auf Polizisten hat«, funkte schon wieder Esche dazwischen. »Warum wollen Sie einfach nicht glauben, dass wir es mit einem Polizistenmörder zu tun haben?«

»Ganz einfach«, ließ Kullmann sich nicht aus der Ruhe bringen. »Der Mord an Walter Nimmsgern wurde bis ins Detail in der Zeitung beschrieben. Deshalb dürfen wir Trittbrettfahrer nicht ausschließen.«

Das ließ Esche verstummen.

»Wir werden in Kürze die Aufgaben verteilen. Solange bitte ich Sie, vorschnelle Vermutungen zu vermeiden«, bestimmte Wollny, um die Spannung im Raum zu dämpfen.

Kullmann verließ zusammen mit Wollny den Raum, um sich mit ihm zu beraten.

Hübner folgte Anke in ihr Zimmer und fragte sie vorwurfsvoll: »Was ist denn in dich gefahren, Esche so anzugehen?«

Anke berichtete ihm in allen Einzelheiten, was Esche sich bei ihr erlaubt hatte. Als sie in Hübners überraschtes Gesicht sah, hoffte sie sofort auf Verständnis. Dann wäre sie nicht mehr so allein in dieser beklemmenden Situation. Aber seine Reaktion fiel anders aus.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, schüttelte er nur den Kopf. »Wann soll er denn solche Angriffe auf dich gemacht haben? Es sind doch immer Kollegen da, die so etwas mitbekommen würden.«

Genau da lag der Hund begraben! Obwohl alle Kollegen um sie herumgestanden hatten, war es Esche immer gelungen, sich so geschickt zu verhalten, dass niemand etwas bemerkte. Der Hoffnungsschimmer, in Hübner einen Verbündeten zu haben, war erloschen.

Zum Weiterreden blieb keine Zeit mehr, weil Kullmann alle Mitarbeiter seiner Abteilung zur Besprechung in den großen Saal bestellte. Aufgeregt und neugierig trudelten sie ein, während Esche in dem Gedränge nach Ankes Nähe suchte. Erschrocken rückte sie von ihm weg, aber er folgte ihr so unauffällig, dass niemand es bemerkte. Plötzlich war der Raum zu Ende und Anke stand an der Wand.

»Endstation, süße Maus. Je mehr du dich sträubst, umso mehr machst du mich an«, flüsterte er in ihr Ohr, dass sie zusammenzuckte. Hastig bahnte sie sich einen Weg aus der Menge heraus nach vorne, damit sie direkt vor Kullmann stehen konnte. Nur dort fühlte sie sich sicher, weil er direkt vor dessen Augen bestimmt nichts unternehmen würde.

Eisige Stille herrschte im Raum. Alle Augen waren auf Kullmann gerichtet.

»Laut Gerichtsmediziner wurde heute in den frühen Morgenstunden im Wildpark St. Johann der Polizist Peter Biehler erschossen«, begann Kullmann ernst. »Es besteht die Möglichkeit, dass wir es hier mit einem Polizistenmörder zu tun haben. Das heißt aber nicht, dass wir uns ausschließlich darauf konzentrieren. Wir dürfen andere Motive nicht ausschließen, solange wir nichts Genaues wissen. Deshalb werden wir die Aufgaben verteilen.«

Lautes Gerede ging durch den Saal, am lautesten verschaffte sich wieder Esche Gehör: »Wie kommen Sie darauf, nicht von einem Polizistenmörder auszugehen? Beide wurden auf die gleiche Weise getötet, bei beiden fehlte hinterher die Dienstwaffe. Wir müssen den Bericht der Rechtsmedizin abwarten. Sicherlich wird von dort bestätigt, dass Biehler mit seiner Waffe erschossen wurde. Und beide wurden im gleichen Waldgebiet getötet.«

»Horst Esche, muss ich dir wirklich vor allen Kollegen einen Verweis erteilen? Wir hatten dieses Thema bereits abgeschlossen«, konterte Kullmann.

Damit brachte er ihn zum Schweigen. Alle andern schwiegen auch. Diese Stille nutzte Kullmann aus, die Aufgaben auf die Kollegen zu verteilen, wobei er Anke Deister anwies, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ihre Aufgabe bestand darin, das persönliche Umfeld des zweiten Opfers zu durchleuchten, um ausschließen zu können, dass der Mord an Peter Biehler mit dem Mord an Walter Nimmsgern im Zusammenhang stand.

Jürgen Schnur und Esther Weis bekamen den Auftrag, alle im Computer erfassten Personen zu überprüfen, die sich Polizisten gegenüber auffallend aggressiv und feindlich benommen hatten. Horst Esche und Andreas Hübner mussten alle ehemaligen Häftlinge, bei deren Verurteilung Nimmsgern und Biehler irgendeine Rolle gespielt hatten, ausfindig machen und deren mögliche Motive und Alibis überprüfen.

Es gab genügend Arbeit für alle.

Anke sah gerade, wie Hübner allein in seinem Büro verschwand, und folgte ihm. Etwas überrascht schaute Hübner sie an, bis sie ihm erzählte, was sich gerade zwischen Esche und ihr im großen Saal ereignet hatte. Darauf meinte er nur: »Ich glaube, jetzt übertreibst du aber. Da waren so viele Kollegen, das hätte doch einer bemerkt. Wenn dich einer mal aus Versehen anrempelt, bedeutet das noch lange nicht, dass er dir an die Wäsche will.«

 

»Dann habe ich mich in dir getäuscht«, mit diesen Worten verließ Anke sein Zimmer, stürmte in ihr Büro und knallte frustriert die Tür hinter sich zu.

Kurze Zeit später wurde sie zu Kullmann ins Büro gerufen.

»Als der Name des Ermordeten genannt wurde, sah ich an Ihrer Reaktion, dass Sie Peter Biehler kennen«, meinte Kullmann und schaute Anke prüfend an.

»Ja! Er war im gleichen Stall wie ich«, erklärte Anke.

»Erleichtert uns das die Arbeit oder erschwert es sie?«

Sie erzählte ihm von Biehlers Unbeliebtheit im Stall bis zu ihrem gestrigen Zusammentreffen an den Schubkarren, was Kullmann stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm. Nachdem sie ihre Schilderungen beendet hatte, meinte er: »Ich hätte es gern verhindert, dass sich Ihr Freizeitbereich mit Ihrer Arbeit vermischt. Aber leider sehe ich keinen anderen Weg. Wir werden zuallererst die Pferdebesitzer befragen und uns dann Doris Sattlers Bruder widmen.«

*

Am Stall angekommen steuerte Anke Rondos Box an. Voller Stolz zeigte sie ihrem Chef ihr Lieblingspferd. Kullmann schaute ihn sich genau an und gelangte zu der Überzeugung, dass Rondo ein prächtiges Tier war. Erst danach begannen sie dem dienstlichen Teil und gingen zu Susanne Werth, der Reitlehrerin. Als Susanne Ankes Dienstausweis sah, lachte sie und meinte: »Jetzt weiß ich, warum du reiten lernen willst. Du willst zur berittenen Polizei.«

»Leider gibt es diese Dienststelle nicht mehr«, bedauerte Anke. Sie erzählte Susanne von dem Mord an Peter Biehler. Die Frau erschrak.

»Jetzt suchst du den Täter hier unter uns?«, fragte sie entsetzt.

Anke erwiderte: »Es ist meine Pflicht, jeden zu befragen, der mit Biehler Kontakt hatte.«

»Peter war rücksichtslos und egoistisch. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand von uns ihn deshalb gleich ermordet«, zuckte Susanne mit den Schultern.

Kullmann glaubte keine Sekunde, dass diese intelligente Frau für den Mord an Peter Biehler in Frage kam. Dennoch überprüfte er vorschriftsmäßig ihr Alibi. Susanne konnte zweifelsfrei nachweisen, wo sie die frühen Morgenstunden verbracht hatte.

Kullmann und Anke machten sich auf den Weg, um die nächste Einstellerin, Nadja Basten, zu befragen, die gerade im Stall eingetroffen war. Aber bevor es ihnen gelang, mit ihr zu sprechen, verlangte Arabella, die muntere kleine Hündin ihre Aufmerksamkeit. Als Nadja den Dienstausweis der Reitfreundin sah, staunte sie nicht schlecht: »Du bist bei der Polizei? Deshalb die gezielten Fragen gestern Abend. Ich hatte mich schon gewundert«, meinte sie lächelnd. »Aber warum zeigst du mir jetzt deinen Dienstausweis? Was ist passiert?«

»Peter Biehler ist ermordet worden«, erklärte Anke.

Etwas verwundert schaute Nadja drein, bevor sie meinte: »Das glaube ich jetzt nicht.«

»Es stimmt, er ist tot. Jetzt müssen wir ein Motiv für die Tat finden. Und da sind wir leider gehalten, jeden im Stall zu fragen.«

»Ich weiß nicht, ob Treten nach Hunden oder auf dem Reitplatz anderen in den Weg zu reiten ein Mordmotiv ist«, schüttelte Nadja den Kopf. »Hier hat sich sicherlich jeder gewünscht, dass er seine Pferde verlädt und verschwindet. Aber umbringen? Ich weiß nicht.«

Auf die Frage nach ihrem Alibi gab Nadja ihre Familie an, die sie in den Morgenstunden mit Frühstück versorgt hatte, bevor alle zur Arbeit und zur Schule aufgebrochen waren.

Nach diesem Gespräch bemerkte Kullmann stirnrunzelnd: »Beliebt war Peter Biehler in diesem Stall wirklich nicht.«

»Nein!«, bestätigte Anke. »Ich bin mal gespannt, was seine Arbeitskollegen über ihn sagen. Wenn die ihn auch zum Teufel wünschen, dann haben wir einen neuen Rekord, nämlich die größte Anzahl von Verdächtigen, seit es Verbrechensbekämpfung gibt.«

»Ihre Voraussicht jagt mir Angst ein«, besänftige Kullmann sofort. »Bisher kann ich keine der beiden ernsthaft verdächtigen.«

Robert kam um die Ecke.

Als die beiden Männer sich gegenüberstanden, gab es ein Wiedersehen, das keine Freude auslöste.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Robert unfreundlich.

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.»

»Stellen Sie sich mal vor: Ich besitze ein Pferd, das hier eine Box hat und das ich in dieser Anlage reite.«

Anke erschrak, als sie die Frostigkeit der beiden spürte.

»Was halten Sie davon, wenn Sie unsere Familie einfach in Ruhe lassen. Soweit ich zurückdenken kann, haben Sie wie ein Stachel in unserer Familie gesteckt und niemals Ruhe gegeben. Reicht es nicht, dass meine Mutter tot ist?« Robert glühte vor Zorn.

»Ich bin aus einem anderen Grund hier«, erklärte Kullmann ruhig.

Nun erst schaute Robert auf Anke und meinte etwas besänftigt: »Entschuldige Anke, ich habe dich nicht übersehen, nur war ich gerade etwas erregt.«

Anke nickte, sagte aber nichts.

»Du willst mir doch nicht sagen, dass Herr Kullmann dein Chef ist?«

»Doch!«

»Die Welt ist klein.«

Kullmann mischte sich ein: »Wie ich sehe, kennen Sie sich schon.« Daraufhin nannte er den Grund seines Besuches im Stall. Als Antwort erntete er ein lautes Gelächter von Robert. Erst als er sich wieder beruhigt hatte, meinte er: »Ist es nicht schön? Endlich hat es mal den Richtigen erwischt.«

Diese Reaktion versetzte Anke einen solchen Schlag, dass ihr schlecht wurde. Was wollte er damit sagen? War Robert der Mann, den sie in ihm sehen wollte?

Auch Kullmann war sofort hellwach und fragte: »Wo waren Sie heute in den frühen Morgenstunden?«

»Leider habe ich kein Alibi«, hob Robert die Hände, als habe Kullmann eine Waffe auf ihn gerichtet. »Ich habe allein – leider allein – in meinem Bett gelegen.« Dabei schaute er unentwegt auf Anke. »Was ich geträumt habe, weiß ich noch, wollen Sie das auch noch wissen?«

Über sein anzügliches Benehmen schüttelte Kullmann den Kopf. Streng sagte er: »Ein Mord taugt nicht zum Spaßen. Ihnen dürfte bewusst sein, dass Sie sich verdächtig verhalten.«

Robert streifte seine arrogante Miene ab. Er nahm seine Hände herunter und sprach im normalen Ton: »Ich habe wirklich geschlafen um diese Zeit, weil ich Mittagschicht im Altenheim hatte und deshalb ausschlafen konnte. Heute habe ich einen freien Tag.«

Kullmann notierte sich sogleich das Altenheim, in dem Robert arbeitete. Es befand sich am Rand des Stadtwaldes, am Fuß des Schwarzenbergs an einer ruhigen Stelle. Obwohl es nur hundert Meter von der Straße entfernt war, entzog es sich neugierigen Blicken. Er kannte das Haus und wusste, dass dort nur Menschen ihren Lebensabend verbrachten, die es sich leisten konnten. Ganz in der Nähe lag der Wildpark St. Johann, den die Bewohner gern besuchten.

»Sie müssen sich zur Verfügung halten, Herr Spengler«, bemerkte Kullmann und folgte dann Anke, die im Begriff war, zu einem weiteren Reiter zu gehen, der ebenfalls gerade eingetroffen war.

Es war Helmut Keller, der mit seinem Auto und Pferdeanhänger in den Hof gefahren kam.

»Geht die Reise nach Warendorf endlich los?«, ging Anke auf ihn zu.

»Nein. Ich fahre nicht«, entgegnete der große Mann unfreundlich. Er wirkte sehr ungehalten, dass Anke ihn darauf ansprach.

»Oh! Ich dachte, du seiest seit langem wieder der erste aus dem Saarland, den man in den A-Kader berufen hätte.«

»Ich habe es mir anders überlegt«, kam als Antwort.

Das konnte Anke nicht glauben. Ein Turnierreiter von seinem Format lehnte ein solches Angebot nicht einfach ab.

»Sind deine Pferde krank?«, blieb Anke hartnäckig.

»Genau das.« Helmut Keller schien sehr kurz angebunden.

»Beide?«

»Beide!«

Anke wollte mit diesem Pferdegespräch eine Tür öffnen, aber nun erkannte sie, dass diese Taktik genau das Gegenteil bewirkt hatte. Deshalb nannte sie ohne weitere Umschweife den Grund, weshalb sie zusammen mit ihrem Chef am Stall war. Helmut Kellers Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er fragte: »Du bist bei der Polizei?«

»Ja. Warum so überrascht?«

Verlegen brachte Helmut Keller heraus: »Eigentlich hatte ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, was du arbeitest. Ich sehe dich ja nur ab und zu im Schulbetrieb reiten.«

»Ich bearbeite den Mord an Peter Biehler und befrage jeden, der ihn gekannt hat.«

»Hier im Stall hatte wohl jeder ein Motiv, dieses verräterische Schwein um die Ecke zu bringen«, schnauzte Helmut Keller Anke so unfreundlich an, dass sie einen Schritt zurückging.

»Warum nennst du Biehler ein verräterisches Schwein? Dass ihn hier keiner leiden konnte, wissen wir. Aber verräterisch ist neu für mich.«

Plötzlich stutzte Helmut Keller, als ihm die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. Eine Weile überlegte er, bis er antwortete: »Ich war wütend darüber, was er Robert vorgeworfen hatte. Vermutlich habe ich mich deshalb in meiner Wortwahl vertan.«

Anke nickte und schaute zu Kullmann, der mit den Schultern zuckte.

»Trotzdem muss ich dich jetzt nach deinem Alibi fragen«, blieb Anke standhaft, was ihr bei dem unfreundlichen Reiterkollegen nicht gerade leicht fiel.

Helmut Keller überlegte nicht lange: »Um diese Zeit schlafe ich.« Er schilderte seinen Tagesablauf, was alles plausibel klang, aber kein richtiges Alibi ergab.

»Wie gut kanntest du Peter Biehler?«

»Er war reiterlich eine absolute Niete, war rücksichtslos und streitsüchtig – zumindest hier im Stall. Wie er sonst war, weiß ich nicht, weil ich ihn nur hier erlebt habe«, erklärte Helmut Keller in einem abfälligen Tonfall. Sofort erinnerte sich Anke an das Streitgespräch, das Peter Biehler mit Helmut Keller auf dem Reitplatz geführt hatte.

»Ich habe zufällig ein sehr lautes Gespräch gehört, das du vor einigen Tagen mit Biehler geführt hast. Was hatte er damit gemeint, als er dich auf dem Reitplatz anschrie Wer hat denn hier die große Scheiße gebaut

»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern«, meinte Helmut und zuckte betont lässig mit den Schultern.

»Deine Antwort lautete Glaub nicht, dass du damit durchkommst. Das hörte sich für mich nicht gerade harmlos an«, fügte Anke noch an.

Helmut Keller schaute Anke nachdenklich an. Sein Blick verriet Unbehagen, was seinen gleichmütigen Tonfall Lügen strafte, als er meinte: »Ich kann mich beim besten Willen nicht an ein solches Gespräch erinnern.«

»Aber ich. Peter Biehler war dir gnadenlos in die Quere geritten, und daraufhin gab es dieses Wortgefecht zwischen euch beiden«, versuchte Anke Helmut Kellers Gedächtnis aufzufrischen. Aber Helmut Keller schüttelte beharrlich den Kopf: »Peter Biehler ist jedem in die Quere geritten und hat versucht, die Schuld auf andere zu schieben. Aber deshalb bringt man doch keinen um.«

Kullmann gab Anke zu verstehen, die Unterhaltung zu beenden. Sie entfernten sich von ihm und als der Abstand groß genug war, fragte Kullmann: »Was hatte Peter Biehler Robert immer vorgeworfen?«

Anke berichtete Kullmann von Roberts überraschender Erbschaft und von Biehlers verbalen Attacken, er habe sich diese Erbschaft erschlichen. Abschließend fügte sie an: »Er wollte mit allen Mitteln Roberts Ruf schädigen, was ihm aber nicht gelungen ist. Niemand hat ihm diese Geschichte geglaubt, ich auch nicht, weil Robert dazu gar nicht fähig wäre.«

Kritisch musterte Kullmann seine Mitarbeiterin. Sein Blick verriet jedoch, dass er mit dieser Erklärung nicht zufrieden war.

Schweigend schlenderten sie über den Hof und schauten zu den Pferden, die neugierig ihre Köpfe aus den Boxenfenstern streckten. Hinter sich hörten sie das laute Gepolter eines Pferdes, das gerade von Helmut Keller in den Hänger verladen wurde. Kurze Zeit später kam er mit dem zweiten Pferd heraus und verlud es. Anke interessierte es zwar, was er mit den Pferden vorhatte, verspürte aber nicht die geringste Lust, danach zu fragen. Zu unfreundlich war ihre Befragung mit ihm verlaufen, als dass sie noch Lust hätte, mit diesem Menschen zu plaudern.

Kullmann schaute sich eine Weile um, bis sein Blick auf die Reiterklause fiel.

»Wenn ich diese Klause sehe, fällt mir mein Hunger ein«, überlegte Kullmann laut. »Kann man dort etwas essen?«

»Ja sicher. Die gute Küche von Martha gibt es nicht, aber hier werden auch leckere Gerichte angeboten.«

»Da wir ja noch auf die übrigen Reiter warten müssen, schlage ich vor, wir vertreiben uns die Zeit bei einem Essen. Mit leerem Magen kann ich so schlecht denken«, schlug Kullmann kurz entschlossen vor. Gemeinsam stiegen sie durch den dunklen Gang die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich die Reiterklause befand. Die Wirtin wirbelte schon fleißig in der Küche, weil der Reiternachwuchs oft am frühen Nachmittag Lust auf Spaghetti hatte.

 

»Hallo, Anke«, grüßte sie. »Setzt euch doch raus auf die Terrasse. Von dort könnt ihr den Reitern zugucken, ist doch viel interessanter.«

»Ich möchte aber nicht in der prallen Sonne sitzen«, wehrte Kullmann ab, aber die Wirtin hatte schnell eine annehmbare Lösung. Sie ging mit den beiden hinaus und spannte einen großen Sonnenschirm auf, so dass Kullmann dem Vorschlag gar nichts mehr entgegensetzen konnte. »Ich habe den Schwenker angeschmissen«, meinte sie noch ganz nebenbei. »Nachher kommen noch einige Gäste, die unbedingt Schwenkbraten essen wollen. Wenn ihr wollt, kann ich euch auch einen machen.«

Bei dem Wort »Schwenkbraten« dachte Kullmann unwillkürlich an seinen großen Garten. Dort würde er, sobald er in Pension war, einen Grill aufstellen und den saarländischen Genüssen frönen. Schon jetzt konnte er sich darauf freuen.

Nach ihrer Bestellung stellte er Anke die Frage, die ihm auf der Seele brannte: »Wie gut kennen Sie Robert Spengler?«

»Ich habe ihn hier kennen gelernt«, wich Anke seiner Frage aus, aber Kullmann blieb beharrlich: »Ist er der Grund für das Leuchten in Ihren Augen?«

Auf Ankes Schweigen senkte Kullmann seinen Blick. An den Stirnfalten sah Anke, dass er weiter grübelte, bis er ein wenig besorgt fragte: »Obwohl Sie wussten, wer er war?«

»Ich habe es erst erfahren, als es mich schon erwischt hatte.«

Kullmann schaute sie lange an, bis er meinte: »Sie tun nichts Unrechtes. Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Robert ist nicht schuld am Tod seiner Mutter, sein Alibi ist wasserdicht.«

Erleichtert atmete Anke auf.

Kullmann überlegte eine Weile und meinte dann: »Robert müsste jetzt genau vierzig Jahre alt sein. Wenn ich mich recht erinnere, ist er im Dezember geboren.«

Wieder spürte Anke bei den Überlegungen, die Kullmann gerade anstellte, dass der Fall Luise Spengler sehr eng mit Kullmanns eigener Vergangenheit verbunden war.

Schweigend warteten sie auf ihre Bestellungen.

Als die Wirtin mit den Getränken zurückkam, fragte Anke: »Wie gut kanntest du Peter Biehler und seine Frau Sybille?«

»Nur vom Hörensagen. Wieso kanntest? Haben die beiden Störenfriede uns endlich verlassen?«

Diese Frage musste Anke verneinen. Sie erzählte ihr, was passiert war und wer ihr Begleiter war. Die Frau, die sonst kaum aus der Ruhe zu bringen war, wirkte sichtlich überrascht.

»Na ja. Hier oben waren die beiden nie, und das war auch gut so. Die konnte keiner leiden, mit wem hätten sie schon reden können. Aber ich glaube nicht, dass einer von uns Peter deshalb gleich umbringen würde. Das ist nicht gerade der Stil der Reitersleute.«

»Und was ist der Stil der Reitersleute?«, hakte Kullmann nach.

»Ich habe schon erlebt, dass unbeliebte Einsteller mal ordentlich verprügelt wurden. Aber ermordet wurde bisher noch keiner.«

Damit ließ sie die beiden wieder allein.

»Das klingt auch für mich einleuchtend. Streitigkeiten wegen rücksichtslosen Verhaltens haben bisher äußerst selten bis zum Mord geführt. Darin kann ich also kein stichhaltiges Motiv erkennen«, bemerkte Kullmann und beobachtete, wie Nadja Basten auf ihren braunen Wallach aufstieg und mit ihm im Schritt über den Platz ritt.

Kullmann schaute sich um, atmete tief den Duft von Ställen und Pferden ein und bemerkte: »Das ist also Ihr neues Hobby.«

Anke nickte.

Lachend fügte Kullmann an: »Ich weiß, dass ich Ihnen immer geraten habe, etwas für sich zu tun. Wenn ich mir dieses Treiben hier so ansehe, dann freue ich mich, dass Sie meinen Rat befolgt haben.«

»Oh ja! Hier erlebe ich einen wunderbaren Ausgleich, wenn die Arbeit sehr stressig und nervig war. Ein besseres Hobby konnte ich wirklich nicht finden.«

»Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ausgerechnet mit dem Reiten anzufangen?«

»Das ist nicht schwer zu erklären: Als wir unseren schwierigen Fall vor fast drei Jahren erfolgreich abgeschlossen hatten, bin ich oft zu einer Pferdekoppel gefahren und habe dort den Pferden zugeschaut, wie sie voller Lebensfreude und Energie über die Wiesen galoppiert sind. Der Anblick von Schönheit, Kraft und vitaler Freude hat mich dazu motiviert, es einfach mal zu versuchen.«

»Und es hat sich bewährt«, fügte Kullmann lachend an.

Während sie ihren deftigen Schwenkbraten aßen, trafen nach und nach alle Reiter ein und der gewohnte Lärm von scharrenden und wiehernden Pferden, lachenden Kindern und schimpfenden Erwachsenen stellte sich ein. Immer mehr Reiter kamen auf den Reitplatz und übten mit ihren Pferden. Anke vermisste Robert. Wie gerne hätte sie ihn mal reiten sehen.

Dann kam Doris Sattler. Schon ihre Art, wie sie aus dem Auto stieg, erregte Aufmerksamkeit. Sie trug eine maisgelbe Reithose, die schon fast an Turnierkleidung erinnerte, dazu eine Bluse, die so eng anlag, dass ihre weiblichen Reize bestens betont wurden. Mit elegantem Hüftschwung stolzierte sie durch den Hof zum Stall.

»Wer ist das?«, fragte Kullmann.

»Doris Sattler. Sie hat hier ebenfalls ein Pferd stehen.«

Kullmann bezahlte die Rechnung, da er Anke eingeladen hatte, und folgte ihr hinunter in den Stall.

Als Anke sah, wo Doris stehen blieb, spürte sie sofort große Wut. Doris stand ganz dicht vor Robert, als wollte sie sich an ihn schmiegen.

Nepomuk war bereits gesattelt und wartete auf seinen Einsatz, aber die beiden waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie das Pferd vergaßen. Es sah so aus, als bliebe Robert bei seinem Vorhaben, ausgerechnet Doris sein Pferd anzuvertrauen. Anke brodelte innerlich.

Sie stellte sich hinter die beiden und machte mit einem Räuspern auf sich aufmerksam. Doris drehte sich um und schaute Anke so trotzig ins Gesicht, dass Anke sich über die Arroganz ärgern musste. Was geschieht zwischen den beiden? schoss es ihr sofort durch den Kopf. Die selbstsichere Miene spiegelte gelassene Zuversicht wider, die Anke ins Hintertreffen geraten ließ. Das durfte sie nicht zulassen.

»Den Tritt ans Bein hast du ganz gut überstanden«, leitete Anke das Gespräch widerstrebend ein.

Gelangweilt schaute Doris an ihrem makellosen Körper herunter und meinte: »Es ist ein schöner, dicker, blauer Fleck. Willst du ihn mal sehen?«

»Nein danke! Deshalb bin ich nicht hier …«

»Ich weiß, warum du hier bist«, fiel Doris ihr ins Wort. »Robert hat mich darüber informiert, wer oder besser gesagt was du bist.«

»Schön, dann hat Robert mir ja viel Arbeit abgenommen«, konterte Anke geschickt. »Und warum bin ich hier?«

»Du willst mein Alibi wissen: Da kann ich dir versichern, dass ich zu Hause war und geschlafen habe. Leider allein.« Dabei richtete Doris ihren Blick auf Robert.

»Danke für die Details«, grinste Anke. »Aber die benötigen wir nicht für unsere Ermittlungen. Vielleicht rufst du mal bei der Telefonseelsorge an, das ist für dein Problem die richtige Adresse.«

Doris wollte gerade etwas entgegnen, als Kullmann sich dem giftigen Treiben näherte und das Gespräch übernahm: »Frau Sattler, wir möchten Sie gerne allein sprechen.«

Unwillig folgte sie den beiden nach draußen in den Hof, während Robert sein Pferd auf den Reitplatz führte.

Als die drei ungestört waren, sagte Kullmann: »Wir möchten gerne von Ihnen den Namen und die Anschrift Ihres Bruders wissen.«

»Ich habe keinen Bruder.«

»Frau Sattler, lügen Sie uns nicht an. Sie handeln sich nur Schwierigkeiten ein«, erklärte Kullmann ruhig und gelassen.

»Wenn ich es Ihnen doch sage. Ich habe Adoptiveltern. Wo soll da ein Bruder sein?«

»Hatten Ihre Adoptiveltern keine eigenen Kinder?«

»Meine Adoptiveltern sind schon sehr alt. Was in dieser Familie früher los war, weiß ich nicht und es interessiert mich auch nicht«, ließ Doris sich nicht beirren.

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