Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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From the series: Kullmann-Reihe #2
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Kapitel 3

Am Montagmorgen wurde Anke wieder von der Sonne geweckt. Die unruhige Nacht zeigte ihre Spuren, denn sie fühlte sich übernächtigt. Aber die Erinnerungen an den letzten Tag hoben ihre Laune mächtig an. Sie fuhr zur Dienststelle. Zuerst kochte sie Kaffee, der obligatorische Beginn ihres Arbeitstages. Kullmann war schon da und las wie üblich zu dieser frühen Stunde in der Lokalzeitung. Als Anke sein Büro betrat, wirkte er nachdenklich.

Sie sprach ihn auf seine bekümmerte Miene an, worauf er antwortete: »Die Zeitungsberichte bringen Details, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Das erschwert unsere Arbeit.«

»Sie sind doch durch solche Kleinigkeiten nicht zu erschüttern. Ich vertraue auf Sie, egal, was die Zeitungen berichten«, stellte Anke klar.

Kullmann freute sich über dieses Lob.

Sein Gesicht hellte sich auf, als er Anke ansah. Seine Lesebrille, die kunstvoll auf seiner Nasenspitze balanciere, nahm er ab, setzte ein schelmisches Grinsen auf und fragte: »Was ist Ihnen denn Gutes widerfahren?«

Anke errötete sofort, was Kullmann mit einem noch breiteren Grinsen bedachte.

»Sie brauchen nicht zu antworten«, winkte Kullmann sogleich ab, als er merkte, wie verlegen Anke geworden war. »In jungen Jahren muss man sich verlieben, das macht das Leben erst richtig lebenswert.«

»Sie sprechen wohl aus Erfahrung?«, entgegnete Anke ebenfalls schelmisch.

»Wissen Sie, wenn man so alt ist wie ich, hat man unweigerlich seine Erfahrungen gemacht. Auch wenn ich nicht viel darüber rede, so gab es auch in meinem Leben schon sehr glückliche Zeiten«, schwelgte er in seinen Erinnerungen. »Es hat nichts zu sagen, dass ich nicht verheiratet bin.«

»Sind Sie der notorische Junggeselle?«, wollte Anke wissen, die sehr froh darüber war, dass Kullmann von seinem Leben erzählte, was leider zu selten vorkam.

»Das nicht. Es kam eben immer anders. Vor Jahren schon habe ich damit aufgehört, alles genau zu hinterfragen.« Nach einer kurzen nachdenklichen Pause murmelte er: »Man bekommt nie eine Antwort.«

Verwundert über die Niedergeschlagenheit, die Kullmann plötzlich zu befallen schien, schaute Anke ihren Chef an. Deutlich spürte sie, dass es etwas gab, was Kullmann mehr beschäftigte, als er zuzugeben bereit war. Aber sie durfte nicht vergessen, dass sie nur seine Mitarbeiterin war, warum also sollte er gerade ihr seine privaten Geheimnisse verraten?

»Ich möchte Sie nicht mit meinen Belanglosigkeiten belästigen …«

»Damit können Sie mich gar nicht belästigen«, widersprach Anke heftig. »Im Gegenteil, alles, was Sie über sich erzählen, interessiert mich. Von Belanglosigkeiten kann gar keine Rede sein. Es ist für mich eine ganz besondere Ehre, wenn Sie mir vertrauen.«

Kullmann lächelte und winkte ab: »Sie schmeicheln mir mal wieder so charmant, dass ich mich gleich viel besser fühle. Aber unsere Ermittlungen befinden sich an einem Punkt, der es mir wirklich sehr schwer macht, an mich selbst zu glauben. Endlich ist der Zeitpunkt für mich gekommen, in Rente zu gehen. Und nun das. Ich leite Ermittlungen, die so ergebnislos verlaufen wie noch nie während meiner gesamten Dienstzeit. Wahrscheinlich habe ich den Zeitpunkt meines Wegganges einfach nur falsch gewählt – oder verpasst. Ich hatte hier weiß Gott schon bessere Zeiten.«

»Gibt es denn etwas Bestimmtes, was Sie so quält?«

Kullmann räusperte sich und zögerte eine Weile, bis er sprach: »Nimmsgern hatte zum Zeitpunkt seiner Ermordung an dem Fall Spengler gearbeitet. Ich hege den Verdacht, dass Nimmsgern ein Beweisstück bei sich hatte, als er erschossen wurde, und dass dieser Beweis nun in den Händen seines Mörders ist. Nur: Wer profitiert davon, wenn der Fenstersturz von Luise Spengler nicht aufgeklärt wird?«

»Wie kommen Sie darauf, dass Nimmsgern einen Beweis bei sich hatte?«, stutzte Anke. Wieder fiel ihr das geheimnisvolle Gehabe von Nimmsgern ein, als er am Tag seiner Ermordung das Büro verlassen hatte.

»Weil Theo, der Leiter der Abteilung Kriminaltechnik, mich angerufen und mir mitgeteilt hat, dass ein Kollege der Spurensicherung Fingerabdrücke in Luise Spenglers Zimmer sichergestellt habe, diese Karte allerdings niemals im Labor angekommen sei, wo sie mit den Daten des Automatisierten Fingerabdruck-Identifizierungs-Systems verglichen werden sollten. Nach dem Bericht der Spurensicherung war Nimmsgern bei allen Untersuchungen, die dort angestellt worden sind, persönlich anwesend. Er hatte sich bei den Kollegen bereit erklärt, die Proben selbst ins Labor zu bringen.«

»Das überrascht mich«, wandte Anke ein.

Kullmann bestätigte Ankes Einwand und setzte seinen Bericht fort. »Außer der Fingerabdruckkarte ist alles im Labor angekommen. Ich habe gerade mit dem Aktenführer gesprochen, der alle Ergebnisse der Spurensicherung akribisch genau abheftet und beschriftet. Diese Fingerabdruckkarte ist niemals in seinen Händen gelandet, sonst wäre sie auffindbar. Da Luises Zimmer nach der Spurensuche wieder freigegeben wurde, war es nicht mehr möglich, diese Fingerabdrücke ein zweites Mal sicherzustellen, weil die Putzfrau dort gründlich gereinigt hatte. Diese Karte könnte der Schlüssel unserer Ermittlungen sein. Deshalb vermute ich, dass Nimmsgerns Mörder diese Unterlagen an sich genommen hat.«

»Das hört sich wirklich abenteuerlich an. Was veranlasst Sie, zu glauben, Nimmsgerns Mörder hätte ein Motiv, die Ermittlungen an Luises Tod zu boykottieren? Es gibt doch immer Verrückte, die Polizisten hassen. Im Grunde kann es doch auch ein Anschlag auf die Polizei im Allgemeinen gewesen sein«, zweifelte Anke.

»Das stimmt und solange sich kein Zeuge meldet oder sonst etwas geschieht, werden wir nie herausfinden, wer Nimmsgern erschossen hat.«

»Mit sonst etwas geschieht meinen Sie doch nicht etwa, dass noch ein Kollege ermordet werden könnte?«, hakte Anke nach.

»Ach was, ich will Sie doch nicht verunsichern. Ich bin nur verzweifelt darüber, wie wenig erfolgreich unsere Ermittlungen in diesen beiden Fällen bisher waren. So schlecht haben wir noch nie dagestanden.« Kullmann machte eine kurze Pause, bevor er anfügte: »Ich werde nicht in meinen Ruhestand gehen können, solange nicht alles aufgeklärt ist; schließlich soll es nicht so aussehen, als wollte ich mich aus der Affäre ziehen.«

»Seien Sie doch nicht so ungeduldig. Immerhin haben Sie schon herausgefunden, dass Luise Spengler sich scheiden lassen wollte. Das ist ein äußerst wichtiges Indiz«, erinnerte Anke ihren Chef.

»Das ist es ja gerade. Inzwischen weiß ich nämlich, dass Nimmsgern auch schon bei dem Anwalt war. Aber wo ist in den Akten etwas vermerkt? Nirgends! Hier geschehen Dinge, die sich meiner Kenntnis entziehen.«

»Vielleicht war er erst kurz vor seiner Ermordung beim Anwalt und nicht mehr dazu gekommen, den Eintrag vorzunehmen«, spekulierte Anke.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ganz einfach, weil Nimmsgern an seinem letzten Tag stolze Andeutungen losließ, dass er in diesem Fall einen gewaltigen Schritt weitergekommen sei. Aber Sie kannten ihn ja, er hat aus allem ein Geheimnis gemacht. Er wollte mir erst am nächsten Tag sagen, was er herausgefunden hatte, aber dazu kam es nicht mehr.«

»Und das erfahre ich erst jetzt«, schimpfte Kullmann sogleich los.

»Tut mir leid, aber ich hielt es nicht für wichtig. Nimmsgern hat oft so dahergeredet«, entschuldigte sich Anke - ganz entsetzt über die Heftigkeit ihres Chefs.

Kullmann sagte darauf wieder etwas besänftigt: »Oh Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht so anfahren, schließlich weiß ich genau, dass Sie immer einen untrüglichen Spürsinn besitzen. Vermutlich war Nimmsgerns Getue wirklich nicht so wichtig. Warum sollte ich mich also noch darüber aufregen?«

Erleichtert atmete Anke wieder durch: »Sie haben bisher alles aufgeklärt und werden bis zu ihrer Pensionierung alles zum Abschluss bringen.«

»Wie schaffen Sie das nur, in diesem Schlamassel so positiv zu denken?«, fragte er zweifelnd.

»So schlecht, wie Sie meinen, stehen wir gar nicht da. Wir sind doch schon gut vorangekommen. Wir lösen den Fall mit Sicherheit«, erklärte Anke zuversichtlich.

»Was heißt hier gut vorangekommen? Luise Spenglers Tod liegt inzwischen neun Monate zurück, und wir haben nicht mehr als ein Dutzend unbewiesener Vermutungen und den ständigen Antrag der Amtsleitung, Luise Spenglers Fenstersturz als Unfall abzuschließen. Dabei weiß ich genau, dass es Mord war. Und was Nimmsgern betrifft, sieht es auch nicht besser aus, nur dass seine Ermordung sechs Monate zurückliegt und alle Vermutungen sich als haltlos erwiesen haben. Wie sehen Ihrer Meinung nach denn wirklich schlechte Ermittlungen aus?«

Darauf gab Anke lieber keine Antwort, sondern ging in ihr Büro zurück. Aber Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht. Kaum saß sie an ihrem Schreibtisch, klingelte das Telefon. Am Klingelzeichen war zu erkennen, dass es ein interner Anruf war. Als sie abhob, erschrak sie. Ein obszönes Angebot tönte durch den Hörer an ihr Ohr, mit detaillierten Ausführungen, die Anke sich nicht bis zum Ende anhören wollte. Sie knallte den Hörer auf. Die Stimme hatte sie nicht erkennen können. Trotzdem ahnte Sie, wer hinter diesem schmutzigen Scherz steckte.

Seit sie sich von Hübner getrennt hatte, respektierten sie sich gegenseitig. Hübner hatte ihre Entscheidung zwar nur schweren Herzens akzeptiert, aber er hatte eingesehen, dass er keine Chance mehr bei ihr hatte. Auch wenn er immer noch versuchte, Sympathien bei ihr zu wecken, traute sie ihm solche Spielchen einfach nicht zu. Also blieb nur Esche. Gerade war sie zu dieser Erkenntnis gekommen, als er ohne anzuklopfen eintrat und die Tür hinter sich zuwarf.

 

»Was willst du mit diesen Obszönitäten erreichen?«, schimpfte Anke ihn sofort an.

»Tu nicht so unschuldig. Ich habe dich gestern zufällig mit Robert Spengler zusammen gesehen. Ihr beide habt nicht so ausgesehen, als würde es beim Händchenhalten bleiben.«

Anke schwieg.

»Sollen das jetzt die neuesten Ermittlungsmethoden sein? Du gehst mit einem Zeugen ins Bett, damit er mehr ausplaudert oder was? Dass Robert der Sohn von Luise Spengler ist, wird dir doch wohl nicht entgangen sein, also was soll das Schmierentheater?“ Esche wartete erst gar keine Antwort ab, sondern sprach weiter: „Ist dir der Erfolg so wichtig? Wenn du meinst, mit solchen Ermittlungsmethoden den schnellen Aufstieg für deine Karriere zu sichern, muss ich dich enttäuschen. Ich werde nämlich melden, dass du mit unlauteren Methoden arbeitest, Schätzchen. Dein Körpereinsatz wird dir nichts nützen.«

Anke war für einen Augenblick sprachlos über so viel Dreistigkeit. Hatte Esche sie tatsächlich am Wochenende überwacht, um sie bloßstellen zu können? Aber warum nur? Er war mit dem Fall Spengler doch gar nicht betraut.

»Und nun erzähl mir nicht, dass der Sohn der Mutter von dem Tod der eigenen Mutter nichts weiß«, fügte er gehässig an.

Anke wollte sachlich bleiben, obwohl es in ihr brodelte. Sie zwang sich zu einem kühlen Ton: »Robert hat mit dem Tod seiner Mutter nichts zu tun. Das müsstest du doch noch wissen nach deinen eigenen Ermittlungen, die du mit Nimmsgern durchgeführt hast. Ihr habt Robert verhört, und es kam dabei heraus, dass er zum Zeitpunkt des Mordes an Luise Spengler gar nicht hier war.«

»Robert Spengler hat dich schon voll im Griff«, bemerkte Esche sarkastisch. »Im Blenden ist er ein Meister, stelle ich fest. Wie ist es ihm so schnell gelungen, dich zu erobern, während ich mir die Hacken dafür ablaufen muss?«

Anke kochte innerlich: »Hast du nichts Besseres zu tun, als mir nachzuspionieren?«

»Nein, ich habe nichts Besseres zu tun. Schließlich bin ich bestens darüber informiert worden, dass du ganz schön gerissen sein kannst, wenn es um deine eigenen Bedürfnisse geht.« Esche kam Anke bedrohlich nah. »Aber ich habe auch Bedürfnisse. Vergiss diesen Robert. Wenn deine Libido verrücktspielt, so schweife nicht in die Ferne, denn das Gute liegt so nah. Schau mich an, ich habe einen tadellosen Körper«, präsentierte er sich mit ausgebreiteten Armen. »Wir könnten es jetzt und hier tun. Auf dem Schreibtisch soll es verdammt aufregend sein.«

Ankes Kopf fühlte sich an, als müsste er platzen. Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter und das Herz schlug rasend schnell. Was bezweckte Esche mit diesem widerlichen Erpressungsversuch? Hatte er tatsächlich vor, ihr Steine in den Weg zu legen, weil sie sich mit Robert traf? Und an sein Gefasel, wie gerissen sie sein konnte, wollte sie keinen Gedanken verschwenden. In ihrer bisherigen Laufbahn gab es nichts, woraus man ihr einen Strick drehen könnte.

»Raus!« Wütend zeigte sie ihm die Tür.

»Zier dich doch nicht so. Wie ich aus guter Quelle weiß, bist du ein ganz liebestolles Mäuschen. Jede Stellung ist dir ein Hochgenuss.«

Ankes Kopf glühte, als sie diese Anspielungen hörte.

»Du bist ein kluges Köpfchen und deshalb weiß ich genau, dass du bald nachgeben wirst. Denn ich habe dich in meiner Hand, Süße, und wenn du meinst, dich zieren zu können, werde ich mit meinen Informationen zu Kriminalrat Wollny gehen.«

»Du kannst mir noch so viel drohen, darauf falle ich nicht rein.«

Esche lächelte herablassend: »Weißt du überhaupt, von welchem Fall wir hier reden?«

Sie wollte an die Tür stürmen und sie aufreißen, doch Esche stellte sich ihr in den Weg. Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, fuhr Anke mit einem schrillen Schrei zurück. Esche schaute sie eindringlich an und meinte beschwichtigend: »Ich tu dir nichts.«

Mit einem Grinsen ging er hinaus und flüsterte ihr zu: »Du wirst von ganz alleine zu mir kommen.«

An Arbeiten war nicht mehr zu denken. Schmerzlich wurde Anke bewusst, dass sie Esche allein gegenüberstand. Seine Angriffe auf ihr Privatleben, ihre berufliche Arbeit und auf ihre Integrität als Frau lasteten als dickes Paket auf ihren Schultern. Sie befürchtete, dass Kullmann ihr nicht glauben würde, wenn sie ihm diesen Vorfall meldete, weil dessen Meinung über Esche viel zu hoch war.

Den Rest des Vormittags konzentrierte sie sich verbissen auf die Akten, die auf ihrem Schreibtisch lagen, um den Vorfall zu vergessen. Als die Mittagspause näher rückte, spürte sie, dass es ihr wieder besser ging. Esche verschwand in immer weitere Ferne, so dass ihr die morgendliche Situation schon fast wie ein böser Traum vorkam.

Umso mehr freute sie sich, als Kullmann ausgerechnet in dieser Mittagspause unerwartet in ihr Büro trat und sie zu einem deftigen Mittagessen in Marthas Kneipe einlud. Lange war sie nicht mehr in diesem gemütlichen Lokal gewesen, dessen Atmosphäre sie vermisst hatte. In letzter Zeit hatte Kullmann sie nicht mehr gefragt, ob sie mitkommen wollte, was sie nachdenklich gestimmt hatte. Oft hatte sie sich gefragt, ob sie ihm einen Grund dafür gegeben hätte. Weil sie diese Frage nicht beantworten konnte, hatte sie sich dabei unglücklich gefühlt. Aber heute zeigte ihr seine Geste, dass ihre Bedenken einfach nur voreilig gewesen waren; begeistert stimmte sie seiner Einladung zu.

Kaum hatten sie das Lokal betreten, rief ihnen Martha zu, dass sie im Hof einen Tisch bereitgestellt hatte. Bei dem schönen Wetter war das eine ganz besonders gute Idee. Anke ging vor und setzte sich. Als sie auf ihren Chef wartete, fiel ihr auf, wie lange er brauchte, bis er zum Tisch zurückkehrte.

»Heute gibt es Kartoffel-Lyoner-Pfanne. Eines meiner Lieblingsessen hier«, berichtete er froh gelaunt.

Martha brachte ihnen ihre Bestellungen und plauderte noch ein wenig mit Kullmann. Der Umgangston wirkte verändert, aber Anke wusste nicht, was sich geändert hatte. Sie fühlte sich wie immer sehr wohl bei Martha und vergaß bei dem guten Essen einfach, darüber nachzudenken, was sich zwischen den beiden geändert haben könnte. Das Einzige, was ihr sofort auffiel war, dass Kullmann kein Bier trank. Er hatte sich Sprudel bestellt. Also bestellte sie das Gleiche. Gut gesättigt verließen sie das Lokal und schlenderten durch die Sonne zurück zum Landeskriminalamt.

Plötzlich sahen sie Kurt Spengler in Begleitung einer Rothaarigen, deren Make-up im Sonnenlicht viel zu grell wirkte. Die beiden kamen direkt auf Kullmann und Anke zu. Erst als Kurt Spengler ganz dicht vor Kullmann stehen blieb, forderte er seine Begleiterin auf weiterzugehen, was diese auch widerstandslos tat. Er postierte sich so breit auf dem Weg, dass Kullmann und Anke nicht vorbeigehen konnten. Anke sah, dass Kullmann kreideweiß im Gesicht geworden war. Die Luft zwischen den beiden Männern wurde so spannungsgeladen, dass sie knisterte. Anke entfernte sich ebenfalls einige Schritte, blieb aber so nah, dass sie jedes Wort verstehen konnte.

»Du gibst es nie auf, was?«, sprach Spengler in einem ironischen Tonfall.

»Niemals! Du hast Luise auf dem Gewissen und ich werde dir das beweisen«, entgegnete Kullmann böse.

Spengler lachte bissig: »Dass du damals gegen mich verloren hast, hast du niemals verkraftet, nicht wahr? Nun siehst du deine einmalige Chance, es mir heimzuzahlen. Aber vergiss nicht, mit wem du es zu tun hast. Was bist du schon im Gegensatz zu mir? Ein kleiner Schnüffler, der im Schmutz anderer Leute wühlt. Ich habe es dagegen zu etwas gebracht; ich habe Karriere gemacht. Außerdem schwelge ich in Reichtum und Luxus. Wenn du dich wirklich mit mir messen willst, musst du gut aufpassen, dass du dich nicht übernimmst, lieber Norbert.«

»Dir wird das Lachen noch vergehen. Dein Spiel ist aus! Mit dem Mord an deiner Frau bist du einen Schritt zu weit gegangen.« Mit diesen Worten ließ Kullmann sein Gegenüber stehen und setzte seinen Weg fort, wobei er Anke völlig außer Acht ließ. Still stand sie am Rand des Bürgersteigs und schaute ihrem Chef nach.

»Luise ist tot, was nützen dir also noch deine Bemühungen. Vielleicht hättest du mal früher aus deiner Lethargie erwachen sollen. Hahaha!« Kurt Spengler lachte so künstlich und so laut, dass es über die ganze Straße schallte.

Kapitel 4

Nach Feierabend fuhr Anke zum Reitstall. Als sie nach Rondo schauen wollte, war die Box leer.

Enttäuscht ging sie weiter.

Peter Biehler und Sybille hatten ihre beiden Pferde in der engen Stallgasse angebunden und waren damit beschäftigt, sie zu satteln und zu trensen. Es schien alles wieder völlig normal zwischen den beiden zu sein, stellte Anke erstaunt fest. Ob Sybille es gewohnt war, von Biehler vergessen zu werden?

Aus sicherer Entfernung sah sie, wie Doris Sattler ihr Pferd durch die Stallgasse führte. Wie sie an Biehlers Pferden vorbeikommen wollte, war Anke ein Rätsel. Die Stallgasse war zu eng.

»Kannst du mich bitte mit meinem Pferd vorbeilassen«, bat Doris höflich, doch Biehler reagierte nur ganz lässig: »Wenn ich soweit bin.«

Damit brachte er Doris natürlich gleich auf die Palme: »Ich warte doch nicht, bis du fertig bist. Lass mich gefälligst durch!«

Biehler drehte sich betont langsam um und sagte gleichgültig: »Sieh doch zu, wie du vorbeikommst. Ich werde mein Pferd jedenfalls jetzt nicht hier wegstellen.«

Wütend versuchte Doris ihr Pferd an Biehlers Schimmel vorbei zu drängen. Da knallte es auch schon. Der Schimmel legte die Ohren an, drehte sich hastig in der engen Stallgasse und schlug gezielt nach Doris aus. Mit einem dumpfen Geräusch fiel Doris rückwärts in die Stallgasse und blieb genau vor Ankes Füßen liegen.

Anke überlegte gerade, ob sie nach ihr sehen sollte, als sie sofort aufstand und schrie: »Die Pferde sind genauso blöd wie ihre Besitzer. Die Böcke gehören beide zum Metzger.«

»Pass auf, was du sagst! Wenn du zu dämlich bist, dein Pferd aus der Box zu führen, lasse ich mich von dir nicht beleidigen. Meine Pferde haben das auch nicht nötig. Wir werden ja noch sehen«, erwiderte Sybille genauso lautstark.

»Oh ja, das werden wir. Unterschätzt mich nicht! Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben.«

Wutentbrannt hinkte Doris hinter ihrem Pferd her, das erschrocken an ihr vorbeigelaufen war und dem Ausgang der Stallgasse zusteuerte. Glücklicherweise lief er nicht vom Stall weg, sondern trottete durch den sonnigen Hof und begrüßte alle Pferde, die aus ihren Boxenfenstern herausschauten. Erleichtert nahm Doris den Strick, der vom Halfter herunterhing und band das Pferd an die Anbindestelle.

Nadja stand immer noch vor der Box ihres Pferdes und wartete ab, bis die Luft wieder rein war, bevor sie ihr Pferd herausführte. Ihre kleine Hündin war jedoch so aufgebracht über die Streitereien, dass sie laut kläffend in der Stallgasse herumsprang, bis Biehler schnurstracks auf sie zuging und nach ihr treten wollte. Nadja sprang mit einem Satz auf ihre Hündin zu und rettete sie vor dem Tritt, indem sie sie auf den Arm nahm.

»Ich warne dich«, schrie Nadja aufgebracht.

Endlich trat der Stallbesitzer hinzu. Er forderte Biehler und Sybille auf, zusammen mit ihren Pferden aus der Stallgasse zu verschwinden, bevor ein weiteres Unglück geschähe.

Anschließend führte Nadja ihr Pferd aus der Box heraus. Anke gesellte sich zu ihr und streichelte den süßen kleinen Hund.

»Was ist das für ein süßer Kerl«, schwärmte sie, während die kleine Hündin fröhlich an ihren Beinen hochsprang und mit ihrem Stummelschwänzchen rekordverdächtig wedelte.

»Sie heißt Arabella«, erklärte Nadja. »Sie liebt nur die Menschen, die es gut mit ihr meinen, und das merkt sie sofort. Du bist also ein guter Mensch.«

Anke musste darüber lachen und spielte weiter mit dieser munteren Hündin.

»Hat sie sich noch nie geirrt?«, fragte sie, doch darüber musste Nadja lachen: »Niemals: Sie riecht den Erzfeind auf hundert Meter gegen den Wind. Arabella schnüffelt auf Olympianiveau.«

Beide lachten herzlich, die drückende Spannung, die noch vor kurzem in der Stallgasse geherrscht hatte, verflog.

Erst nachdem Nadja ihr Pferd vor seiner Box angebunden hatte, meinte sie: »Gott sei Dank hat der Stallbesitzer mal ein Machtwort gesprochen.«

»Sind hier eigentlich alle Reiter so zerstritten?«, fragte Anke, die für diesen Tag eigentlich schon genug Enttäuschungen hatte hinnehmen müssen. Der ersehnte Trost bei Rondo war ihr leider nicht vergönnt gewesen. Stattdessen wäre sie fast in einem brodelnden Vulkan gelandet.

 

»Nein, eigentlich nicht. Peter und Sybille sind die einzigen, die hier überall anecken.«

»Das hört sich so an, als suchten sie die Konfrontation«, staunte Anke.

»Ja, so kann man das sehen. Keiner versteht die beiden. Peter reitet so schlecht, dass wir uns alle darüber wundern, dass er es nicht schon lange aufgegeben hat. Vielleicht ist er so ungenießbar, weil er sportlich eine Niete ist. Wer weiß?«, zuckte Nadja die Schultern.

»Aber warum tut hier niemand etwas dagegen?«, bohrte Anke weiter.

»Ganz einfach: der Stallbesitzer ist mit ihnen befreundet. Wer sich mit Peter und Sybille anlegt, riskiert, mit seinem Pferd rausgeschmissen zu werden«, erklärte Nadja die Situation.

»Meine Güte! Das heißt also, ihr müsst euch mit Biehler arrangieren oder gehen?«, staunte Anke.

»Genau so ist es.«

»Das hört sich nicht gut an«, stellte Anke beunruhigt fest. »Was meinte Doris eigentlich mit ihrer Drohung, dass man sie nicht unterschätzen soll?«

»Keine Ahnung«, zuckte Nadja mit den Schultern. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ihr Bruder mal wegen Körperverletzung im Knast gesessen hat. Aber das ist schon eine Weile her.«

Anke ging hinaus in den Hof. Dort standen die beiden Pferde von Peter Biehler in der Sonne. Sibylle war allein, von Biehler keine Spur. Neugierig geworden, ging Anke zum Reitplatz, aber auch dort war er nicht. Was hatte das wieder zu bedeuten, fragte sie sich gerade, als sie ein lautes Krachen hörte, das aus der Richtung hinter dem Stall herüber lärmte. Einige der Reiter eilten erschrocken in diese Richtung. Dort befanden sich mehrere Schubkarren und zwei große Misthaufen. Anke folgte den Neugierigen. Was sie dort zu sehen bekam, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Biehler war rasend vor Wut, schrie unkontrolliert herum und trat gegen die Schubkarren, die ordentlich in einer Reihe aufgestellt waren. Er tat das mit solcher Wucht, dass sie umfielen. Nur der letzte Schubkarren in der Reihe war voll beladen mit Mist. Als er an diesen kam, warteten alle gespannt, was er tun würde. Aber auch vor diesem Schubkarren machte Biehler nicht Halt, als habe er nicht gesehen, dass er beladen war. Mit aller Kraft trat er dagegen. Der Schubkarren bewegte sich keinen Millimeter, nur Biehler stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, hielt sich den schmerzenden Fuß fest und sprang wie ein Verrückter auf einem Bein hin und her. Zu allem Überfluss mussten die Zuschauer herzhaft lachen, was ihn nur noch rasender machte. Um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, verzogen sie sich schnell wieder und widmeten sich ihren Pferden. Nur Anke blieb vor Biehler stehen, der immer noch seinen schmerzenden Fuß hielt. Ihre Schadenfreude darüber verbergend sagte sie: »Ich werde morgen deinen Dienststellenleiter informieren. Das zieht ein Disziplinarverfahren nach sich, darauf kannst du dich verlassen!« Sie drehte ihm sofort den Rücken zu, um deutlich zu zeigen, dass sie keine Antwort erwartete.

Obwohl sie äußerlich ganz lässig wirkte, brodelte sie innerlich. Gegen ihren Willen beschäftigte sie sich mehr mit Biehler als gut für sie war. Je mehr sie darüber nachdachte, umso deutlicher spürte sie eine große Ähnlichkeit mit Esche. Biehlers protziges Auftreten mit seinen beiden Pferden und dem auffallend großen, luxuriösen Transporter erinnerte Anke an Esches Angeberei mit seinen Designerklamotten, seinem teuren Schmuck und seiner Rolex am Arm. Beide zeigten offen ihre Abneigung gegenüber Robert. Beide waren rücksichtslos und unverschämt. In Esches Nähe konnte sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. In Biehlers Nähe konnte sie sich nicht am Reiten erfreuen. Da hatte sie sich so sehr einen Ausgleich für ihre Arbeit gewünscht, eine Oase zum Ausspannen. Und ausgerechnet am Stall hatte sie dieses Ekelpaket Biehler getroffen, der ein geistiger Bruder von Esche sein könnte.

*

Müde fuhr Anke am nächsten Morgen zur Arbeit. Sie traf viel zu früh im Büro ein. In der Nacht hatte sie wieder nicht gut schlafen können. Mit rotgeränderten Augen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief.

Nach und nach trafen die Kollegen ein. Eine Zeit lang blieb sie allein in ihrem Zimmer. Diese Gelegenheit nutzte sie, um in Ruhe ihre Gedanken schweifen zu lassen. Kullmann gab sich ebenfalls nicht sehr gesprächig, als sie ihm den Kaffee brachte.

Zwei Stunden später traf eine Meldung ein, dass ein Verkehrspolizist verschwunden sei. Anke wunderte sich, warum diese Meldung durch ihre Abteilung ging, weil sie nicht dafür zuständig war.

Diese Nachricht geriet bald in völlige Vergessenheit, weil ihre Gedanken ständig um die Begegnung zwischen Kullmann und Kurt Spengler kreisten. Dieses Streitgespräch hatte ihr endlich die Bestätigung für ihr vages Gefühl gegeben, dass Kullmann ein ganz persönliches Interesse an dem Fall Luise Spengler hatte. Sie arbeitete sich wieder durch die Akte Luise Spengler, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, in welchem Verhältnis die beiden Männer zueinander standen. Aber erfolglos.

Als Kullmann in der Mittagszeit zu ihr ins Büro kam, hoffte sie, dass er endlich mit ihr darüber reden wollte, weil sie sich immer sicherer wurde, dass sie über dieses Detail informiert sein müsste. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit war Offenheit wichtig.

Aber es kam anders.

Kullmann blieb in der Tür stehen. Sein Blick ging wie ins Leere, es schien, als habe er Mühe zu reden: »Ich glaube, das Schlimmste ist eingetreten. Es ist ein weiterer Polizist erschossen aufgefunden worden.«

Anke erschrak.

»Wo?«

»Im Wildpark St. Johann, ganz in der Nähe des Schwarzenbergs«, antwortete Kullmann.

Zusammen verließen sie das Büro, stiegen in den Dienstwagen und fuhren zum Tatort.

Auf der Fahrt sprachen beide kein Wort. Die Stimmung war gedämpft, weil genau das geschehen war, was alle befürchtet hatten: Der Polizistenmörder hatte wieder zugeschlagen.

Im Wildpark angekommen, sahen sie, dass die Kollegen der Spurensicherung schon bei der Arbeit waren. In ihren Schutzanzügen wirkten sie wie Astronauten bei der Mondlandung – mit dem kleinen Unterschied, dass sie ganz dicht am Hasengehege gelandet waren. Aus sicherer Entfernung schauten die Langlöffler diesem fremdartigen Treiben zu.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Gehege trat ein Kollege der Schutzpolizei auf Kullmann zu und erzählte mit Leichenmiene: »Es handelt sich um Peter Biehler.«

Erschrocken schnappte Anke nach Luft. Ausgerechnet Peter Biehler, überlegte sie. Sie konnte es gar nicht glauben, dass der Mann, den sie noch am Vortag gesehen hatte, heute schon tot sein sollte – erschossen vom Polizistenmörder. Schwindel befiel sie bei dem Gedanken, wie unvermittelt es jeden von ihnen treffen konnte. Erst gestern hatte sie ihm gedroht, ihn für sein ungebührliches Verhalten bei seinem Dienststellenleiter anzuzeigen. Niemals wäre ihr der Gedanke gekommen, Biehler in großer Gefahr zu wähnen.

Wen sollte es das nächste Mal treffen?

Der Polizist setzte seinen Bericht unbeeindruckt fort: »Er war zusammen mit seinem Kollegen auf dem Rückweg von der Universität.«

»Wie ist es passiert?«, unterbrach ihn Kullmann.

»Nach Aussage des Kollegen wollte Peter Biehler nur pinkeln.«

»Hat Peter Biehler zufällig diesen Ort gewählt?«, funkte Kullmann dazwischen.

»Nach Aussage des Kollegen nicht. Biehler machte immer hier seine Pinkelpause. Er bemerkte jedes Mal, bevor er ausstieg Ich zeige Rudi Rammler, was ein echter Hammer ist. Weil Biehler immer etwas länger dafür brauchte, machte sich der Kollege auch keine Sorgen um ihn. Doch plötzlich hörte er einen Schuss. Als er den Toten fand, war der Täter jedoch längst verschwunden. Und gesehen hat er auch nichts, was uns weiterhelfen könnte.«

»Also haben wir auch in diesem Fall keinen Zeugen«, stellte Kullmann resigniert fest.