Ein ganz klarer Fall

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From the series: Kullmann-Reihe #1
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Kapitel 4

Im Großraumbüro der Firma Schulz KG war reges Treiben. Alle sprachen durcheinander, doch als sie die beiden Beamten hereinkommen sahen, verstummten sie.

Kullmann stellte seinen Kollegen und sich selbst vor und sagte: »Wir müssen noch einige Befragungen durchführen, deshalb sind wir hier«, erklärte er kurz.

Betretenes Schweigen trat ein.

Adrian Schulz kam aus seinem Büro heraus und begrüßte die beiden kurz. »Nun ja, Sie können sich sicherlich vorstellen, dass hier große Aufregung herrscht. Für mich ist es jetzt aber am wichtigsten, neue Außendienstmitarbeiter zu finden, damit der Betrieb nicht zum Stillliegen kommt.«

»Sicher“, nickte Kullmann, über die Kaltschnäuzigkeit dieses Vorgesetzten erstaunt. »Wir werden Sie bestimmt nicht lange stören, aber wir müssen noch einige Ihrer Mitarbeiter befragen.«

Hübner führte den Herrn in eine ruhige Ecke des Großraumbüros, während Kullmann sich mit Frau Huth an den unbesetzten Schreibtisch des Herrn Klos niederließ.

»Wie gut kannten Sie die beiden Kollegen?«, begann Kullmann obligatorisch.

»Nicht besonders gut. Die beiden waren immer lustig, was aber wohl eher oberflächlich war. Richtig gekannt habe ich sie nicht«, meinte Frau Huth zögerlich. Verunsichert bemerkte sie, dass die anderen Kollegen ihren Worten lauschten.

Kullmann erhob sich und trat auf das Büro des Chefs zu. Nach kurzer Absprache bat er Frau Huth, ebenfalls in dieses Büro zu kommen, damit sie sich ungestört weiter unterhalten konnten.

Mürrisch ging der Chef hinaus und meinte nur: »Was soll nur diese Geheimniskrämerei? Klos und Wehnert sorgen noch nach ihrem Tod für Unruhe.«

Frau Huth schaute entsetzt auf Schulz und folgte dann Kullmann in das gläserne Büro.

»Waren Sie auch an dem Betriebsausflug am Freitag dabei?«

»Ja.«

»Ist Ihnen etwas Besonderes an den beiden Klos und Wehnert aufgefallen?«

»Nein, sie benahmen sich wie immer.«

»Was heißt, wie immer?«

»Unmöglich, sie ließen keinen Rockzipfel in Ruhe.«

Kullmann schaute Frau Huth lange an. Sie war eine gepflegte, ruhige Frau mittleren Alters, trug gute und teure Kleider, war dezent geschminkt und strömte einen angenehmen Parfümduft aus. Ihr ganzes Auftreten wirkte souverän. Ihre Art zu antworten war sachlich und direkt, was Kullmann gefiel.

»Haben Sie noch miterlebt, wie diese unbekannte Blondine ins Gasthaus «Zur alten Mühle» kam?«

»Ja.«

»Was geschah?«

»Naja, das übliche. Klos ließ der Frau gar keine andere Wahl, als sich zwischen ihn und Wehnert zu stellen und spendierte ihr ein Getränk nach dem anderen.«

»Sie meinen also, die Frau habe es gar nicht erst darauf anlegen müssen, die beiden kennenzulernen?«

»Keineswegs. Sie hatte noch keine Gelegenheit, sich umzusehen, da war auch schon Klos zur Stelle.«

»Sie mochten Klos nicht besonders?«, baute Kullmann zusammenhanglos in die Befragung mit ein und Frau Huth antwortete auch genauso spontan: »Sehr richtig. Seine Art, die Frauen zu behandeln, gefällt mir eben nicht.«

»Versuchte er auch, bei Ihnen zu landen?«

»Nein, ich war bestimmt nicht sein Typ.«

»Und darüber waren Sie enttäuscht?«

Frau Huth schaute den Alten empört an, antwortete dann aber trotzdem: »Ich weiß ja nicht, was Sie von mir halten, aber ich kann auf diese Art von Mann verzichten. Seit mein Mann tot ist, habe ich kein Interesse mehr an Bekanntschaften. Meine Ehe war dafür zu gut, um mir diese Erinnerung durch solche Hallodris zu zerstören.«

»Woher haben Sie diesen Eindruck von den beiden. Wissen Sie etwas Besonderes über die Vergangenheit der beiden, oder ist der Eindruck nur durch das Verhalten, das Sie von hier kennen, entstanden?«

»Ich weiß zufällig, dass Herbert Klos vor einigen Jahren ein Verfahren laufen hatte wegen Vergewaltigung. Dass er freigesprochen wurde, heißt nichts.«

Frau Huth legte eine kurze Pause ein. Das Gespräch erregte sie.

»Auch wenn man überlegt, was sich in den letzten Jahren hier so ereignet hat, und die Vergangenheit mit berücksichtigt, kann man sich so manches denken.«

»Was hat sich denn hier ereignet?«

»Es gab hier vor einigen Jahren eine nette Kollegin, jung und gutaussehend…«

»Meinen Sie Elvira Reinhardt?«, brach Kullmann ins Wort.

»Nein, Eva Rech. Sie verschwand direkt nach einer Feier, auf der die beiden Klos und Wehnert, wie so oft, viel getrunken hatten. Sie ließen diese Eva einfach nicht in Ruhe, bis sie sich überreden ließ, noch anschließend mit den beiden weiterzuziehen. Kurz danach hatte Eva fristlos gekündigt und diese Firma nie mehr betreten. Das gleiche geschah mit Elvira Reinhardt. Auch sie wurde von den beiden auf einer Betriebsfeier nicht in Ruhe gelassen, bis sie einwilligte und mit den beiden weiterfuhr. Anschließend hatte sie fristlos gekündigt. Seitdem stellte Schulz keine gutaussehenden Frauen mehr ein, weil diese Fluktuation nicht gut für das Betriebsklima ist.

Ich weiß nicht, was in den beiden Fällen wirklich passiert war, aber es muss schlimm gewesen sein. Klos und Wehnert hatten schamlose Geschichten erzählt, so haarsträubend, dass ich mich heute noch für die beiden schämen muss.«

Kullmann war erstaunt. Dieser Fall wurde immer interessanter.

»Wer wusste denn darüber Bescheid, dass Klos vor 15 Jahren ein Verfahren laufen hatte – so wie Sie es nannten – wegen Vergewaltigung?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hatte es nur durch Zufall von unserer Personalangestellten erfahren. Manchmal passt sie nicht auf, zu wem sie was sagt. Ich habe sie auch deshalb ermahnt, in Zukunft mit ihren Bemerkungen vorsichtiger zu sein«, erklärte Frau Huth.

»Dann gibt es also einen Vermerk in seiner Personalakte?«, stellte Kullmann mehr fest als er fragte. Er erinnerte sich daran, dass Hübner diese Mitarbeiterin verhört hatte und nichts von solch einem Eintrag erwähnt hatte.

»Das weiß ich nicht, aber vermutlich. Woher hätte sie es sonst erfahren sollen«, klärte Frau Huth auf.

Er bedankte sich bei Frau Huth und die beiden verließen das gläserne Büro. Zielstrebig ging er zu Schulz und bat ihn um eine Unterredung, der dieser nur unter Vorbehalt zustimmte. Als sie die Bürotür hinter sich schlossen, schoss Kullmann schnell mit seiner Frage los, bevor Schulz seinen Protest vorbringen konnte: »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass in der Personalakte von Klos das Verfahren wegen Vergewaltigung erwähnt ist?«

»Weil es nicht in der Akte steht“, erklärte Schulz trocken.

»Woher weiß denn dann Ihre Personalangestellte besser über Ihre Mitarbeiter Bescheid als Sie?«

»Diese Person weiß einfach alles. Vermutlich weiß sie es deshalb, weil ihr geschiedener Mann beim Amtsgericht arbeitet.«

»Wer wusste sonst noch davon?«, bohrte Kullmann weiter.

»Ich wusste es z.B. nicht, bis vor einer Minute. Aber wem sie das alles her ausgeplaudert hat in ihrer Redseligkeit, kann ich Ihnen nicht sagen. Da fragen Sie sie am besten selbst.«

Daraufhin eilte Kullmann aus dem Büro und besuchte zielstrebig eine kleine, mollige Frau mit fürchterlichen, roten Locken. Sie war die einzige, die in einem eigenen Büro arbeitete. Das Gespräch erwies sich als völlig überflüssig, weil Kullmann das Gefühl verspürte, dass sie nicht ehrlich war. Sie beteuerte ihm zu häufig, dass sie es außer Frau Huth niemandem gesagt habe.

Zusammen mit Hübner, der ihn schon erwartete, verließ er wieder das Büro.

»Was gab es bei dir Interessantes?«, fragte der junge Kollege sogleich neugierig.

Kullmann berichtete es ihm in Stichworten, ohne auf Details einzugehen. Solange er selbst noch nicht wusste, was er davon halten sollte, wollte er auf garkeinen Fall, dass Hübner mit seinem Übereifer zu einem verfrühten Urteil kam. Er wusste, wie dieser junge Mann sich etwas in den Kopf setzen konnte, und genau das wollte er vermeiden.

»Mein Zeuge wusste, dass Elena Wehnert ein Verhältnis mit Herbert Klos unterhielt«, plauderte Hübner los, ohne zu bemerken, wie sehr Kullmann mit seinen Gedanken beschäftigt war.

»Wie bitte? Was wusste er?«, fragte der Alte verwirrt, weil er geistig sich ganz woanders befand.

»Er wusste, dass Elena Wehnert ein Verhältnis mit Herbert Klos hatte«, wiederholte Hübner.

Nun erinnerte Kullmann sich wieder: »Und woher?«

»Sie hatte mehrmals in der Firma angerufen und ist dabei zufällig einmal an den falschen Apparat gelangt. Daraufhin fragte er den Kollegen Klos ganz direkt, was sich da abspiele, und Klos profilierte sich damit, ein Verhältnis mit diesem jungen Mädchen zu haben.«

»Wusste der Vater davon?«

»Angeblich wusste er nichts.«

Kullmann schüttelte entrüstet den Kopf. Sie stiegen in den Wagen ein, der am Straßenrand verkehrsbehindernd abgestellt war, und fuhren wieder in ihr Büro zurück.

»Was tun wir als nächstes? Fahren wir zu Elvira Reinhardt?«, fragte Hübner geschäftig, als sie die Treppen des alten Landeskriminalamtes emporstiegen, um zu ihren Zimmern zu gelangen.

»Ich werde mit Anke dorthin fahren“, bestimmte Kullmann.

Hübner blieb entrüstet stehen und fragte ganz laut durch den Flur: »Ist das die neue Art von Zusammenarbeit? Was glaubst du denn, was du damit erreichst?«

Die klappernden Schreibmaschinen verstummten. Stille folgte.

Kullmann drehte sich zu Hübner um und meinte nur: »In deinem Alter war ich auch noch impulsiv, aber glaube mir, das legt sich wieder. Wenn man genügend Erfahrungen gemacht hat, wird man bedachter, man überlegt zuerst und handelt dann.« Mit diesen Worten verschwand er in Ankes Büro, die dieses Gespräch auch mit angehört hatte.

 

»Was ist los?«

»Ich habe Hübner nur mitgeteilt, dass ich mit Ihnen zu Elvira Reinhardt fahren werde, das ist alles«, antwortete Kullmann und bat gleichzeitig die Kollegin Deister, ihm zum Wagen zu folgen.

Schnell zog sie sich eine Jacke über und folgte Kullmann. Im Flur ging sie an Hübner vorbei, der immer noch entrüstet wirkte und meinte nur ganz kurz: »Nimm es bitte nicht persönlich.«

Sie stiegen in den Dienstwagen ein und fuhren los.

»Warum wollen Sie mich dabei haben?«, fragte Anke, die allerdings froh darüber war, endlich auch was im Außendienst tun zu können.

Kullmann schwieg. Langsam fuhr er durch das Zentrum der

Stadt, durch die Kaiserstraße am Bahnhof vorbei, um nach Burbach zu gelangen. Viele Menschen rannten eilig an der Straße entlang und suchten Gelegenheiten, diese zu überqueren, andere eilten aus den Geschäften heraus und gleich wieder in das nächste hinein. Bettler saßen am Boden und hielten ihre Hüte den Menschen entgegen, um Geld zu erstehen und streunende Hunde rannten umher, hoben hier und da das Bein, um an Litfaßsäulen ihr Geschäft zu verrichten.

Nach einigen Minuten verließen sie die geschäftige Gegend, passierten den Bahnhof und den stets stark befahrenen Ludwigskreisverkehr und erreichten schon bald ihr Ziel. Die hohen Reihenhäuser verdunkelten die Straße, wenig Tageslicht konnte dort einfallen. Die Häuser reihten sich grau in grau aneinander in menschenleeren Gassen. In dieser Straße leuchtete ein einziges Reklameschild auf: Boh & Co, Autovermietung. Kullmann stellte den Wagen ab und gemeinsam betraten sie das hässliche Gebäude, das sich außer der Reklame nicht von den anderen unterschied.

Boh & Co bestand aus einem einzigen Büro, in dem 5 Schreibtische standen, die schon fast antiquarisch aussahen. Die Regalwände waren ebenfalls alt, in denen stapelten sich Papierablagen in einem wüsten Durcheinander und die Schreibtischstühle sahen aus als seien sie schon längst von allen erdenklichen Gewerkschaften oder Betriebsärztlichen Diensten verboten worden. Vier der Schreibtische waren besetzt. Der leer stehende Schreibtisch war völlig überfüllt mit Akten und Karteikarten, so dass man die Schreibmaschine fast nicht mehr sehen konnte. Am Schreibtisch gegenüber saß eine junge Frau im Rollstuhl und grüßte als erstes die beiden Beamten. Sie wirkte jugendlich, trotz ihrer Körpermaße, die kaum noch auf den Stuhl zu passen schien.

Alle starrten die beiden an. Ein junger schmaler schon fast zerbrechlich aussehender Mann erhob sich von seinem Schreibtisch und kam auf die beiden zu. Sein Gang war elegant und schwebend, unterstrichen mit einem leichten Hüftschwung, der Kullmann und Deister nicht entging.

»Hallo ihr beiden“, grüßte er überschwänglich und hielt Anke mit einer ganz graziösen Bewegung die Hand zum Gruße entgegen.

»Mein Name ist Thomas Conrad, und das dort drüben ist unser aller Chef, Matthias Boh«, stellte er vor. Seine Stimme klang weich, sein ganzes Auftreten war graziös und affektiert. »Was können wir für Sie tun?«

»Wir möchten zu Elvira Reinhardt«, antwortete Kullmann.

»Oh, das tut uns aber leid, Elvi ist heute nicht da. Sie hat sich zum ersten Mal seit sie hier arbeitet krankgemeldet«, bedauerte er mit übertriebenem Mitgefühl, worüber Kullmann sich schon fast ärgerte.

»Können Sie uns dann ihre genaue Anschrift geben, damit wir sie zu Hause besuchen können?«

»Ich weiß nicht«, zögerte der junge Mann gekünstelt, »hat sie denn was ausgefressen?«

»Nein, wir müssen ihr nur ein paar Fragen stellen«, mischte Anke sich ein.

Misstrauisch schaute Thomas Conrad auf Anke und sagte dann zu Kullmann: »Trau schau wem.« Er drehte sich um und ging zu seinem Chef. Matthias Boh erhob sich von seinem Schreibtisch und trat auf die beiden zu, wobei er durch seine Miene den beiden unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie nicht willkommen waren. Seine Antwort war kurz, aber bestimmt. »Hier gebe ich Ihnen die gewünschte Adresse. So und nun verlassen Sie bitte wieder mein Büro. Wir haben hier eine Autovermietung und keine Auskunftei.«

Kullmann nahm den Zettel entgegen und meinte: »Vielen Dank, aber wenn was unklar ist, werden wir wiederkommen, ob Ihnen das passt oder nicht. Wir sind von der Polizei und nicht von der Wohltätigkeitsstiftung.«

Die beiden verließen das unbehagliche Büro und Anke lachte:

»Sie waren gut. Aber warum lassen Sie sich die Adresse von Elvira Reinhardt geben, wir haben sie doch schon längst?«

»Es hätte ja sein können, dass sie dort nicht mehr wohnt“, antwortete Kullmann.

Sie stiegen in den Wagen ein und fuhren das zurück nach Malstatt. An dem Haus hatte sich nichts verändert. Auch diesmal standen sie rätselnd vor der gesamten Klingelreihe und begannen, systematisch durch zu klingeln. Nach dem dritten Versuch wurde ein Fenster geöffnet und eine ältere Frau schaute hinaus.

»Wer sind Sie?«, fragte sie mit neugieriger, kreischender Stimme.

»Wir kommen von der Polizei und suchen eine gewisse Elvira Reinhardt“, antwortete Kullmann.

»Ach die, ja die bewohnt hier zwei Zimmer von mir. Sie ist aber nicht da. Hat sie was ausgefressen?«

Die Frage kam den beiden schon bekannt vor.

»Nein, nein. Wir wollen ihr nur ein paar Fragen stellen. Wissen Sie denn, wo sie ist?«

»Nein, die sagt mir nie, was sie macht. So etwas Verschwiegenes wie dieses Mädchen habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Aber wenn Sie möchten, kann ich Sie in ihr Zimmer lassen.« bot an.

Aber Kullmann wehrte ab und reichte ihr eine Karte mit Namen und Telefonnummer. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Elvira wieder zurück ist.«

Wieder im Wagen meinte Kullmann nur: »Also diese Elvira zu erwischen ist nicht einfach. Hoffentlich lohnt sich die Mühe auch.«

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie mich dabei haben wollten und nicht Hübner«, erinnerte Anke.

Kullmann räusperte sich und meinte nach einigem Zögern: »Irgendetwas ist mit Elvira Reinhardt geschehen. Vermuten kann ich nur, Genaues weiß ich nicht. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass es ihr Leben entscheidend verändert hat. Und da möchte ich jemanden dabei haben, der Einfühlungsvermögen hat und Vertrauen aufbauen kann. Damit kommt man auf schonendere Weise ans Ziel. Für so etwas ist Hübner einfach nicht der richtige Mann. Seine Methode ist mir zu hart und zu zielstrebig. Auf Gefühle anderer zu achten, gehört nicht gerade zu seinen starken Seiten. Ich befürchte, dass er die Gefühle dieser Frau verletzt und wir am Ende überhaupt nichts mehr von ihr erfahren. Das möchte ich vermeiden.«

Eine Weile schwiegen beide, bis Kullmann in die Stille fragte: »Haben Sie eigentlich etwas über den Fall von Maritas Mutter in Erfahrung gebracht?«

»Nein, es gibt überhaupt nichts über diesen Fall. Ich weiß nur aus der Akte von Marita Volz, dass sie mit Vornamen Gertrud hieß, mehr aber auch nicht«, berichtete Anke resigniert.

»Das finde ich merkwürdig“, stellte Kullmann fest.

»Irgendetwas müsste es über den Fall doch geben. Das Opfer hatte doch eine Anzeige gemacht.«

Anke nickte.

Als das Kriminalamt in Sicht kam, setzte Kullmann den Blinker in entgegengesetzte Richtung. Verwundert schaute Anke ihn an, schwieg aber. Er würde schon rechtzeitig erklären, was er vorhatte.

»Ich möchte zu Rudolf Volz fahren. Sie kannten ihn doch?«

»Ja, er war ein Nachbar unserer Familie.«

Diese Antwort genügte ihm. Zufrieden steuerte er den Wagen mit ruhiger Hand durch die dichten Straßen, bis auf die Autobahn, wo sich der Verkehr lichtete.

Das Haus von Rudolf Volz lag in einem ruhigen Ort umgeben von vielen Grünpflanzen und Tannenbäumen, wodurch das kleine Haus versteckt war. Ohne Ankes Hilfe hätte Kullmann es gar nicht entdecken können. Langsam gingen sie durch den dicht bepflanzten Garten und sahen inmitten eines Blumenbeetes einen alten Mann, der damit beschäftigt war, Unkraut zu rupfen. Als er die beiden kommen sah, blickte er zuerst unfreundlich auf; doch als er Anke erkannte, begann er zu lächeln.

»Anke, bist du es wirklich?«, fragte er erstaunt nach genauerem Hinsehen.

»Ja, ich bin es wirklich«, meinte sie zaghaft.

Kurze Zeit schauten die beiden sich an, bis der alte Mann auf sie zuging und sie in den Arm nahm.

»Verzeih mir den Gefühlsausbruch, aber wenn ich dich sehe, fühle ich mich um Jahrzehnte zurückversetzt. Wenn ich dich sehe, sehe ich Marita.« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Kullmann, der diese Szene ganz verlegen beobachtet hatte, wünschte sich an einen ganz anderen Ort. Es war ihm nun doch unangenehm, diesen Mann aufzusuchen. Mit welchem Recht wollte er in seiner Vergangenheit herumstochern und so vielleicht alte Wunden wieder öffnen.

»Was tust du jetzt?«, fragte der alte Mann.

»Ich bin bei der Polizei.«

Verdutzt schaute er Anke an und dann Kullmann.

»Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Kullmann, ich bin ein Kollege.«

»Warum kommt ihr zu mir? Außer mir gibt es keinen mehr in meiner Familie, es kann also nichts Schlimmes passiert sein.« Sein Ton wurde reserviert.

»Bitte, seien Sie uns nicht böse, aber wir arbeiten an dem Mordfall Klos und Wehnert, Sie haben bestimmt davon gehört, und da sind uns Parallelen zu früher aufgefallen. Deshalb sind wir hier. Wir wollen aber auf gar keinen Fall Ihre Gefühle verletzen«, begann Anke vorsichtig, was Rudolf Volz ganz ersichtlich milder stimmte. »Sicher, du tust nur deine Arbeit. Bitte verzeih mir meine Unbeherrschtheit.«

»Um Gottes willen, wir müssen Sie um Verzeihung bitten, weil wir Ihre Vergangenheit wachrufen, nicht umgekehrt«, wehrte Anke ab.

»Kommt doch mit in mein bescheidenes Häuschen«, lud Herr Volz daraufhin die beiden Beamten ein.

Zögernd folgten sie ihm über eine kleine alte aber gepflegte Holztreppe in das kleine Haus hinein. In dem Zimmer stand lediglich eine alte Eichen-Eckbank mit einem Eichentisch und ein alter Herd, der nur durch gute Pflege noch erhalten war.

»Bitte setzen Sie sich. Ich kann Ihnen Tee anbieten, der mittlerweile aber schon kalt geworden ist«, bot der alte Mann gastfreundlich an, was die beiden allerdings dankend ablehnten.

»Wir wollen nur ganz kurz stören, und zwar wollten wir etwas über den Fall mit Ihrer Frau wissen«, begann Anke.

Herr Volz grübelte, dann verschwand er aus dem Zimmer. Kullmann und Anke schauten sich entgeistert an, doch gleich kam er wieder zurück mit einem Bündel Fotos in der Hand.

Unaufgefordert legte er sie vor Kullmann auf den Tisch und sagte:

»Schauen Sie, das war meine Frau. Ist sie nicht was Besonderes?«

Verdutzt schaute er sich die Fotos an und spürte, wie er einen leichten Magenkrampf bekam bei dem Anblick dieser Bilder. Was er sah war eine attraktive junge Frau mit dunklen Haaren und diesem Mona-Lisa-Lächeln, wie er es noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Andere Bilder zeigte die wunderhübsche Frau im Bett mit einem Neugeborenen im Arm, Marita.

Auch Anke schaute sich diese Fotos an und schwieg eine lange Weile. Sie wirkte auch fassungslos, bis Herr Volz meinte: »Was wollten Sie denn wissen?«

»Wir haben bei uns im Archiv nach der Akte Ihrer Frau gesucht und haben absolut nichts gefunden. Das ist ungewöhnlich, denn so wie ich informiert war, wurde eine Anzeige erstattet.«

»Ja, wir hatten den Täter angezeigt, aber der Fall wurde niemals bearbeitet, weil es Aussage gegen Aussage stand und der Angezeigte ein Polizist war. Es war ohnehin aussichtslos, gegen einen solchen Apparat auch nur den verzweifelten Versuch zu machen, etwas zu unternehmen. Die Polizei hat immer Recht«, berichtete der alte Mann, während er stur auf den Boden sah und von Minute zu Minute älter wirkte. »Wissen Sie, meine Frau ging arbeiten, weil unser Geld durch das Kind knapp geworden war. Sie putzte in einer Putzkolonne, die für die Oberstaatsanwaltschaft zuständig war. Diese befand sich ganz in der Nähe des Polizeireviers. Sie hatte jeden Tag die gleiche Arbeitszeit. Sie ging am Nachmittag gegen vier Uhr weg und kam immer um sieben Uhr wieder nach Hause. In den Wintermonaten war es um diese Zeit natürlich schon stockdunkel und ich machte mir immer wieder Sorgen um sie, aber sie lachte nur und sagte, was soll schon passieren. Ab und zu bin ich auch mit der Kleinen, sie war damals 4 Jahre alt, meiner Frau entgegengekommen, aber meistens schlief Marita um diese Zeit, und ich wollte das schlafende Kind nicht alleine lassen. An dem besagten Abend wollte ich auch wieder meiner Frau entgegengehen, als Marita ganz plötzlich mit Husten und Schnupfen anfing, bis ihr Kopf ganz heiß und rot wurde. Also legte ich das Kind wieder hin und versorgte es mit Medikamenten, damit es nicht noch schlimmer wurde. Es wurde eine ganz schreckliche Nacht. Ständig begann Marita zu weinen, ich konnte sie keine Minute alleine lassen. Es wurde immer später und meine Frau war noch nicht zurück. Mitten in der Nacht hörte ich, wie sie sich hineinschlich und sogleich im Schlafzimmer verschwand, ohne nach dem Kind zu sehen. Als ich ihr folgte, sah ich sie blutverschmiert vor dem Waschbecken stehen.

 

Sie versuchte gerade, sich zu waschen und die Spuren zu verwischen, doch ich konnte sofort sehen, was passiert war. Ihr ganzes Gesicht war verquollen, ihre Augen blau umrandet, blaue Flecken am ganzen Körper und viel Blut am Unterleib. Es war so schrecklich, dass ich sofort losweinte, ohne überhaupt das erste Wort von ihr abzuwarten. Marita schrie aus ihrem Zimmer und ich weinte mir den Verstand aus dem Leib. Gertrud verhielt sich ganz ruhig. Sie wusch sich weiter und legte sich auf das Bett. Nach einer Weile beruhigte ich mich wieder und ließ mir von ihr erzählen, wie es passiert war. Es war ein Polizist aus dem Revier, an dem sie jeden Abend vorbeiging, der ihr aufgelauert hatte und sie in die Büsche zerrte.«

Lange schwiegen sie. Niemand wagte sich mehr, eine Frage zu stellen. Nur Herr Volz unterbrach dieses Schweigen. Er gab die Antwort auch ohne die Frage: »Der Polizist war Peter Balduin.«

Kullmann und Anke Deister hielten den Atem an.

Wie in Trance sprach Rudolf Volz weiter: »Dann, fast 12 Jahre später, als mein einziges Kind Opfer eines solchen grausamen Verbrechens wurde, führte ausgerechnet dieser Peter Balduin, der in der Zwischenzeit eine große Karriere gemacht hatte, die Ermittlungen. Ich hatte schon bei meiner Frau keinerlei Chance gegen diesen Polizeiapparat und hätte mir denken müssen, dass es bei Marita nicht anders sein würde. Es gibt keine Gerechtigkeit. Das habe ich festgestellt: vor Gott sind wirklich alle Menschen gleich, die Guten genauso wie die Schlechten.«

Mit betretenen Mienen verabschiedeten Kullmann und Anke sich und verließen das kleine Haus. Vogelgezwitscher erfüllte den üppig bewachsenen Vorgarten und die Sonne tauchte ihn in ein ganz wundersames, wie von einem Schleier überzogenes Licht. Kullmann eilte zu seinem Wagen, um nicht von diesen Eindrücken noch mehr befangen zu werden. Hastig stieg er ein und wartete auf Anke, die noch einige Worte mit Herrn Volz wechselte, der ihnen gefolgt war.

In einem kleinen Café bei einer Tasse Cappuccino konnte Kullmann sich endlich wieder entspannen. Diese Atmosphäre in dem alten Haus hatte ihm zugesetzt. Es war ihm, als schwebte der Geist der beiden Frauen noch in diesem Haus.

»Was sollen wir nun tun?«, fragte Anke, sich nervös auf der Unterlippe kauend, womit sie ihn endlich aus seinen Gedanken riss.

»Ich möchte unbedingt an die Akte von Gertrud Volz. Ich will unbedingt diese Intrigen, die in unserem Apparat getrieben werden, bloßstellen. Bei der Mutter, dieser Gertrud, wurde genauso wie bei Marita der Fall so manipuliert, dass die Frauen niemals eine Chance hatten. Aber wer steckte dahinter? Gibt es Zusammenhänge?«, murmelte er vor sich hin, als zählte er einfach nur seine Gedanken auf.

»Glauben Sie, dass die Akte von Gertrud Volz überhaupt noch existiert?«

»Ich vermute es, ganz sicher weiß ich es natürlich nicht. Aber wenn es die Akte noch gibt, dann ist sie bestimmt nicht mehr in unserem Archiv. Sie befindet sich bestimmt im Haus des pensionierten Peter Balduin.«

»Was haben Sie vor?«

»Ich möchte einfach nur erfahren, wie es Balduin gelang, sich so aus der Affäre zu ziehen und noch dazu eine große Karriere zu machen. So etwas geht mir nicht in den Kopf: so eine Ungerechtigkeit. Wenn die Bevölkerung sich nicht mehr auf die Polizei verlassen kann, auf wen dann?«

»Sicher, aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie vorhaben?«, bohrte Anke hartnäckig weiter.

Kullmann grübelte. Dann brachte er es heraus:

»Also, Peter Balduin wird die Akte ganz bestimmt nicht herausrücken, wenn wir ihn nett darum bitten. Deshalb brauche ich jemanden, der mir dabei hilft, die Akte auf eine andere Weise zu beschaffen.«

»Sie meinen, einbrechen?« Anke stutzte.

»Das ist der falsche Ausdruck. Wir nehmen uns nur auf unlautere Weise das zurück, was uns sowieso gehört. Wie klingt das?«

»Toll, was ändert das daran, dass man damit gegen das Gesetz verstößt?«

»Man darf alles tun, man darf sich nur nicht erwischen lassen“, bemerkte Kullmann mit einem verschmitzten Lächeln. Sein Plan war gefasst, das spürte Anke deutlich.

»Aber, wenn wir uns unerlaubterweise diese Akte aneignen, wird er doch den Verlust feststellen. Also können wir damit nichts anfangen«, zweifelte sie weiterhin.

»Falsch. Diese Akte ist Eigentum unseres Hauses. Derjenige, der sie unerlaubt entfernt hat, ist Balduin«, klärte Kullmann seine junge Kollegin spitzfindig auf.

»Das wird er wohl kaum zugeben«, zweifelte diese weiter.

»Er wird ebenso kaum zugeben, dass er vorher diese Akte unerlaubt in seinen Besitz gebracht hatte. Wenn wir diese Akte wieder zurückbekommen, gibt es für Balduin kein Entrinnen mehr.«

Kullmann schlürfte genüsslich an seinem Cappuccino und begann sich bereits, einen Plan zurechtzulegen. Der Gedanke daran, Peter Balduin diese Akte zu entwenden bereitete ihm sichtlich Freude.

»Warum ist für Sie diese Akte so wichtig?«

»Weil Peter Balduin die Kommission leitete, die einberufen wurde für Marita Volz.«

Als sie wieder in ihrem Büro ankamen, stürmte sogleich Hübner zu seinem älteren Kollegen und sagte: »Ich habe versucht, diese Eva Rech ausfindig zu machen, die Vorgängerin von Elvira Reinhardt, aber es gibt in der ganzen Stadt keine Eva Rech. Wir sind eindeutig in einer Sackgasse gelandet, oder was meinst du? Versuchst du immer noch in den Akten von 1975 hinter das Geheimnis zu kommen?«

»Nein, mittlerweile in den Akten von 1963. Das finde ich nämlich vielversprechender.« gab Kullmann mit gleicher Ironie zur Antwort und zog sich wieder mit der Akte Marita Volz zurück. Er spürte selbst seine Verbissenheit, noch nach so vielen Jahren hinter das Geheimnis zu kommen, warum dieser Fall so geringschätzig behandelt worden war. Sein Gefühl, dass es einen Zusammenhang gab, ließ ihn nicht in Ruhe. Entweder hing der Mord an den beiden noch mit diesem Vorfall zusammen, oder Klos hatte ein vergleichsweises Verbrechen begangen mit dem Unterschied, dass dieses Mal der Fall gar nicht erst zu Protokoll gebracht wurde, da es ohnehin aussichtslos war. Vielleicht waren die Opfer schlauer geworden.

Kopfschüttelnd schaute Hübner ihm nach und ging zu Anke ins Büro. Während Kullmann in der Akte blätterte, hörte er, dass die Stimmen von Hübner und Anke immer lauter wurden. Es entfachte regelrecht zu einem Streitgespräch. So sehr er sich auch bemühte, er verstand kein Wort, was ihn ärgerte. Zu gerne hätte er den Inhalt dieses Gesprächs gekannt. Es dauerte nicht lange, da stürzte Hübner aus dem Zimmer, warf heftig die Tür zu und steuerte auf seinen älteren Kollegen zu.

»Das hast du ja toll hingekriegt. Was soll das, Anke so zu beeinflussen, habe ich dir jemals etwas getan?«

Kullmann triumphierte innerlich, schaute aber ganz unbescholten zu dem jungen, hitzigen Kollegen auf und antwortete: »Ich habe gar nichts gegen dich und ich habe auch niemanden beeinflusst. Ich bin mir sicher, dass Frau Deister selbst in der Lage ist zu entscheiden, was richtig ist. Dazu braucht Sie keinen Lehrer, glaub’ mir.«

Wütend stampfte Hübner aus dem Zimmer.

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