Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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From the series: edition lendemains #44
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[…] peut-on s’empêcher de contempler avec délice le bonheur de l’homme qui peut se dire chaque jour avant de s’endormir: Je n’ai pas perdu ma journée; qui ne voit dans son cœur aucune passion haineuse, aucun désir coupable; qui s’endort avec la certitude d’avoir fait quelque bien, et qui s’éveille avec de nouvelles forces pour devenir encore meilleur?18

Baudelaire setzt an die Stelle des Tugend-Laster-Gedankens den der vollbrachten Tagesarbeit – „Aujourd’hui / Nous avons travaillé!“ – und damit ein Problem, das ihn selbst umgetrieben hat. Unterdessen erwacht das nächtliche Leben der Stadt: die bösen Geister („les démons malsains“) beginnen um die Häuser zu kreisen und die Menschen zu beunruhigen; die Prostitution bahnt sich ameisengleich ihre Wege durch die Stadt und entzieht gleich einem Wurm dem Menschen seine Lebenssubstanz. Mit der Wendung „au sein de la cité de fange“ charakterisiert Baudelaire die Stadt wieder als irdisches Jammertal, dem die Menschen auf unterschiedliche Weise zu entkommen suchen. Dann folgt eine Aufzählung von Orten des Vergnügens und des nächtlichen Treibens von Spielern, Dirnen, Gaunern und Dieben19, die wie schon im Crépuscule du matin ein Ausschnitt des „spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes“ ist, „qui circulent dans les souterrains d’une grande ville“, diesmal jedoch bei Nacht und erweitert um die „criminels et filles entretenues“. Selbst das „merveilleux“ oder hier besser das „fantastique“ fehlt in dieser Beschreibung des Pariser Lebens nicht, die sich mit den epischen Beschreibungen Balzacs20 messen kann: Es tritt in Gestalt der unheimlichen, an Fensterläden und Vordächern rumorenden Dämonen auf21.

Die Nacht ist nach de Maistre aber auch die Zeit der „profondes méditations“ und der „sublimes ravissements“. Im Trubel der Großstadt stellen diese sich nicht so selbstverständlich ein wie in der Einsamkeit der Natur. Vielmehr bedarf es hier der Fähigkeit des „[savoir] être seul dans une foule affairée“ und eines Aktes der Sammlung, wo nicht des Gebets. Das geschieht in Le Crépuscule du soir mittels der Aufforderung des Ichs an sich selbst, dem lauten Treiben der Stadt zu entsagen und innezuhalten:

Recueille-toi, mon âme, en ce grave moment,

Et ferme ton oreille à ce rugissement.

Robert Vivier hat die Wendung „Recueille-toi, mon âme …“ für rhetorisch gehalten. Sie sei ursprünglich in der Klassik zuhause und als Ansprache an das eigene Herz oder die eigene Seele eine „mode de l’époque“22. Das mag so sein, in Verbindung mit den Motiven Abend, Weltabkehr und Ende des Lebens sowie vor dem Hintergrund von de Maistres Darlegungen weist der Aufruf zur inneren Sammlung jedoch wieder auf einen religiösen Diskurs, in diesem Fall auf die geistliche Meditation. Unter dem Titel Recueillement hat Baudelaire denn auch später ein Sonett verfasst, in dem die Seele beim abendlichen Blick über die Stadt zur Meditation und inneren Ruhe aufgefordert wird:

Recueillement

Sois sage, ô ma Douleur, et tiens-toi plus tranquille.

Tu réclamais le Soir; il descend; le voici:

Une atmosphère obscure enveloppe la ville,

Aux uns portant la paix, aux autres le souci.

Pendant que des mortels la multitude vile,

Sous le fouet du Plaisir, ce bourreau sans merci,

Va cueillir des remords dans la fête servile,

Ma Douleur, donne-moi la main; viens par ici,

Loin d’eux. Vois se pencher les défuntes Années,

Sur les balcons du ciel, en robes surannées;

Surgir du fond des eaux le Regret souriant;

Le Soleil moribond s’endormir sous une arche,

Et, comme un long linceul traînant à l’Orient,

Entends, ma chère, entends la douce Nuit qui marche.23

Das Ich, das hier spricht, ist der Dichter, der seinen „Schmerz“ wie ein Kind an die Hand nimmt, um es aus der „fête servile“ der Stadt zu einem inneren Sich-Sammeln und Besänftigen zu führen, begleitet von der leise aufziehenden Nacht. In einer städtischen Umgebung führt einige Jahre später24 und mit offensichtlich veränderter Intention – Baudelaire hat in seinen Gedichten Wiederholungen bekanntlich peinlichst vermieden – das Motiv der abendlichen Besinnung also zu einer Meditation über die eigene „tranquillitas animi“25.

In Le Crépuscule du soir verläuft die Meditation anders. Das Ich wendet sich hier in Gedanken dem Leid und Unglück Anderer zu, nämlich den leidenden Kranken abseits vom Treiben der Stadt, deren Hoffnungslosigkeit wächst und von denen manch einer dem Ende entgegengeht. Das Motiv ist ein Pendant zu den Sterbenden in Le Crépuscule du matin und ihrem letzten Röcheln. Anders als dort steht das Gedenken hier aber im Kontrast zum gleichzeitigen „rugissement“ der Stadt und ist daher ein besonderer Akt der dichterischen Phantasie, die sich inmitten der dem Glück nachjagenden Menge ein leidendes Gegenüber sucht, um sich mit ihm zu identifizieren. Damit ist ein Schritt auf dem Weg zum „poète actif et fécond“ aus Les Foules getan, der sich „toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente“ zu Eigen macht. Dass die Unglücklichen und Leidenden hier die Kranken in den Hospitälern sind, mag zwar durch de Maistres Bemerkung angeregt sein, das mitleidende Gedenken ist aber Baudelaires Zutat, die über das von jenem Gesagte hinausgeht.

Mit der Selbstansprache im dritten Absatz hat das Gedicht endgültig ein lyrisches Ich bekommen. Zuvor war die Wahrnehmungs- und Redeinstanz, die das nächtliche Schauspiel der Großstadt auf sich wirken lässt, nicht personalisiert und man konnte in ihr den nonchalanten Flaneur des ‚tableau de Paris‘ oder auch einen Balzacschen „observateur“ vermuten, der bei einbrechender Nacht die Straßen der Stadt durchstreift. Schon in den Druckfahnen von 1857 hat Baudelaire jedoch im fünften Vers das ursprüngliche „Oui, voilà bien le Soir, le Soir cher à celui […]“26 durch die pathetische Apostrophe „Ô soir, aimable soir, désiré par celui […]“ ersetzt und damit die Sprecherinstanz verdeutlicht, der die Sinneswahrnehmungen des Gedichts zuzuordnen sind („Voici …“, V. 1; „On entend …“, V. 21, mit noch unpersönlichem „on“). Diese reichen jedoch noch nicht aus, um von einem Zustand ekstatisch gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit zu sprechen, und ebenso erfolgt die Beobachtung der nächtlichen Existenzen der Großstadt im zweiten Teil des Gedichts ohne merkliche innere Beteiligung des Ichs. Erst nach der Selbstansprache „Recueille-toi, mon âme …“ kommt es bei der Vergegenwärtigung der Unglücklichen in den Hospitälern zu einem empathischen Mitleiden, wobei sich das Ich freilich auch hier nicht tiefer in die Schicksale der Unglücklichen versenkt27, sondern es bei einem allgemeinen mitfühlenden Blick auf ihr entbehrungsreiches und freudloses Leben belässt:

Encore la plupart n’ont-ils jamais connu

La douceur du foyer et n’ont jamais vécu!

Deshalb empfindet es auch keine „singulière ivresse“ und keine „jouissances fiévreuses“ wie in den späteren Großstadtgedichten Les Petites Vieilles oder Le Cygne. Das dichterische Ich bleibt in Le Crépuscule du soir vielmehr in bloßem Mitleiden stecken und gelangt nicht zur Fülle des ekstatischen Zustands. Baudelaires Konzept der Großstadtdichtung ist also, trotz ersichtlicher Fortschritte, Anfang der 1850er Jahre noch nicht endgültig geklärt28.

1855 übergibt Baudelaire seine beiden Crépuscule-Gedichte Fernand Desnoyers, dem Herausgeber der Festschrift für Claude François Denecourt29, zur erneuten Publikation und versieht sie mit einem Begleitbrief, der zusammen mit den Gedichten in der Festschrift abgedruckt wird:

Mon cher Desnoyers, vous me demandez des vers pour votre petit volume, des vers sur la Nature, n’est-ce pas? sur les bois, les grands chênes, la verdure, les insectes, – le soleil, sans doute? Mais, vous savez bien que je suis incapable de m’attendrir sur les végétaux et que mon âme est rebelle à cette singulière religion nouvelle, qui aura toujours, ce me semble, pour tout être spirituel je ne sais quoi de shocking. Je ne croirai jamais que l’âme des Dieux habite dans les plantes, et quand même elle y habiterait, je m’en soucierais médiocrement, et considérerais la mienne comme d’un bien plus haut prix que celle des légumes sanctifiés. J’ai même toujours pensé qu’il y avait dans la Nature, florissante et rajeunie, quelque chose d’impudent et d’affligeant.

Dans l’impossibilité de vous satisfaire completement, suivant les termes stricts du programme, je vous envoie deux morceaux poétiques qui représentent à peu près la somme des rêveries dont je suis assailli aux heures crépusculaires. Dans le fond des bois, enfermé sous ces voûtes semblables à celles des sacristies et des cathédrales, je pense à nos étonnantes villes, et la prodigieuse musique qui roule sur les sommets me semble la traduction des lamentations humaines.30

Der Brief wirft ein Schlaglicht auf sein damaliges Verhältnis zu Natur und Großstadt. Zunächst rechnet er in spöttischem Ton mit der neuen Natur„religion“ ab31, die glaube, dass die Seele der Götter in den Pflanzen wohne, womit er leicht abgewandelt einen Gedichtanfang von Victor de Laprade zitiert32. Nachdem er sodann seine persönlichen Vorbehalte gegenüber der Natur – ihren Mangel an Spiritualität und das Schamlose und für den Menschen Schmerzhafte ihrer ewigen Erneuerung – vorgebracht hat, stellt er die beiden Crépuscules, die nicht zum Programm der Sammlung passten33, als Beispiele für seine eigenen „rêveries“ in der Dämmerung vor, die selbst in der Tiefe der Wälder und unter deren „Gewölben“ um die „étonnantes villes“ und ihre von Menschenhand erbauten erhabenen Räume kreisten; noch die wunderbare Musik der Wipfel erinnere ihn an menschliche Klagen. Der Vergleich „ces voûtes [des bois] semblables à celles des sacristies et des cathédrales“ ist eine Replik auf Chateaubriand und eine Umkehrung von dessen Äußerung über den Ursprung der gotischen Architekturformen aus der Natur, die sogar den Klang ihrer musikalischen Instrumente einbezog:

 

Les forêts des Gaules ont passé à leur tour dans les temples de nos pères […] Ces voûtes cisélées en feuillages, ces jambages qui appuient les murs, et finissent brusquement comme des troncs brisés, la fraîcheur des voûtes, les ténèbres du sanctuaire, les ailes obscures, les passages secrets, les portes abaissées, tout retrace les labyrinthes des bois dans l’église gothique; tout en fait sentir la religieuse horreur, les mystères et la Divinité. […] L’architecte chrétien, non content de bâtir des forêts, a voulu, pour ainsi dire, en imiter les murmures; et, au moyen de l’orgue et du bronze suspendu, il a attaché au temple gothique jusqu’au bruit des vents et des tonnerres, qui roule dans la profondeur des bois.34

Damit stellt Baudelaire seine beiden in der Großstadt angesiedelten Crépuscule-Gedichte als bewusste Alternative zur Natur als poetischer Inspirationsquelle vor35.

Außer dem Brief mit seinem polemischen Gegenentwurf zum Programm der Festschrift hat Baudelaire den beiden „morceaux poétiques“ noch zwei bis dahin unveröffentlichte Prosatexte hinzugefügt, die in dem Brief unerwähnt bleiben. Ihre Titel – Le Crépuscule du soir und La Solitude – deuten auf dieselbe Thematik, wie sie den Versgedichten zugrundeliegt, bzw. auf eine damit verwandte Thematik (La Solitude). Die Stücke enthalten allgemeine Beobachtungen und Gedanken zu den Wirkungen, welche die in ihren Titeln genannten Situationen auf den Menschen haben, also zu den Fragen ‚Wie wirkt die Abenddämmerung auf ihn?‘ und ‚Wie wirkt die Einsamkeit auf ihn?‘. Das erste beginnt beim Dichter, den der Einbruch der Nacht von den Ängsten des Tages befreit und auf ein inneres Fest des Geistes einstimmt, was ihm in Wäldern und unter Sternengefunkel ebenso wie in den Straßen der großen Stadt mit ihren Lichtern widerfährt36:

Le Crépuscule du soir

La tombée de la nuit a toujours été pour moi le signal d’une fête intérieure et comme la délivrance d’une angoisse. Dans les bois comme dans les rues d’une grande ville, l’assombrissement du jour et le pointillement des étoiles ou des lanternes éclairent mon esprit.

Wie dem Ausdruck „fête intérieure“ und der Wendung „éclairent mon esprit“ zu entnehmen ist, kündigt sich beim Dichter in der Abenddämmerung der Enthusiasmus an37, wobei ohne Bedeutung ist, ob er sich gerade in der Natur oder in einer großen Stadt befindet. Anders verhielt es sich mit der „manie crépusculaire“ zweier ehemaliger Freunde. Den einen machte der Einbruch der Dunkelheit gereizt und ausfallend bis hin zur Handgreiflichkeit; er starb am Ende in geistiger Umnachtung. Der andere war tagsüber umgänglich und geduldig und wurde abends unerbittlich gegen sich selbst und seine Umgebung; eine tiefe Unzufriedenheit treibt ihn auch weiterhin um:

Mais j’ai eu deux amis que le crépuscule rendait malades. L’un méconnaissait alors tous les rapports d’amitié et de politesse, et brutalisait sauvagement le premier venu. Je l’ai vu jeter un excellent poulet à la tête d’un maître d’hôtel. La venue du soir gâtait les meilleures choses.

L’autre, à mesure que le jour baissait, devenait plus aigre, plus sombre, plus taquin. Indulgent pendant la journée, il était impitoyable le soir; – et ce n’était pas seulement sur autrui, mais sur lui-même que s’exerçait abondamment sa manie crépusculaire.

Le premier est mort fou, incapable de reconnaître sa maîtresse et son fils; le second porte en lui l’inquiétude d’une insatisfaction perpétuelle. L’ombre qui fait la lumière dans mon esprit fait la nuit dans le leur.

Die Reaktionen des verrückten und des unzufriedenen Freundes widersprechen nur vordergründig der Reaktion des Ichs auf die Abenddämmerung, denn sie sind ebenfalls Steigerungen der jeweiligen Persönlichkeit und als solche Anzeichen und Bestandteil eines seelischen Ausnahmezustandes38. Nur beim Dichter ist dieser Zustand eine „excitation angélique“39, in den beiden anderen Fällen ist er die Nachtseite des jeweiligen Charakters, darunter der Wahnsinn40. Derart unterschiedliche Wirkungen ein und derselben Ursache beschäftigen und erstaunen, wie es im letzten Satz heißt, das dichterische Ich immer von neuem:

– Et, bien qu’il ne soit pas rare de voir la même cause engendrer deux effets contraires, cela m’intrigue et m’étonne toujours.

Der zweite Prosatext, La Solitude, reflektiert über die Wirkung der Einsamkeit, wobei er sich formal als Fortsetzung des ersten gibt, denn er nimmt eine Bemerkung des unzufriedenen Freundes auf:

La Solitude 41

Il me disait aussi, – le second, – que la solitude était mauvaise pour l’homme, et il me citait, je crois, des paroles des Pères de l’Église. Il est vrai que l’esprit de meurtre et de lubricité s’enflamme merveilleusement dans les solitudes; le démon fréquente les lieux arides.

Mais cette séduisante solitude n’est dangereuse que pour ces âmes oisives et divagantes qui ne sont pas gouvernées par une importante pensée active. Elle ne fut pas mauvaise pour Robinson Crusoe; elle le rendit religieux, brave, industrieux; elle le purifia, elle lui enseigna jusqu’où peut aller la force de l’individu.

N’est-ce pas La Bruyère qui a dit: „Ce grand malheur de ne pouvoir être seul? …“ Il en serait donc de la solitude comme du crépuscule; elle est bonne et elle est mauvaise, criminelle et salutaire, incendiaire et calmante, selon qu’on en use, et selon qu’on a usé de la vie.

Auch hier ist der Gegenstand nach dem Kontrastschema abgehandelt. Allerdings werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Menschen in der Einsamkeit nicht unmittelbar einander gegenübergestellt, sondern in Form von Argumenten für und wider sie, die der Dichter in einem Selbstgespräch gegeneinander abwägt. Der Meinung des Freundes, der, gestützt auf die Kirchenväter, behauptet, die Einsamkeit sei eine Versuchung und schlecht für den Menschen, begegnet er bald mit Ironie („Il est vrai que l’esprit de meurtre et de lubricité s’enflamme merveilleusement dans les solitudes;“ „cette séduisante solitude“), bald mit dem ernsthaften Argument, für eine „importante pensée active“ – hier ist vor allem an den Dichter zu denken – sei die Einsamkeit nicht gefährlich. Aber auch Robinson Crusoe, einem Vertreter der „vita activa“, der sich unfreiwillig in der Einsamkeit wiedergefunden hat, habe sie nicht geschadet, sie habe ihn vielmehr fleißig, tüchtig und gottesfürchtig gemacht. Nach einem weiteren Autoritätenzitat, diesmal dem Moralisten La Bruyère entnommen, kommt er zu dem Schluß, die Einsamkeit sei – wie die Dämmerung – ambivalent, und ihre Wirkung hänge vom Einzelnen sowie vom Gebrauch ab, den er in seinem Leben von ihr gemacht habe: „selon qu’on en use, et selon qu’on a usé de la vie“ – also vom jeweiligen Charakter und seinen Lebensumständen.

Darauf folgt noch eine Anmerkung zur „jouissance“ der Einsamkeit. Die schönsten rauschhaften „agapes fraternelles“ und „magnifiques réunions d’hommes électrisés par un plaisir commun“, heißt es, reichten nicht an die „jouissance“ der Einsamkeit in einer sublimen Landschaft heran:

Quant à la jouissance – les plus belles agapes fraternelles, les plus magnifiques réunions d’hommes électrisés par un plaisir commun n’en donneront jamais de comparable à celle qu’éprouve le solitaire, qui, d’un coup d’œil, a embrassé et compris toute la sublimité d’un paysage. Ce coup d’œil lui a conquis une propriété individuelle inaliénable.

Zwar wird hier das Erlebnis der Einsamkeit in einer sublimen Landschaft als ein unverwechselbares persönliches Erlebnis gerühmt, doch ist daraus kein Vorrang des Naturerlebnisses vor dem der Großstadt abzuleiten, denn der „poète actif et fécond“ kann, wie es wenig später in Les Foules heißen wird, auch in einer geschäftigen Menschenmenge „allein“ sein, auch dann, wenn er sich in einer „sainte prostitution de l’âme“ in Andere hineinversetzt42 und daraus „jouissances fiévreuses“ gewinnt. Bei dem Aufenthalt in der Menge kommt es also wie bei der Einsamkeit letztlich darauf an, welchen Gebrauch man davon macht. In dem überraschenden Vergleich beider wird aber bereits Baudelaires Wissen um das ekstatische Aufgehen in den Vielen erkennbar, das beim Erlebnis der Menschenmenge in Betracht gezogen werden muss.

In den Prosastücken geht es also um die poetische Gleichwertigkeit von Natur und Großstadt. Le Crépuscule du soir legt nach der Erkenntnis, dass ein und dieselbe Ursache zwei ganz verschiedene Wirkungen haben kann, die komplementäre Folgerung nahe, dass auch zwei ganz unterschiedliche Ursachen – Natur und Großstadt – ein und dieselbe Wirkung hervorbringen können, in diesem Fall den dichterischen Enthusiasmus, wozu sich das Ich bereits eingangs bekannt hatte: „une fête intérieure […] [d]ans les bois comme dans les rues d’une grande ville“43. La Solitude widerspricht den Gefahren, die dem Einzelnen in der Einsamkeit der Natur drohen, mit dem Argument der „importante pensée active“, die gemäß Les Foules den Dichter und sein Verhalten in der Menschenmenge auszeichnet. Zudem zeigen die Prosagedichte neue thematische Möglichkeiten auf wie die verschiedenen Formen menschlichen Wahns, die in der Großstadt begegnen, oder die Implikationen der Einsamkeit. Ihr Denkansatz ist moralistischer Art und moralistisch ist auch die Darstellungsweise wie der Gesprächsmodus, das Zitieren moralistischer Autoritäten oder der Versuch, sich den Dingen auf dem Wege der Negation anzunähern. Die Gesprächssituation und die ironische, mit Zitaten durchsetzte Argumentation von La Solitude erinnern zudem ebenso wie die ambivalente Wertung des Gegenstands an die Soirées de Saint-Pétersbourg. Auch in den Prosagedichten ist Baudelaire also auf der Suche nach einem Konzept der Großstadtdichtung, wobei er jedoch andere Wege als in der Verslyrik geht und schließlich auch zu einem anderen Ergebnis kommt44.

c) Paysage

Im Salon de 1859 bedauert Baudelaire das Fehlen eines Genres der „paysages des grandes villes“, das die Pracht und die Schönheiten einer großen Ansammlung von Menschen und Gebäuden und den Charme einer altehrwürdigen Stadt zeige:

Ce n’est pas seulement les peintures de marine qui font défaut, un genre pourtant si poétique! […] mais aussi un genre que j’appellerais volontiers le paysage des grandes villes, c’est-à-dire la collection des grandeurs et des beautés qui résultent d’une puissante agglomération d’hommes et de monuments, le charme profond et compliqué d’une capitale âgée et vieillie dans les gloires et les tribulations de la vie.1

Solche gemalten Stadtlandschaften sollten „poetisch“ sein wie die Seestücke und wie die Landschaftsmalerei überhaupt, die diese Forderung aber leider nur selten erfülle, weil sie sich auf die reine Abbildung der Natur beschränke und es an Phantasie fehlen lasse. Als vorbildlich für das fehlende Stadt-Genre empfiehlt Baudelaire die Paris-Stiche von Méryon, die mit ihren majestätischen Steinmassen, den in den Himmel weisenden Kirchtürmen und den rauchenden Obelisken der Industrie, mit der paradoxen Schönheit der Baugerüste und dem dräuenden Himmel darüber, dazu mit der Vielfalt und Tiefe ihrer Perspektiven, deren Eindruck durch die Vorstellung der menschlichen „drames“, die sich in ihnen abspielen, noch gesteigert werde, alles versammelten, was zum „douloureux et glorieux décor de la civilisation“ beitrage2.

Schon zwei Jahre vor dieser Äußerung war Baudelaire selbst mit einer poetischen Stadtlandschaft hervorgetreten3. Am 15. November 1857 hatte er in der Zeitschrift Le Présent ein Gedicht mit dem Titel Paysage parisien4 veröffentlicht, das 1861 in die Fleurs du mal aufgenommen wurde, wo es seither unter dem verkürzten Titel Paysage die neugeschaffene Abteilung der Tableaux parisiens eröffnet:

Paysage

Je veux, pour composer chastement mes églogues,

Coucher auprès du ciel, comme les astrologues,

Et, voisin des clochers, écouter en rêvant

Leurs hymnes solennels emportés par le vent.

Les deux mains au menton, du haut de ma mansarde,

Je verrai l’atelier qui chante et qui bavarde;

 

Les tuyaux, les clochers, ces mâts de la cité,

Et les grands ciels qui font rêver d’éternité.

Il est doux, à travers les brumes, de voir naître

L’étoile dans l’azur, la lampe à la fenêtre,

Les fleuves de charbon monter au firmament

Et la lune verser son pâle enchantement.

Je verrai les printemps, les étés, les automnes;

Et quand viendra l’hiver aux neiges monotones,

Je fermerai partout portières et volets

Pour bâtir dans la nuit mes féeriques palais.

Alors je rêverai des horizons bleuâtres,

des jardins, des jets d’eau pleurant dans les albâtres,

Des baisers, des oiseaux chantant soir et matin,

et tout ce que l’Idylle a de plus enfantin.

L’Émeute, tempêtant vainement à ma vitre,

Ne fera pas lever mon front de mon pupitre;

Car je serai plongé dans cette volupté,

D’évoquer le Printemps avec ma volonté,

De tirer un soleil de mon cœur, et de faire

De mes pensers brûlants une tiède atmosphère.5

Das Ich beginnt mit der provozierenden Ansage, es wolle Eklogen dichten („Je veux […] composer chastement mes églogues …“), die es kurz darauf wiederholt („Alors je rêverai […] / […] tout ce que l’Idylle a de plus enfantin“, V. 17.20). Die antike Idylle oder Ekloge war die Dichtung vom Hirtenleben in einer idealisierten friedlichen Natur, das im Kontrast zum Leben in der Stadt stand und dessen imaginärer paradiesischer Ort die Landschaft Arkadien war, also der denkbar größte Widerspruch zu einer modernen Großstadt. Nach seinem vorsichtigen Versuch in Le Crépuscule du matin, sich für seine Stadtdichtung die nationale bukolisch geprägte Dichtung zunutze zu machen, wagt Baudelaire hier den mutigen Schritt, sie direkt an die abendländische Tradition anzuschließen. Für diesen Zweck postiert sich das Ich hoch über der Stadt am Fenster seiner Mansarde6, nahe dem Himmel und dem vom Wind herbeigetragenen Klang der Glocken, von wo es einen weiten Blick über die Stadt mit ihren Türmen, Schornsteinen und der Vielfalt ihres geschäftigen Treibens hat. Es kann den aufsteigenden Abendstern sehen, Lampen, die angezündet werden, rauchende Kamine und den Mond, der alles in sein bleiches Licht taucht, kurz es sieht ein friedlich-freundliches Bild der Stadt, das es gern auf sich wirken lässt („Il est doux …“, V. 9).

Gerhard Hess hat in diesem Bild „nicht die reale umgebende Welt der Großstadt“, sondern eine „Landschaft der Idylle“ erkannt7, was richtig und falsch zugleich ist. Richtig ist es, weil Paysage (parisien) in der Tat die Stadt nicht zeigt – und nach Baudelaires Absicht auch nicht zeigen soll –, wie sie ist, sondern so, wie sie von einem Betrachter empfunden wird:

Si tel assemblage d’arbres, de montagnes, d’eaux et de maisons, que nous appelons un paysage, est beau, ce n’est pas par lui-même, mais par moi, par ma grâce propre, par l’idée ou le sentiment que j’y attache.

So hieß es zu Beginn des Kapitels „Le Paysage“ im Salon de 1859, das die „école moderne des paysagistes“ mit ihrer genauen Abbildung der Natur verurteilte8. Die Vorstellung, die das Ich von Paysage mit dem Anblick der Dächer von Paris verbindet bzw. verbinden will, wie es der erste Vers ankündigt, ist aber eine „idyllische“, und so stellt es die alltäglichen Vorkommnisse in und um die Stadt poetisch überhöht dar: Das Glockengeläut wird zu „Hymnen“, das Blau des Himmels zum „Azur“, die aufsteigenden schwarzen Rauchfahnen sind „fleuves de charbon“ und es fehlen weder der Abendstern noch der bleiche Mond und der wohnliche Schein einer Lampe am Fenster. Nicht alle diese Dinge sind im engeren Sinne „idyllisch“, manche sind es nur in einem übertragenen, weiteren Sinne. Die wahrgenommenen menschlichen Aktivitäten der Stadt – „l’atelier qui chante et qui bavarde“ – sind jedoch eindeutig als „bukolisch“ dargestellt, denn Singen und Schwatzen bzw. Streiten sind die vorrangigen Tätigkeiten der Hirten in Vergils Eklogen. Das Ergebnis der Verwandlung, der das Ich die reale Stadtansicht unterzieht, ist die poetische Darstellung der „solennité naturelle d’une ville immense“, die Baudelaire an den Stichen Méryons gerühmt hat9. Hess lässt bei seinem Urteil außer Acht, dass es die künstlerische Darstellung einer (Stadt-)Landschaft ohne eine solche oder ähnliche Verwandlung gar nicht geben kann10. Auch die Darstellung der vermeintlich wirklichen „erregte[n], grauenvolle[n] und verhasste[n] Umwelt“11 wäre eine Verwandlung, nur im entgegengesetzten Sinn. Statt einer solchen macht das Ich von Paysage der Großstadt und ihrem Anblick jedoch eine Art poetischer Liebeserklärung, die zudem verstärkt wird durch den Vergleich der Schornsteine und Kirchtürme mit Schiffsmasten (V. 7). Dieser Vergleich weist zwar in eine andere als die bukolische Richtung, hat aber wieder mit Baudelaires kunstkritischen Beobachtungen zu tun, da er die Stadtlandschaft in die Nähe einer „marine“, des zweiten im Salon de 1859 vermissten „poetischen“ Genres, rückt. Zudem lag der Schiffsvergleich in diesem Fall nahe, weil das Stadtwappen von Paris bekanntlich ein Schiff zeigt12.

Dass das Ich von Paysage sich in einem enthusiastischen Zustand befindet, zeigt sich zudem daran, dass die „profondeur des perspectives“ ihm die „profondeur du temps“ eröffnet, denn es träumt von der Ewigkeit (V. 8) und sieht gleichermaßen die hereinbrechende Nacht (V. 9ff.) und den Wechsel der Jahreszeiten vor sich (V. 13), und am Ende stellt es sich vor, wie es sich im Winter, wenn die Stadt mit ihren „neiges monotones“ dem Auge nichts mehr zu bieten hat, im warmen Zimmer einschließen wird, um verstärkt die Kraft seiner Phantasie einzusetzen und ein künstliches Paradies zu erschaffen. Die Welt, die es dann phantasieren wird, wird eine wahrhaft idyllische sein, mit feenhaften Palästen, blauen Horizonten, Gärten und Wasserspielen, singenden Vögeln, Küssen und „tout ce que l’Idylle a de plus enfantin“13. Ein ähnliches Paradies idyllischer „amours enfantines“ hatte Baudelaire schon in Moesta et errabunda entworfen:

Comme vous êtes loin, paradis parfumé,

Où sous un clair azur tout n’est qu’amour et joie,

Où tout ce que l’on aime est digne d’être aimé,

Où dans la volupté pure le cœur se noie!

Comme vous êtes loin, paradis parfumé!

Mais le vert paradis des amours enfantines,

Les courses, les chansons, les baisers, les bouquets,

Les violons vibrant derrière les collines,

Avec les brocs de vin, le soir, dans les bosquets,

– Mais le vert paradis des amours enfantines,

L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs,

Est-il déjà plus loin que l’Inde et que la Chine?14

In Paysage jedoch bringt die Phantasie durch die „idyllische“ Verwandlung eine künstliche Gegenwelt zur Monotonie der winterlichen Stadt hervor, und damit wird klar, dass „mes églogues“ im ersten Vers sich auf die poetisch notwendige Verwandlung der realen Stadt bezieht und nicht im Sinne eines kontrastiven, gegen deren „laideurs“ gerichteten Genres verstanden werden soll. Die Wendung „mes églogues“ ist vielmehr eine poetologische Metapher für den Willen des Dichters, mit diesem Gedicht – und mit denen, die ihm folgen werden – der Phantasie im Rahmen der Großstadt einen poetischen Freiraum zu schaffen.

Entstehungszeit und Deutung des Gedichts sind umstritten. Pichois hat die Auffassung vertreten, die hier zum Ausdruck kommende Einstellung sei die eines „homme ‚dépolitiqué‘“ und spiegele die Enttäuschung Baudelaires nach dem Staatsstreich von 1851 wider15. Leakey nimmt die Wendung „mes églogues“ wörtlich und vermutet dahinter den Plan zu einer umfangreichen „series of gently idyllic ‚eclogues‘“16. Der eine setzt die Entstehung des Gedichts Anfang der 50er Jahre an, der andere rückt sie in die frühen oder späten 40er. Einen weiteren Anhaltspunkt für die Datierung hat man in den abweichenden Schlussversen der ersten Fassung gesucht, wo das Ich von seiner Bereitschaft spricht, Verse für einen jugendlichen Toten dichten zu wollen: