Schwestern

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Schwestern
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Alles frei erfunden!

Imprint

Schwestern. Kriminalroman

Elisa Scheer

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2021 R. John 85540 Haar

Cover: privat

ISBN 978-3-754114-38-4

I

Immerhin war sie jetzt mit diesem Finanzierungplan fertig! Katrin lehnte sich zufrieden zurück und sah auf die Uhr: Was, schon wieder zehn vor sieben? Sie war schon wieder seit zehn Stunden in der Firma? Dann war es jetzt aber wirklich mal Zeit, nach Hause zu fahren!

Schließlich knurrte ihr der Magen – kein Wunder nach elf Stunden seit dem Frühstück. Was hatte sie denn noch im Haus? Salatgurke, Tomaten, Eier… Schinken! Oder war der schon zu alt? Egal, für ein nettes Tellerchen reichte es bestimmt, denn auf den Supermarkt in der Zollinger Schlossstraße hatte sie überhaupt keine Lust. Und der Discounter am Zollinger Marktplatz? Ganz bestimmt nicht!

Na gut, sie konnte einen schönen Spaziergang machen – die Zollinger Häuser waren ja nett anzuschauen – und vielleicht doch in der Schlossstraße vorbeischauen? Tiefkühlgemüse? Gutes Brot vom Brotstand? Frischen Schinken? Vorräte für den Rest der Woche? Guter Plan.

Außer Daniel, dem Chef von FinanceServices, war niemand mehr da und als er sie in ihren Mantel schlüpfen sah, schüttelte er den Kopf. „Katrin, wir müssen echt mal reden! Wozu machst du Überstunden? Willst du nicht heim?“

„Doch, natürlich. Ich hab nur den Finanzierungsplan für dieses Start-up fertig gemacht.“

„Ach, Katrin! Hab ich nicht gesagt, denn brauche ich erst am Freitag? Heute ist gerade mal Dienstag!“

„Was weg ist, ist weg. Ich geb ihn dir morgen früh, dann kannst du ja mal drüber schauen. Bis morgen dann!“

„Bis morgen.“ Daniel Schubert sah seiner besten Kraft seufzend nach: Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit? Dabei hatte sie doch einen Freund? Warum drückte sie sich so lange hier herum? Sie musste eine wirklich scheußliche Wohnung haben…

 

Katrins Wohnung war mitnichten scheußlich, aber außer ihr, Jochen und ihren Freundinnen Inken und Rosi hatte noch niemand diese Wohnung von innen gesehen.

Die blöden Kommentare ihrer Mutter und ihrer Schwestern brauchte sie nämlich wirklich nicht. Sie hatte ja keine Probleme – sie nicht!

Tanja und Daniela sahen das natürlich anders, aber Katrin fand, die sollten sich mal lieber an die eigene Nase fassen und ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Und Mutti? Naja… Katrin wollte sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages auch so werden konnte.

Sie verbot sich diese ärgerlichen Gedanken, bevor sich ihre Stimmung noch auf ihr Fahrverhalten auswirkte, und kurvte nach Zolling. Die prunkvolle Villa, die man in den Neunzigern in neun eher kleine Wohnungen aufgeteilt hatte, gefiel ihr immer wieder. Sie fuhr in die Tiefgarage, die man hinter dem Haus (im ehemaligen Küchengarten) angelegt hatte, und sprang dann hinauf in den zweiten Stock. Ein großes Zimmer mit einer übersichtlichen Küchenzeile in ganz hellem Blau, ein kleines Zimmer mit Bett und einer Nische für einen ganz glatten Wandschrank – ebenfalls in zartem Eisblau, ein Duschbad in puristischem Weiß (und mit blauen Handtüchern, was sonst) und ein kleiner, quadratischer Flur mit dunkelblauem Fußboden und nichts außer einem Garderobenständer – Mantel, Schirm, Regenhut.

Übersichtlich.

War das nicht das Wichtigste, Übersicht?

Übersicht über ihre Wohnung, über ihre Garderobe, über ihre Finanzen, über ihre Aufgaben, über ihre Ziele im Leben… wer die Übersicht verlor, der geriet wohl schnell in Panik.

Hatten Daniela und Tanja – und Mutti – wohl den Überblick? Ihr kam es nicht so vor.

Ach, egal, was hatte es denn für einen Sinn, sich an diesen drei dauernd abzuarbeiten? Sie hatte ihren Traumberuf, sie hatte eine wirklich nette Wohnung, die genauso aussah, wie sie sie haben wollte, sie hatte mit Jochen einen netten Freund, der aber nicht dauernd bei ihr herumhing – und sie sah doch eigentlich auch ganz ordentlich aus? Schmale Figur, blaue Augen dunkle Haare, angenehmes Gesicht, gute Garderobe...

Ach ja, und ihre Finanzen waren auch sehr in Ordnung.

Der nebelhafte Vati würde sich vermutlich ärgern, wenn er das wüsste – aber sie hatte ihn seit bald dreißig Jahren nicht mehr gesehen und ihn auch nicht weiter vermisst.

Oder?

Nein, wirklich nicht! Mutti wollte zwar nicht genau sagen, warum sie sich damals getrennt hatten, erzählte aber ab und zu in beleidigtem Tonfall Details aus der Vergangenheit. Leider keine wirklich erhellenden Details! Und wenn man sie fragte, warum sie sich immer noch mit dem Kerl befasste, schnappte sie nur noch mehr ein: „Immerhin ist er doch euer Vater!“

Katrin hatte einmal geantwortet: „Sagen wir doch lieber: Erzeuger.“ Da hatte Mutti doch tatsächlich gekreischt…

Verdammt, hier war es so schön – sogar geputzt war schon! Und was tat sie? Wühlte in einer unangenehmen Vergangenheit und ärgerte sich über Mutti, Daniela und Tanja, anstatt den Feierabend zu genießen?

Sie machte sich einen schönen Salat aus den Resten im Kühlschrank (mit dem durchaus noch essbaren Schinken) und dazu ein Fertigsüppchen (garantiert voller mieser Zutaten, aber nur 200 Kalorien).

Der Media Player lieferte dazu ein bisschen Latino-Pop und das Essen sättigte zwar nur mäßig, hatte aber recht gut geschmeckt. Und jetzt?

 

Joschi und Valli hatten nach der Schule am Tisch gesessen und in ihren Nudeln mit Pfannengemüse herumgestochert.

„Das schmeckt langweilig“, maulte Joschi. „Haben wir keinen Pfeffer oder so was?“

„Und Nudeln sind ganz ungesund!“, assistierte Valli. „Ich will doch nicht aussehen wie Tante Tanja!“

„Sei nicht so respektlos“, mahnte ihre Mutter ohne große Wirkung, denn Joschi murmelte nicht gerade leise Die fette Schnecke…

Warum hatte sie Kinder bekommen? Jetzt hatte sie zwei unverschämte Teenager am Bein und einen unangenehmen Ehemann obendrein… und wie es hier schon wieder aussah!

Sie schlurfte lustlos durch das Wohnzimmer und sammelte mehrere zerfledderte Zeitungen ein, um sie ins Altpapier zu werfen.

Und Georg hatte auch schon wieder seine leergetrunkenen Gläser ins Regal gestellt. Jetzt hatte das Regalbrett – das neben seinem Fernsehsessel – natürlich wieder Ringe und das Furnier wellte sich.

Und wenn sie ihn bat, die Gläser doch in die Küche stellen, wurde er wütend – das sei ja wohl nicht seine Aufgabe, schließlich schaffe er das Geld ran, oder?

Als ob sie nicht arbeitete! Und er behielt seine Kröten doch sowieso für sich! Aber so zu antworten, war riskant…

Sie trug die Gläser in die Küche und sortierte sie in die Spülmaschine. Lieber Gott, war sie sauer! Sie angelte die Flasche hinter dem Putzeimer unter der Spüle hervor und schenkte sich ein Glas ein. Nur eins, das hatte sie festgelegt: nur eins auf einmal!

„Gibt´s keinen Nachtisch?“, rief Joschi vom Esstisch.

„Nein!“, blaffte sie zurück.

„Mama ist wieder mal stinkig“, stellte Valli fest. „Ist doch nichts Neues. Ich geh in mein Zimmer. Muss Mathe machen und Spanisch. Hoffentlich gibt´s abends was Gescheites…“

Daniela hatte schon die Hand nach der Flasche ausgestreckt, zuckte aber im letzten Moment wieder zurück. Warum waren ihre Kinder in letzter Zeit so überkritisch und so unfreundlich geworden? Steckte vielleicht die blöde Katrin mit ihrer Schulmeisterei dahinter? Oder hatte Georg sie aufgehetzt? Dem passte ja auch dieses und jenes nicht – und was ihr alles an ihm nicht passte, das wollte er natürlich nicht hören! Ach, wahrscheinlich waren nach fast zwanzig Jahren die meisten Ehen so – und Georg war ja gar nicht so viel zu Hause. In drei, vier Jahren hatten Valli und Joschi hoffentlich ihr Abitur - und dann sollten sie schön woanders studieren, das konnte dann Georg finanzieren! Sie jedenfalls wollte dann alleine hier sitzen und es gemütlich haben! Darauf noch ein – nein! Es war jetzt zwei Uhr, das nächste Gläschen würde es um vier geben, das wäre dann das dritte heute… Drei, das war doch noch nicht bedenklich? Man musste ja schließlich funktionieren – Haushalt, Kinder, Job…

Na, vielleicht heute Abend noch eins, um den Feierabend zu würdigen? Aber dann lieber ein schönes Glas Wein statt dieses Wodkas… und Georg konnte ganz ruhig sein – was der an Bier konsumierte!

Immerhin waren die Kinder jetzt verschwunden; sie räumte den Tisch ab und startete dann die Spülmaschine, bevor sie damit begann, Wäsche zu sortieren und die Maschine vorzubereiten.

Georgs Hemden musste sie auch noch bügeln, er war da sehr pingelig… ach ja, und im Flur standen mehrere Mülltüten, die sie noch auf die verschiedenen Tonnen verteilen sollte.

Was sollte es denn heute Abend geben? Wieso konnte Georg an einem gewöhnlichen Dienstag überhaupt da sein? Sonst kam er doch erst am Freitagabend und verschwand ab Sonntagmittag wieder. Fisch aß Georg schon mal nicht, da war noch was im Tiefkühler…Schnitzel? Schnitzel hatte er gern. Und Ofenpommes, die machten weniger Dreck. Wie man Frittierfett korrekt entsorgte, wusste sie nämlich immer noch nicht, nur, dass man es keinesfalls in den Ausguss oder ins Klo schütten durfte.

Valli würde zetern, das seien wieder mal die reinsten Kalorienbomben… sollte sie noch einen Salat dazu machen? Gurke und Chicorée? Mit Joghurtdressing und Kräutern? Den aß Valli dann wahrscheinlich ganz alleine auf, nachdem sie allen anderen die Schnitzel vermiest hatte…

 

 

Mittagspause – wohin heute? Tanja hatte über diese Frage schon sorgfältig nachgedacht. Die anderen gingen ja meist in diese Salatbar, aber das war doch wirklich unbefriedigender Fraß… Tanja überlegte – gab es an der Ecke zum Heisenbergweg nicht diesen neuen Food Truck? Hatte es gestern dort nicht sehr vielversprechend nach Frittiertem geduftet? Frühlingsrollen oder Wan-Tans, mit dieser leckeren Sweet-Chili-Sauce? Der Gedanke heiterte sie sichtlich auf und sie stemmte sich von ihrem Stuhl hoch, schob die restlichen Paketpappen beiseite und machte sich auf den Weg.

Am besten aß sie ihr Mittagessen hier unten in der Packerei, da sah sie keiner und niemand regte sich über ihr Essen auf. Sätze wie Bist du nicht eigentlich schon dick genug? oder Fühlst du dich wirklich wohl so? brauchte sie heute wirklich nicht schon wieder.

Der Truck war sehr gut, stellte sie fest. Frühlingsrollen (die kleinen und die großen!), Wan-Tans, Samosas… am besten nahm sie nachher gleich noch was fürs Abendessen mit. Ach, und Burritos gab es auch? Das war doch nicht asiatisch? Egal, Hauptsache lecker!

Sie bestellte zwei große Frühlingsrollen und zweimal Wan-Tans und beschloss, doch nicht in der Packerei zu essen – der herrliche Duft würde sie bloß verraten und die Verpackung konnte Fettflecken hinterlassen: Was hast du hier schon wieder für einen Mist gefuttert? Iss doch mal was Gesundes!

Das ging Alice, Max und Tobi wirklich einen Scheiß an! Sie nahm noch ein Cola mit, das richtige natürlich, und steuerte den Heisenberggarten an, ein etwas dürftig bewachsenes Areal mit einer Magerwiese und drei Bänken aus Drahtgeflecht. Und einem großen Papierkorb!

Eine Bank war noch frei; Tanja setzte ihre Sonnenbrille auf – natürlich wollte sie hier nur das gute Wetter genießen! – und angelte sich unauffällig die erste Frühlingsrolle aus dem Papiergewurstel neben ihrer Handtasche. Sehr lecker, wirklich – und mit Rindfleisch gefüllt, das hatte sie am liebsten. Auch wenn Katrin ihr schon mehrfach vorgerechnet hatte, wieviel Wasser und wieviel Regenwald Rinderzucht verschlang. Sollte sie Bambussprossen futtern? War sie vielleicht ein Panda?

Gut, dass sie noch eine Rolle hatte, das verlängerte den Genuss…

Sie verspeiste beide Frühlingsrollen und alle zwölf Wan-Tans, die sie sehr ausführlich in die Sauce tunkte. Herrlich knusprig… und dazwischen immer mal einen Schluck Cola!

Satt und zufrieden warf sie die fettige Verpackung in den Papierkorb, ohne dass jemand sich über fehlerhafte Mülltrennung entrüstete, und machte sich auf den Rückweg.

Das war ja doch ganz schön viel gewesen, musste sie zugeben. Bestimmt hatte sie davon zugenommen!

Ach, sie hätte das nicht essen sollen! Wenigstens nicht so viel! Beim nächsten Mal würde sie auch Salat essen. Nein, lieber nur eine Frühlingsrolle und nur eine Portion Wan-Tan. Das hätte doch auch gereicht?

Sie versuchte, sich an das Glücksgefühl zu erinnern, das die Frühlingsrolle und der Gedanke, dass sie noch so ein tolles Ding in der Tüte hatte, ausgelöst hatten, aber es wollte ihr nicht gelingen. Warum machte Essen nur glücklich, solange man aß – und danach ärgerte man sich bloß? Sie rülpste diskret.

Waren andere Leute eigentlich auch glücklich, solange sie aßen? Oder aßen sie nur, weil man sich eben irgendwie ernähren musste, und ganz andere Dinge machten sie glücklich? Aber was?

Vielleicht waren manche ja erfolgreich im Beruf und freuten sich darüber. Oder hatten einen tollen Mann. Oder Frau, eben. Oder kamen abends gerne nach Hause, weil sie eine richtig schöne Wohnung hatten… Ob die dann weniger aßen?

Sie jedenfalls hatte einen eher langweiligen Job, ein Einzimmerappartement an der lauten Kirchfeldener Landstraße und keinen Freund, dabei war sie auch schon über dreißig! Daniela hatte doch wenigstens Mann und Kinder – und die besserwisserische Katrin einen guten Job.

Unfair war das.

Mit einem Ächzen setzte sie sich zurück an ihren Platz und griff nach dem nächsten gefalteten Paket, entfaltete es und steckte die Seiten zusammen, bevor sie nach der blauen Plastikwanne angelte, die Medikamente samt Rechnung mit etwas Styropor im Päckchen verstaute, es zuklebte und den Adressaufkleber aus der Wanne nahm, um ihn aufzukleben.

Max streckte schon auffordernd die Hand nach dem Päckchen aus.

Tanja angelte nach der nächsten Wanne, griff einen Paketsatz in der richtigen Größe und machte weiter.

Fünf Pakete später fragte Alice, die links von ihr die Rechnungen und Adressaufkleber ausdruckte und in einem Affentempo die Wannen passend befüllte, ob sie nicht bitte etwas zügiger arbeiten könne. „Ich habe hier vor lauter Wannen bald keinen Platz mehr!“

„Und ich schlaf gleich ein!“, assistierte Max.

„Ich mach ja schon“, murmelte Tanja beleidigt.

„Aber bitte nicht in Zeitlupe!“

Paket auffalten, Styropor, Medikamente, Rechnung, Klebeband, Adressaufkleber… Tanja zwang sich, eine Zeitlang zu arbeiten, ohne zu denken und ohne sich zu bedauern.

„Na bitte! Geht doch ein bisschen schneller“, lobte Alice in ekelhaft herablassendem Ton und schwenkte aufreizend ihre schmalen Hüften in den schwarzen Jeggings, also wollte sie sagen du fette Versagerin. Natürlich sagte sie es nicht, also konnte man sich nicht ärgern - Tanja ärgerte sich aber doch. Stumm arbeitete sie weiter, mindestens zwei Stunden lang, ohne auch nur einen Ton zu sagen, während Max und Alice miteinander flachsten und Tobi mit den Paketen einen Transportwagen belud und diesen schließlich mit Folie umwickelte, bevor er ihn zur Tür schob, damit der Logistiker ihn abholen konnte.

Was, erst Viertel vor drei? Nach so vielen Stunden Arbeit?

Nächster Stapel Paketsätze…

Nach gefühlt tagelangem Packen war es endlich fünf und Tanja knurrte der Magen, als sie erleichtert die restlichen Pappen beiseitelegte und mit Alice zusammen die übrigen Wannen in das Regal hinter ihrem Tisch stellte.

„Dann mal ´nen schönen Abend“, wünschte Alice ohne große Überzeugungskraft und Tanja murmelte die passende Antwort. Alice und Max traten schon auf den Hof, als Tanja noch ihre Tasche von der Stuhllehne wickelte und wieder an den Foodtruck zu denken begann. Oder Pizza?

Nein, Chinafutter ganz offen von einem Teller essen zu dürfen, das stellte sie sich jetzt recht schön vor. Draußen stand nur noch der Wachmann, der ihr zunickte und die Tür zur Packerei dann sorgfältig abschloss. Ein Medikamentenversand lockte ja immer irgendwelche Junkies an!

Alice, Max und Tobi waren schon auf dem Weg zum Bus, sie sah die drei noch von hinten, vom Rauch aus ihren blöden E-Zigaretten umwabert – dann konnte sie ja unbeobachtet zum Food Truck gehen und nachher zum Bus in Richtung Osten…

Mit wieder zwei Frühlingsrollen, zwölf Wan-Tans und vier Samosas kam sie nach Hause. Schon im Lift steckte sie die Nase in die Plastiktüte und schnupperte genießerisch.

Das hatte sie sich jetzt verdient! Das Essen kam auf einen großen Teller, die Chilisauce dazu und dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm. Irgendwas anschauen, egal was, Hauptsache Geräusch.

Ja, und fremde Schicksale. Im Vergleich zu denen war sie doch richtig gut? Nicht arbeitslos, nicht alkoholkrank, nicht total verschuldet.

Sie aß und schaute und fühlte sich wieder zufrieden, Alice und Max waren vergessen und ihre blöden Schwestern, vor allem das Dauergemecker Katrins, ebenfalls.

Aber sobald auch die Samosas verputzt waren und Tanja noch eine Tafel Marzipanschokolade als Dessert gefunden und gegessen hatte, ließ das Glücksgefühl wieder nach; sie fühlte sich vollgefressen – rülps! – und begann sich über sich selbst zu ärgern. Außerdem war diese Wohnung eine Katastrophe.

Wieso hatte Dani ein Haus und Katrin so ein Riesending im feinen Zolling – und sie musste in diesem Loch hausen? Sie hatte eben immer Pech.

Katrin würde jetzt sagen Also, ich verdiene auch deutlich mehr als du. Ich habe aber auch studiert und mir durch Praktika die nötigen Beziehungen verschafft – und du?

Blöde Kuh.

Ein richtiges Schlafzimmer wäre schön. Und eine richtige Küche. Gut, da würde Dani wahrscheinlich sagen: Wozu denn, ein Schrank voll Chipstüten reicht für dich doch?

Dani tat ja immer so, als würde sie großartig kochen, aber Tanja hatte nicht nur einmal gehört, wie Valli und Joschi von Saufraß gesprochen hatten. Und Katrin? Die aß bestimmt da, wo sie arbeitete, Salate ohne Dressing in irgendeinem feinen Lokal, nicht in einer billigen Salatbar!

Sie warf die Verpackungen weg – der Müllsack musste auch mal in die Tonne, der stank schon ziemlich. Später.

Sie wollte ja nicht die Frau Langhammer treffen, die dann wieder schaute, ob sie auch keine Verpackungen in den Restmüll warf. Albernes Theater, das Zeug wurde doch sowieso irgendwo verbrannt?

Katrin würde jetzt sagen, das sei Blödsinn und sie selbst eine ökologische Drecksau. Was wusste Katrin schon, die hatte ja wohl die Wahrheit auch nicht gepachtet!

Ihr tat der Rücken weh. Und das linke Knie. Im Bad sah sie sich im Spiegel und erschrak wie immer: Ganz schön fett! Und immer so müde – warum nur? Sicher war die Arbeit anstrengend, aber so müde?

Sollte sie den Spiegel wenigstens mal putzen?

Später.

Im Flur hingen vier Jacken an den Garderobenhaken, die blaue, die graue, die schwarze und die rosa Jacke. Passten die ihr eigentlich alle? Die graue bestimmt, die hatte sie ja vorhin erst getragen.

Die blaue ging, als sie hineinschlüpfte. Gut, zugeknöpft war sie schon eng, aber man konnte sie noch zuknöpfen. Schwarz? Naja. Der Reißverschluss ging zu, aber atmen konnte man dann praktisch nicht mehr – und das rosa Ding war bestimmt zwei Nummern zu klein.

Sie rollte sie zusammen und warf sie im Kleiderschrank auf den Boden, zu all dem anderen Kram, der ihr nicht mehr passte.

Im Bad stand auch die Waage. Hm. Wollte sie das wirklich so genau wissen? Wie bei The Biggest Loser sah sie noch nicht aus, aber viel fehlte da auch nicht mehr.

Wie konnte das passieren? Sie aß doch gar nicht so viel? Aber wenn sie sich das so ansah – das waren doch bestimmt, naja, über achtzig Kilo?

Dani und Katrin sahen nicht so aus… Dani war das egal, Mutti auch, aber Katrin schaute sie, wenn sie sich schon mal sahen, immer leicht verächtlich an. Wahrscheinlich dachte sie dann Fettsack. Und Danis unerzogene Bälger dachten bestimmt auch nichts anderes…

Verdammt, das war doch wohl ihre Sache? Wenn sie sich damit wohlfühlte, hatten Katrin, Valerie und Joshua überhaupt nichts zu kommentieren!

Aber eigentlich fühlte sie sich damit eben gar nicht so wohl. Außer, wenn sie vor einem Teller mit leckeren Sachen saß.

Sie stieg nun doch auf die Waage: 107,9.

Betäubt wankte sie einen Schritt zurück und stolperte gegen die Badezimmertür: Hundertacht? Die Waage musste falsch gehen, anders konnte das nicht angehen!

Achtzig, das wäre noch „vollschlank“ gewesen, wie Mutti das nannte. Schlimm genug – aber hundertacht, das war fett.

Wirklich ungerecht! Ein langweiliger Job, eine winzige, hässliche Wohnung an der scheußlichsten Ecke Leisenbergs, nicht mal ein Auto – und jetzt noch diese Lüge über ihr Gewicht!

Sie musste sich trösten.

Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, wenigstens mal staubzusaugen und vielleicht eine Ladung Wäsche zu waschen, bevor sie überhaupt nichts mehr anzuziehen hatte, aber jetzt? So ein Scheißtag! Im linken Oberschrank musste doch noch – genau, die Familientüte Käseflips! Die war jetzt genau das Richtige! Und zur Feier des Tages – sie lachte bitter auf – würde sie die nicht aus der Tüte, sondern aus der großen Glasschüssel essen. Richtig genießen! Käseflips waren hier in der Gegend schwer zu kriegen, der Supermarkt hatte sie nur manchmal, genauso wie diese tollen Orangenmarzipanpralinen mit weißer Schokolade. Aber von denen hatte sie sich bei der letzten Gelegenheit drei große Packungen gesichert – und zwei hatte sie jetzt noch. Etwas Süßes, nach den Käseflips.

Sehr gemütlich! Sie lag auf dem Bettsofa, griff sich immer zwei Flips auf einmal und verfolgte eine Seifenoper. Als die Nachrichten kamen, zappte sie weiter und fand diese Telenovela, die in einem bayerischen Hotel spielte. Das musste gefühlt Folge fünftausend sein – wenn schon. Um Viertel nach acht sollte ein alter Agatha Christie kommen, dazu passten dann die Marzipanküsschen perfekt…

 

Nach dem Spielfilm war ihr ein bisschen übel und sie ärgerte sich, dass sie so viel gegessen hatte. Und die Wohnung war immer noch schmutzig und die Wäsche nicht gewaschen. Müde war sie jetzt auch, am besten ging sie mal früh ins Bett – naja, früh? Jetzt war es Viertel nach zehn! Und morgen um acht musste sie schon wieder in der Packerei sitzen!

Was für ein Scheißleben… Dani und Katrin hatten es natürlich viel besser. Und sie musste diesen blöden Job machen und außerdem noch etwas finden, was sauber war und ihr obendrein noch passte.

Die schwarze Stretchhose vielleicht? Schwarz machte schlank, und die Biesen auf den Beinen sollten doch streckend wirken? Sie zwängte sich hinein und begutachtete sich vor dem Spiegel: Furchtbar! Wieso kaschierte der dunkle Stoff denn diese Speckrollen nicht? Wäre vielleicht eine weite, glatte Hose besser? Die dunkelblau-rosa gemusterte mit dem Gummizug in der Taille?

Ja, wenn sie sie bis zur Taille hätte hochziehen können! Die Beine waren mitnichten weit, sondern zu eng. Und der Stoff war 100 % Viskose, die riss schnell, wenn sie zu stark beansprucht wurde. Mit zerrissener Hose konnte sie nicht in der Packerei sitzen!

Die dunkelbraune aus Cord? Mist, die hatte sie gerade in die Wäsche sortiert. Aber jetzt noch in den Waschkeller? Keinesfalls, sie wollte jetzt ins Bett.

Ach, sie würde die Hose von heute nehmen und diese Riesenbluse mit den Blümchen. Problem gelöst. Und übel war ihr auch schon fast gar nicht mehr.

Was würde sie sich morgen in der Mittagspause beim Food-Truck holen? Samosas vielleicht? Die hatten ja auch frittierte Krabben… und Pommes hatte sie diese Woche noch gar nicht gehabt!

Okay, es war erst Dienstag, aber trotzdem.

Sie wusste gar nicht, woher der Speck kam – sie aß doch wie alle anderen Leute drei Mahlzeiten am Tag! Ihre blöden Schwestern futterten bestimmt das gleiche und waren nicht dick… naja, Dani schon ein bisschen, aber nicht so arg.

Und mehr Geld hatten die auch. Größere Wohnungen. Dani sogar ein Haus. Dani hatte auch einen Mann und Kinder – und sie selbst? Nichts davon. Was, wenn es mal ein Abitreffen gab? Was sollte sie da denn erzählen? Ich bin Single, wiege doppelt so viel, wie ich sollte, und bin Packerin bei einem Medikamentenversand? Tolle Bilanz…

Warum war ihr Leben so schiefgelaufen? Warum hatte sie immer Pech? So einen schlechten Stoffwechsel, so dürftige Punkte im Abitur – wie hätte sie denn so studieren sollen? Und mit so einem armseligen Job verdiente man eben auch armselig…

Sie schniefte auf und ließ sich aufs Sofa fallen, wo sie umgehend einschlief, ohne das Bett aufzuklappen oder ihr Bettzeug aus dem unteren Fach hervorzuangeln. Egal.